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Gekaufte Patienten?

Habe mir gerade eine Reportage von Klaus Balzer in der ARD angesehen, zur der ich unbedingt meinen Senf geben möchte. Das Ganze hatte den Titel: Der gekaufte Patient? – Wie Pharmakonzerne Verbände benutzen und lief unter dem Etikett „Die Story“. Nun ja, Geschichten erzählen ist das Eine, Journalismus – investigativer zumal – ist eine andere Sache. Warum geht´s?

Die Firma Roche - hier der Hauptsitz in Basel - unterstützt wie viele andere Pharmaunternehmen Patientenorganisationen. (Foto Wladyslaw Sojka www.soyka.photo, Lizenz Freie Kunst 1.3)

Die Firma Roche – hier der Hauptsitz in Basel – unterstützt wie viele andere Pharmaunternehmen Patientenorganisationen. (Foto Wladyslaw Sojka, Lizenz Freie Kunst 1.3)

In Selbsthilfegruppen sollen Patienten Patienten beraten, sagt der Sprecher- „und zwar unabhängig“. Dies mache die Selbsthilfegruppen so attraktiv für die Pharmaindustrie. Vorgestellt wird zunächst die „Frauenselbsthilfe nach Krebs“, die etwa 40000 Patienten erreicht. Deren (damalige) Vorsitzende Hilde Schulze mache Lobbyarbeit für bessere Krebsmedikamente. Dafür bekomme sie von den Krankenkassen und aus anderen öffentlichen Töpfen wenig Geld. Das reiche aber nicht, um zum Beispiel Kongresse mit unabhängigen Experten zu finanzieren.

Einer Patientin wurde aus der Klinik heraus die Teilnahme an einer klinischen Studie mit dem neuen, aber auch sehr teuren Wirkstoff Letrozol (Handelsname Femara) nahegelegt und sie wurde von dort an mamazone – Frauen und Forschung gegen Brustkrebs, verwiesen. „Was nicht in der Broschüre steht: mamazone erhält auch Spenden von der Pharmaindustrie.“

Man filmt auf einem Kongress von mamazone, wo binnen drei Tagen „Diplompatientinnen“ ausgebildet werden. Die Vorsitzende Ursula Goldmann-Posch räumt ein, dass Diplompatientinnen teurer sind für das gesamt Gesundheitswesen, weil sie mehr einfordern. „Gewinner dieses Drucks ist die Pharmaindustrie.“

Die Unternehmen zahlen auf der Veranstaltung Standgebühren an mamazone. Goldmann-Posch spricht von der Kooperation mit dem Pharmakonzern Roche, „eine gute Möglichkeit, unsere Stimme in einen Konzern einzubringen.“ Dafür habe mamazone in 2014 von Roche 100000 Euro bekommen, sagt der Reporter – knapp die Hälfte aller Einnahmen. In der Bilanz seien aber nur 1600 Euro direkte Spenden von der Pharmaindustrie ausgewiesen.

Sowohl die Firma Roche als auch der Verband forschender Arzneimittelhersteller (VfA), dessen Mitgieder insgesamt 5,6 Millionen Euro pro Jahr an Patientenorganisationen spenden, wollen dazu nicht vor laufender Kamera Stellung nehmen.

Spätestens ab hier verlässt die Reportage meines Erachtens den Boden einer soliden Berichterstattung zugunsten einer Vorabverurteilung. Kritisiert wird beispielsweise, dass die Patienten auf der VfA-Webseite „vor allem auf Arzneimittelstudien verwiesen werden, die ausschließlich von der Industrie finanziert werden“. Man „vergisst“ aber zu erwähnen, dass aus öffentlichen Mitteln fast keine derartige Studien bezahlt werden, und dass es den Krankenkassen nur in Ausnahmen erlaubt ist, solche Studien zu unternehmen.

Statt nun aber die Politik zu kritisieren, die mit ihren Weichenstellungen diese vermeintliche Schieflage erst geschaffen hat, geht es munter weiter mit dem Pharma-Bashing: 70000 Patienteninitiativen gibt es in Deutschland, hat Reporter Klaus Balzer herausgefunden und fragt: „machen diese sich abhängig?“. Das scheint mir ziemlich unwahrscheinlich, zumal eine einfache Rechnung ergibt, dass jede dieser Initiativen im Durchschnitt gerade einmal 80 Euro pro Jahr erhält (5,6 Millionen durch 70000).

Am Institut für Qualitätssicherung im Gesundheitswesen (IQWiG) in Köln spricht man mit Klaus Koch, den ich als früheren Kollegen schätze und der sich seit Jahren mit der Problematik beschäftigt. Ja, dies sei gängige Praxis und Teil des Marketings, bestätigt er. Zitiert wird eine Untersuchung des IQWiG, wonach neue Medikamente zu 60 % „keine neue Wirksamkeit gegenüber Alten hätten“. Wir lernen, dass die Pharmakonzerne sich schon sehr früh Gedanken machen, wie sie ihre Produkte vermarkten und zu welchen Gruppen sie dafür Kontakt aufnehmen müssen.

Dr. Jutta Scheiderbauer begründet für die Selbsthilfegruppe TIMS (Trierer Informationsstelle Multiple Sklerose), warum man keine Kooperationen mit der Pharmaindustrie betreibt: „man sollte sich nicht in Verdacht bringen.“ Eine direkte Bestechung sieht sie nicht, befürchtet aber einen Gewöhnungseffekt.

Befragt wird auch die Bundesgeschäftsführerin der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft (DMSG) die ihre Zusammenarbeit verteidigt und auf die hauseigenen Leitlinien verweist: Unterstützung wird angenommen, ein Mitspracherecht gibt es aber nicht. Der Anteil der Unterstützung am Gesamtbudget der Gesellschaft liegt demnach bei 1 – 1,8 Prozent für die Jahre 2012- 2014.

Auch ein Patient mit Myasthenie dient zur Illustration des Verdachts: Hans Rohn von der Deutschen Myasthenie Gesellschaft (DMG). Aus eigener Erfahrung spricht er über die Nebenwirkungen der vielen Medikamente, die er einnehmen muss. Jetzt lautet der Vorwurf, die Pharmaindustre entwickle zu wenige Medikamente gegen Krankheiten wie die Myasthenie, weil nur wenige Menschen daran leiden und damit kein Geld zu verdienen wäre. Auf den Veranstaltungen der DMG liegen auch Informationsmaterialen über neue bzw. (noch) nicht zugelassen Medikamente aus und solche, die über klinische Studien informieren.

Bin ich der Einzige, dem diese Aneinandereihung widersprüchlich erscheint? Jedenfalls hat die DMG ein Konzept erstellt, wonach ihre Patienten ohne Einfluss der Industrie in Zusammenarbeit mit ausgewählten Kliniken an Studien mitwirken sollen – und ich bin gespannt, zu welchem Ergebnis diese Initiative führen wird.

Am Schluss steht das Fazit: „Geld von der Industrie zu nehmen macht es schwer, unabhängig zu bleiben.“ Die Frauenselbsthilfe nach Krebs unter Hilde Schulte hat deshalb die Zusammenarbeit mit der Pharmaindustrie aufgekündigt. Deren Dachverband, die Deutsche Krebshilfe, lehnt derartige Kooperationen ohnehin an.

Europaweit könnte der Trend jedoch in eine andere Richtung gehen. Die European Patients´ Academy on Therapeutic Innovation (EUPATI) mit Sitz in Bern wird nur etwa zur Hälfte aus Steuern finanziert, die andere Hälfte – nämlich 5 Millionen Euro kommen wiederum von der Industrie. Und das ist gut so, befindet David Hans-U. Haerry. Der ist nicht nur Mitglied eines Verbandes von AIDS-Betroffenen, sondern wird auch noch von EUPATI bezahlt, stellt der Sprecher fest.

Haerry erklärt, dass die Pharmaindustrie nunmal diejenigen seien, die einen Wirkstoff am schnellsten zum marktreifen Medikament entwickeln könnten. Auch dass diese Zusammenarbeit es den Patienten erleichtert, in klinische Studien aufgenommen zu werden, sei absolut richtig.

Ja aber… kommt es erneut aus dem Off: Auch neue, zugelassene Medikamente seien in zwei Drittel aller Fälle nicht besser, als schon vorhandene. Das ist bedauerlich, denke ich mir. Solange man aber nicht im Voraus weiß, welches Drittel der Arzneien nicht nur neu und teuer ist, sondern auch noch besser als der Standard, ist der Einwurf wenig hilfreich.

Fast schon im Abspann höre ich: „Forschung ist ja nicht grundsätzlich schlecht für den Patienten. Es geht auch nicht um eine pauschale Verurteilung.“ Eine Selbstverpflichtung, die Zahlungen offenzulegen sei aber nicht genug, moralisiert der Sprecher noch aus dem Off, und dann sind sie vorbei die 45 Minuten Reportage, von der ich mir neue Erkenntnisse erhofft hatte. Vergeblich.

Denn immer wieder schoß mir bei dieser Reportage die Frage durch den Kopf: „Ja und?“. Warum sollten Pharmafirmen denn nicht mit den Patienten reden? Wer hat denn die aktuellsten Informationen über die neusten Medikamente? Und welchen konkreten Beweis gibt es dafür, dass irgendjemand bestochen wurde oder durch den Informationsaustausch zu Schaden gekommen wäre?

Nein, liebe Kollegen, kritisieren alleine genügt mir nicht. Es fehlen mir Ideen, wie man das System besser machen kann und ich würde mir wünschen, dass ihr mit meinen Zwangsgebühren einen ganz alltäglichen Interessenkonflikt nicht ohne harte Beweise zu einem Skandal hochstilisiert. Das Ganze lief ja unter dem Etikett „Die Story im Ersten“ und das war leider ein ganz schön dünne Story. Eurer Forderung im letzten Satz des Films stimme ich dennoch zu: „Das Mindeste wäre es, dass jeder Patient in einer Initiative erfährt, wer sie mitfinanziert.“

Kola-Halbinsel: Die Zerstörung einer Landschaft

Die müden Augen hinter den klobigen Brillengläsern verraten, daß Jewgeni Kowalewski sich nicht besonders wohl fühlt. Der stellvertretende Bezirksdirektor des Amtes für Umweltschutz windet sich unter den bohrenden Fragen der ausländischen Journalisten, ist sichtlich bemüht, den Abgrund zwischen neuer Offenheit und altem Denken zu überwinden.

Was tun die kärglich ausgestatteten Behörden in Murmansk, 200 Kilometer nördlich des Polarkreises, gegen die Luftverschmutzung auf der Kola-Halbinsel? Wie lange noch sollen Schwefeldioxid und Schwermetalle aus den Hüttenwerken der Region auf die 1,2 Millionen Einwohner herabrieseln? Wie viele Unfälle hat es im Kernkraftwerk Kola nahe der Stadt Poljarnyje Sori gegeben, und was geschah mit den radioaktiven Abfällen von mehr als 100 Atom-U-Booten?

Der Russe Kowalewski wiegelt ab, verweist auf die gute Zusammenarbeit mit Norwegen, Finnland und Schweden, auf internationale Abkommen und auf die 30 Meßstationen seiner Behörde: „Wir hoffen, die meisten Probleme in drei bis fünf Jahren zu lösen.“ Eine kurze Stadtrundfahrt aber genügt, um jeglichen Optimismus im Keim zu ersticken: Vom Genuß des Trinkwassers, das in gelblich-brauner Tönung aus den Hähnen fließt, wird dringend abgeraten.

Die Grundversorgung der Bevölkerung scheint zwar gesichert. Wohin aber die Devisenmilliarden aus dem Verkauf von Nickel, Kupfer, Platin, von Kobalt, Palladium, Osmium und anderen seltenen Metallen geflossen sind, ist trotz intensiver Bemühungen nicht auszumachen. Große, triste Wohnblocks prägen das Bild der Stadt, die im Zweiten Weltkrieg von deutschen Bombern dem Erdboden gleichgemacht wurde.

Hoch oben über der Stadt steht das Kriegsdenkmal, das die Murmansker Aljoscha nennen und das an 1000 Tage Zweiter Weltkrieg in der Arktis erinnert. Rauchwolken aus Industrieschornsteinen trüben den Blick von hier aus. Doch was könnte man bei freier Sicht schon sehen? Der eisfreie Hafen, von dem aus eine halbe Million Einwohner versorgt wird, ist einer der größten Schiffsfriedhöfe der Welt.

In einer vorgelagerten Bucht zeugen die himmelwärts gerichteten Torsos Dutzender abgewrackter Schiffe von der ortsüblichen Entsorgungspraxis: Mit maximaler Geschwindigkeit werden Frachter und Tanker, Schlepper und Trawler auf den Strand gesteuert, wo sie auflaufen und dann ihrem Schicksal überlassen werden.

Knut Hauge, norwegischer Konsul von Murmansk, berichtet von 52 ausrangierten Atom-U-Booten allein im Hafen von Murmansk. Zusammen mit mehr oder weniger funktionstüchtigen U-Booten im benachbarten Sperrbezirk Seweromorsk kommt man auf 120 Kriegsschiffe der russischen Nordflotte mit jeweils einem oder zwei Atomreaktoren an Bord. Ein Atomkraftwerk mit vier Reaktoren, acht atomgetriebene Eisbrecher und fünf bekannte atomare Zwischenlager tragen zur atomaren Verseuchung der Kola-Halbinsel bei. Zivile Frachtschiffe im Hafen von Murmansk bilden zusätzliche Zwischenlager.

Erst Ende März war es wieder zu einem Unglück gekommen, als vor der Küste das amerikanische U-Boot „Grayling“ mit einem russischen Boot der Delta-III-Klasse zusammenstieß. Die Amerikaner formulierten eine höfliche Entschuldigung, aus Moskau kam nach mehrtägiger Verzögerung die Nachricht, Atomreaktor und Bewaffnung des eigenen Bootes seien unbeschädigt geblieben.

Auch ohne Unfälle ist die lang geübte Praxis im Umgang mit der Kernkraft erschreckend: Neben den Atom-U-Booten sind 132 Leuchttürme entlang der Küste mit Kernreaktoren ausgerüstet. Zusammen mit dem Kernkraftwerk Kola bei Poljarnyje Sori – laut Angaben der Internationalen Atomenergie-Organisation eine der zehn gefährlichsten Anlagen weltweit – produzieren sie gewaltige Mengen radioaktiven Abfalls. Uber ein Endlager verfügt Russland indes ebenso wenig wie westliche Atommächte.

Abgebrannte Brennstäbe wurden daher routinemäßig in der Barentssee versenkt. Mindestens 21 Reaktoren von ausgedienten U-Booten und Eisbrechern liegen am Meeresgrund. Flüssige radioaktive Abfälle wurden verdünnt und über Bord gekippt. Auf die Frage, was man sich dabei gedacht hat, weiß Kowalewski eine simple Antwort: ,,Auch die Amerikaner haben das lange Zeit gemacht, heute ist es verboten.“ Das Problem sei ohnehin nicht besonders dringend, weil die mehr als 10000 Container mit dem strahlenden Inhalt „sicherlich noch lange halten“.

Eine weitere Hinterlassenschaft der ehemaligen Sowjetunion sind eine Vielzahl von Kasernen, Flughäfen, Raketenbasen, Grenzbefestigungen und sonstigen militärischen Einrichtungen. Von rund 3500 nuklearen Sprengköpfen ist die Rede, von Raketen der Typen S 21 und Scud. Die vorerst letzte von 120 Atombomben explodierte am 24. Oktober 1991 – dem Tag der Vereinten Nationen – auf der Insel Nowaja Semlja, die seit 1955 als Testgelände herhalten muß. Die Gesamtsprengkraft seither beträgt rund 7000 Hiroschima-Bomben.

Mittwochs, freitags und an Sonntagen sind die eis- und schneebedeckten Straßen der Halbinsel für den Zivilverkehr freigegeben. An vier Tagen in der Woche bleiben die Verkehrswege den Soldaten vorbehalten – ein Verhältnis, das nach Meinung von Beobachtern die Machtverteilung im Staate widerspiegelt.

Über Reformen und Joint-Ventures wird viel geredet, echter Fortschritt indes bleibt dem Betrachter verborgen. Immer wieder erklären Regierungsvertreter und Konzernleiter, ohne Geld aus dem Westen ließe sich nichts bewegen. Der Gedanke, das größte Volk Europas könne sich aus eigener Kraft aus der Misere befreien, wird nirgendwo ernsthaft erwogen.

So auch in Zapoljanry und Nikel, wo 50000 Einwohner von der Verhüttung des gleichnamigen Metalls abhängig sind. Neben elf Tonnen giftiger Schwermetalle werden dabei jährlich 300000 Tonnen Schwefeldioxid freigesetzt. Das entspricht der siebenfachen Menge dessen, was das Nachbarland Norwegen mit seinen vier Millionen Einwohnern produziert. Auf 100 Quadratkilometern Taiga wächst nahe Nikel kein Baum mehr. In Zapoljanry, so berichtet eine Augenzeugin, sei es noch weitaus schlimmer. Die Behörden haben dort das Sammeln von Beeren und Pilzen verboten; beim Verzehr besteht Vergiftungsgefahr.

Mit westlicher Technologie ließe sich der Schadstoffausstoß der Erzhütten auf ein Zwanzigstel reduzieren, doch dafür fehlen umgerechnet 960 Millionen Mark. Trotz der Bereitschaft Norwegens und Finnlands, ein Siebtel der Kosten zu übernehmen, erklärte der russische Umweltminister Wiktor Dahiljan, sein Land sei zu arm, um die geplanten Maßnahmen zu bezahlen. Die Industriewüste lebt.

(erschienen in der WELT am 6. Juli 1993 als Bilanz einer mehrtägigen Journalistenreise, die letztlich von der norwegischen Regierung finanziert wurde. Und die hatte – wie mir später klar wurde – ein massives Interesse daran, mit Deutschland einen Mitfinanzier für die Linderung der grenzübergreifenden Umweltverschmutzung zu finden und im Vorfeld entsprechende Aufmerksamkeit zu schaffen…)

Wie Japan seine Umwelt schützt

Seveso, Bhopal, Tschernobyl – in Japan heißt das Synonym für Umweltkatastrophe Minamata. In den frühen fünfziger Jahren starben in der gleichnamigen Bucht vor dem Distrikt Kumamoto erst die Fische, dann die Katzen. Die Warnzeichen blieben unbeachtet; erst Jahre darauf erkrankten die ersten Menschen. „Hirnschäden unbekannter Herkunft“ lautete die Diagnose; schockierende Bilder gingen um die Welt.

Erst 1968, also zwölf Jahre nach dem Auftreten der ersten Fälle, gab die Regierung offiziell zu Protokoll, daß es sich bei der Minamata-Krankheit um eine schwerwiegende Quecksilbervergiftung handelt, hervorgerufen durch die Abwässer einer nahegelegenen Chemiefabrik.

Die Tatsache, daß Japan mit seinen 120 Millionen Einwohnern heute auf dem Gebiet des Umweltschutzes beträchtliche Erfolge vorzuweisen hat, mag für die 2900 anerkannten langzeitgeschädigten Anwohner von Minamata nur ein kleiner Trost sein. Dennoch steht fest: Im Land der aufgehenden Sonne wird der Himmel nur noch in seltenen Ausnahmen von Schmutzwolken verschleiert, die großen Umweltskandale sind Geschichte. Wie kein anderes Land hat Japan es verstanden, seit den siebziger Jahren das Wirtschaftswachstum vom Energieverbrauch zu entkoppeln.

Der Schadstoffausstoß für die weitaus meisten Umweltgifte konnte drastisch reduziert werden, gleichzeitig erklommen die einheimischen Multis Spitzenpositionen im internationalen Wettbewerb. Im Großraum Tokyo leben fast 30 Millionen Einwohner auf engstem Raum. Nirgendwo sonst verursachen so viele Menschen so wenige Umweltschäden. Meßbar sind diese Erfolge nicht zuletzt an der Lebenserwartung: Für Männer liegt sie bei  76, für Frauen gar bei 82 Jahren, in Deutschland sind es jeweils vier Jahre weniger.

Die Zahlen sprechen für sich: Heute verbraucht der Durchschnittsjapaner nicht einmal die Hälfte der Energie, die ein Amerikaner benötigt; sein Durchschnittseinkommen ist aber deutlich höher. Unter allen Industrienationen erwirtschaftet Japan am meisten Güter aus jedem verbrauchten Liter Öl. Kohle- und Ölkraftwerke, von denen das rohstoffarme Land nach wie vor den Großteil seiner Energie bezieht, waren ebenso wie die Chemiekonzerne gezwungen worden, strenge Auflagen einzuhalten.

Der Antrieb für die japanische Industrie kommt dabei weniger durch die Angst vor Bußgeldern zustande, obwohl auch dies in seltenen Fällen vorkommt. Ein Sprecher des Umweltministeriums erklärte auf eine entsprechende Nachfrage lächelnd: „Sie verlieren ihr Gesicht, wenn sie vor Gericht gestellt werden – und das genügt.“

Doch auch hier ist nicht alles Gold, was glänzt. Während in Deutschland und den Vereinigten Staaten jeweils über 500 Substanzen, die als gefährlich eingestuft werden, strengen gesetzlichen Bestimmungen unterliegen, sind es in Japan gerade zehn. Was das bedeutet, erklärte Dr. Masatoshi Morita, einer der führenden Wissenschaftler am Nationalen Zentrum für Umweltstudien: „Wenn man in Japan erst einmal die Voraussetzungen geschaffen hat, um die Umwelt nach Dioxinen abzusuchen, sind wir um ein Problem reicher.“

(erschienen in „DIE WELT“ am 3. Juli 1992. Die mehrtägige Informationsreise erfolgte auf Einladung und auf Kosten der japanischen Regierung.)

Guten Appetit!

Nur wenige Gourmets können sich wohl mit dem Gedanken anfreunden, Nigerianische Riesenratten oder Schwarze Leguane zu verspeisen. Dennoch – nach einem Vorschlag des amerikanischen National Research Council (NRC) sollen insgesamt 40 Arten exotischer Tiere und kleinwüchsige Formen „gewöhnlicher“ Kühe, Schweine und Schafe künftig einen wichtigen Beitrag zur Ernährung der wachsenden Weltbevölkerung leisten.

Der – ernstgemeinte – Vorstoß erwartet bei einer Umstellung der Ernährung auf kleine Haustiere eine bessere Versorgung der Menschen in der Dritten Welt. Die Expertengruppe des NRC verweist auf das rasche Bevölkerungswachstum: „Haustiere für Entwicklungsländer sollten kleiner und handlicher werden; derzeit brauchen sie einfach zuviel Platz und verursachen zu hohe Kosten.“

Die Kommission begründet ihren Vorstoß damit, daß sämtliche Tiere auf der Liste relativ billig in Anschaffung und Unterhalt sind („Science“, Band 253, S. 378). Mit einer Tonne Heu etwa kann entweder eine einzige Kuh ernährt werden oder aber 300 Kaninchen. Ein weiterer Vorteil liegt in der sprichwörtlichen Vermehrungsrate der Kleinsäuger.

Neben Leguan und Riesenratte werden auch die nur 60 Zentimeter große Mexikanische Minikuh, das elf Kilogramm schwere Sudanesische Zwergschaf und die nepalesische Terai-Ziege als Kandidaten für den erweiterten Speiseplan der Dritten Welt genannt. Weitere Leckereien aus der Familie der Nagetiere: Pampashasen, Agutis, Viscachas und Pakas, allesamt Bewohner des südamerikanischen Kontinents.

(erschienen in DIE WELT am 24. August 1991)

Die erste Gentherapie

Der weltweit erste Versuch zur Gentherapie am Menschen scheint ein Erfolg zu werden. Behandelt wurde ein vier Jahre altes Mädchen, dessen Identität noch geheim ist. Es produziert nach dreimonatiger Therapie jetzt wieder aus eigener Kraft einen Eiweißstoff, der sie vor einer tödlichen Stoffwechselkrankheit schützt. „Dies sind nur die ersten vorläufigen Ergebnisse, aber wir sind darüber sehr aufgeregt“, sagte French Anderson vom Nationalen Herz-, Lungen- und Blutinstitut der USA.

Bei der ADA-Defizienz, so der Name der äußerst seltenen Erbkrankheit, wird aufgrund eines Gendefekts keine Adenosindeaminase (ADA) produziert. Der Mangel an diesem Eiweiß führt zu einer Vergiftung der menschlichen Abwehrzellen und zum Zusammenbruch des Immunsystems. Der Körper ist dann den Angriffen von Bakterien und Viren schutzlos ausgeliefert. Weltweit sind nur 25 Patienten bekannt, die unter der ADA-Defizienz leiden. Ihre Lebenserwartung reicht bisher nicht über die frühe Kindheit hinaus.

Die Krankheit war schon sehr früh als aussichtsreicher Kandidat für eine Gentherapie auserkoren worden. Bereits 1986 hatten Anderson und seine Kollegen Michael Blaese und Kenneth Culver ihre Methode im Reagenzglas erfolgreich durchgeführt. Dann mussten sie ihr Behandlungsschema noch einem Dutzend Komitees zur Begutachtung vorlegen, bis endlich im September die Genehmigung für den Eingriff erteilt wurde. Noch im gleichen Monat spritzen die Ärzte dem Mädchen rund zehn Milliarden gentechnisch veränderte Immunzellen in die Blutbahn.

In die Zellen, die zuvor der Patientin entnommen worden waren, hatten die Mediziner ein gesundes Gen mit der Information zur Herstellung von ADA eingeschmuggelt. Die Ärzte bedienten sich dabei eines Mäusevirus als „Genfähre“, die das kleine Stückchen Erbinformation in die Immunzellen einbrachte.

Gegen diese Methode des Gentransfers hatte es vorher Einwände von Kritikern gegeben. Bei der Übertragung von Genen, die im Tierversuch schon mehrfach erfolgreich erprobt wurden, besteht die Schwierigkeit darin, nur die gewünschten Zielzellen zu treffen. Das Gen sollte dann im Idealfall genau an die Stelle platziert werden, an der es natürlicherweise vorkommt. Da beispielsweise die menschliche Erbinformation in jeder Zelle ungefähr einen Meter lang ist und sich dort etwa 100.000 Gene befinden, ist die Gentherapie eine herausragende Aufgabe.

Zusätzliche Probleme können entstehen, wenn das eingebrachte Fremdgen sich zwischen wichtige Erbinformationen einschiebt und diese dadurch unleserlich macht. Auch fürchten Kritiker, dass durch solch einen Vorgang sogenannte Onkogene aktiviert werden könnten, die unter ungünstigen Umständen zur Bildung von Tumoren führen.

Bisher sieht alles danach aus, als ob sich diese Befürchtungen nicht bestätigen. Während das Mädchen bislang fast ständig krank war, erlitt es seit Beginn der Behandlung nur einen Schnupfen. Vorläufig allerdings warnt Blaese vor übertriebenen Hoffnungen. „Wir wissen noch nicht, ob dies auf unsere Behandlung zurückzuführen ist – dennoch, die Resultate sind ermutigend.“

Sollte sich die gute Nachricht bewahrheiten, könnte die Gentherapie auch bei vielen anderen Krankheiten zum Einsatz kommen. Ein zweites Experiment an einer kleinen Gruppe von Patienten mit normalerweise tödlichem Hautkrebs (Melanom) ist bereits angelaufen.

(Original erschienen in der WELT am 19. Dezember 1990. Überarbeitet am 5. Juni 2017)

Was ist daraus geworden? French Anderson gilt heute zu Recht als Pionier der Gentherapie. Allerdings wurde er 2004 wegen Kindesmissbrauch verhaftet und 2007 dafür zu 14 Jahren Gefängnis verurteilt. Der Gesundheitszustand des Mädchens (inzwischen weiß man, dass sie Ashanti DeSilva heißt), stabilisierte sich. Laut einem Bericht im Deutschlandfunk war sie 2015 mit 29 Jahren noch bei guter Gesundheit. Geheilt wurde sie aber nicht. Die eingeschleusten Gene verschanden über die Jahre wieder aus ihrem Körper und sie erhält jetzt Medikamente, die den Enzymmangel ausgleichen.

Software-Test Turbo-Anti-Virus

Computer-Viren sind kleine Programme, die sich selbständig an andere Dateien anhängen. So getarnt können sie Daten zerstören und die Leistung des PCs vermindern. Ein vollständiger Schutz vor den heimtückischen „Erregern“ wird wohl niemals möglich sein, doch verleiht das Programm Turbo-Anti-Virus ein Höchstmaß an Sicherheit.

Schon vor der Installation wird der Arbeitsspeicher überprüft, dann auf Wunsch veranlasst, dass bei jedem Anschalten des Computers die wichtigsten Speicherbereiche auf Viren durchsucht und gegebenenfalls gereinigt werden. Weitere Wächterprogramme lassen sich automatisch in den Arbeitsspeicher (RAM) laden und schlagen dann Alarm, wenn während der Arbeit verdächtige Aktivitäten festgestellt werden.

Das Hauptprogramm schließlich präsentiert sich mit einer benutzerfreundlichen Oberfläche samt Pull-Down Menüs und erkennt in der getesteten Version 187 Viren. Der Prüfbereich kann frei definiert werden, auf Wunsch wird ein Bericht erstellt, an dem sich das Ausmaß der Verseuchung und die Zahl der gefangenen Viren ablesen lässt. Besonders wertvolle Dateien können in einer Prüfliste zusammengestellt werden, so dass jede Veränderung sofort angezeigt wird. Das deutschsprachige Handbuch ist kurz gehalten, aber ausreichend.

Richtig spannend ist die Übersicht der verschiedenen Viren, in der hunderte von Gemeinheiten und Programmierkniffs aufgezählt werden. Nicht nur Freitag der Dreizehnte, auch Dienstag der Erste kann demnach gefährlich sein, ebenso wie Oropax-, MachoSoft- und Data Crime Virus, um nur einige zu nennen. Für den Einsatz auf PCs mit häufig wechselndem Diskettenverkehr ist diese Software daher uneingeschränkt zu empfehlen.

„Turbo-Anti-Virus“ von EPG, Hans-Stießberger-Str. 3, 8013 Haar. Für IBM-PC und kompatible, 299 Mark. Die Firma EPG hat sich 1998 vom Anti-Virus-markt zurückgezogen.

(erschienen in der WELT am 2. November 1990. Aktualisiert am 1. Mai 2017)

Benzin-Ersatz Methanol soll Ozon-Werte senken

Auch wenn die wenigsten Auto­fahrer es wahrhaben wollen: Kraftfahrzeuge sind eine der Haupt­quellen für die zunehmende Luftver­schmutzung. Bei der Verbrennung von Benzin und Diesel setzen unsere fahrbaren Untersätze Schadstoffe frei, die für den Smog in Ballungszen­tren und gesundheitsgefährdende Ozonkonzentrationen am Boden ebenso verantwortlich sind wie für sauren Regen und den Treibhaus­effekt.

Viele Alternativen zu den her­kömmlichen Treibstoffen wurden be­reits erwogen: Wasserstoff und Bioal­kohol, komprimiertes und verflüssig­tes Erdgas, Solarenergie und Strom aus der Steckdose. Keine Substanz aber vereint derart viele Vorteile in sich wie der simple Alkohol Metha­nol. Zu diesem Schluss kam jedenfalls die Kalifornische Energiekommis­sion, die bis zum Jahr 1993 rund 5000 methanolgetriebene Autos auf den Highways des amerikanischen Bun­desstaates testen wird. US-Präsident George Bush wollte die Autoherstel­ler sogar dazu verpflichten, schon ab 1997 eine Million Fahrzeuge, angetrieben von „sauberen“ Kraftstoffen, auf die Straßen amerikanischer Großstädte zu bringen – ein Vorstoß, der beim Gerangel um die Neufassung des Luftreinhaltungsgesetzes allerdings auf der Strecke blieb.

Warum die Aufregung? Bei der Verbrennung von Methanol entsteht deutlich weniger Ozon als mit herkömmlichen Kraftstoffen. Diese Form des Sauerstoffs, die in rund 30 Kilometer Höhe als Schutzschild gegen die krebserregende UV-Strahlung dient, ist am Boden ein gefährliches Gift. Zu hohe Ozonkonzentrationen können besonders Kindern und älteren Menschen, aber auch Asthmatikern gefährlich werden. Atemnot, Husten und Brustschmerzen sind die Folgen, außerdem steht Ozon im Verdacht, auch bleibende Schäden der Lunge zu verursachen.

Nach einer Darstellung des Weißen Hauses lebt rund die Hälfte der amerikanischen Bevölkerung in Gebieten, in denen die gesetzlichen Grenz­werte für Ozon nicht eingehalten wer­den. So kam es 1988 in Los Angeles, begünstigt durch den heißen Som­mer, an 176 Tagen des Jahres zu über­höhten Ozonkonzentrationen. Auch in der Bundesrepublik kommt es in diesen Tagen laufend zu erheblichen Überschreitungen des Richtwertes von 120 Mikrogramm Ozon pro Ku­bikmeter Luft, wie er vom Verband Deutscher Ingenieure empfohlen wurde.

Eine Studie, die jüngst im amerika­nischen Wissenschaftsmagazin „Science“ veröffentlicht wurde, be­legt, dass der Einsatz von Methanol die Luftqualität im Großraum Los Angeles deutlich verbessern könnte. Der sofortige Einsatz von reinem Me­thanol (M 100) könnte demnach im Jahr 2000 die Spitzenwerte für Ozon fast so stark reduzieren wie ein totales Verbot von Kraftfahrzeugen. Mit ei­nem Gemisch aus 85 Prozent Metha­nol und 15 Prozent Benzin (M 85) wä­re noch eine 30prozentige Reduktion zu erreichen. Dr. Axel Friedrich, zu­ständiger Fachgebietsleiter beim Berliner Umweltbundesamt und einer der Kritiker der Methanoltechnologie, ist allerdings der Meinung, dass die amerikanischen Modellrechnungen nicht auf deutsche Verhältnisse übertragen werden können.

Unbestritten ist jedoch, dass die Verbrennung des Methanols insgesamt weniger Schadstoffe freisetzt als die herkömmlicher Kraftstoffe. Die teilweise recht komplexen Bestandteile von Benzin und Diesel neigen nämlich dazu, nur unvollständig zu verbrennen. Dadurch wird das giftige Gas Kohlenmonoxid („Garagenkiller“) freigesetzt, außerdem krebserzeugende Substanzen wie Rußpartikel und Benzol. Zusätzlich entstehen in Nebenreaktionen Stickoxide (NOx), die am Boden die Ozonbildung fördern und für den sauren Regen mitverantwortlich sind. Auch wenn, wie Kritiker anmerken, bei der Methanolverbrennung die krebserregende Chemikalie Formaldehyd vermehrt gebildet wird, spricht die Gesamtbilanz doch eindeutig für diesen Treibstoff.

Charles Gray ist bei der amerikanischen Umweltschutzbehörde EPA zuständig für die Entwicklung der gesetzlichen Richtwerte für Autoabgase. Er ist einer der glühendsten Befürworter des Methanols und glaubt, dass die konsequente Weiterentwicklung methanolgetriebener Fahrzeuge nicht nur die Atemluft dramatisch entgiften könnte, sondern auch einen wichtigen Beitrag zur Kontrolle des Treibhauseffektes liefern würde. Das Methanolauto der Zukunft, so Gray, soll im Vergleich zu heutigen Fahrzeugen nur ein Fünftel des Kohlendioxids und gar nur ein Zehntel der übrigen Schadstoffe produzieren.

Zukunftsmusik? „Insgesamt kann die technische Entwicklung der Methanolmotoren im Pkw als abgeschlossen betrachtet werden. Die Bundesrepublik Deutschland ist hier weltweit führend“, so bilanzierte Bundesforschungsminister Heinz Riesenhuber bereits vor gut einem Jahr. Vorausgegangen war dieser Behauptung ein fünfjähriges Pilotprogramm des BMFT unter Beteiligung der Kraftfahrzeug- und Kraftstoffindustrie. Mehr als 100 Pkws und zwei Busse waren erprobt worden, teils mit Vier- und Sechs-Zylinder-Ottomotoren, teils mit Vergaser. Ergebnis des Langzeitprogramms, bei dem manche der getesteten Fahrzeuge über 100000 Kilometer zurücklegten:

„Ein praxisgerechter Betrieb der Fahrzeuge mit gewohnt gutem Fahrverhalten und teilweise mit Leistungssteigerungen ist möglich.“ Insgesamt, so fand auch das BMFT, werden weniger Schadstoffe freigesetzt, die Gefahr der Smogbildung verringert und die Emission von Rußpartikeln mit Methanoldieselmotoren fast vollständig vermieden.

Für Autohersteller wie Mercedes­-Benz ist das Thema bereits ein „alter Hut“. Der Bau eines speziellen Motors sei nicht nötig, teilte Dr. Lothar Krösch mit. Methanol unterscheidet sich vorwiegend im niedrigeren Ener­giegehalt pro Volumeneinheit von herkömmlichem Benzin. Die zerset­zenden und stromleitenden Eigen­schaften des Methanols führen aller­dings dazu, dass der Tank aus rost­freiem Stahl gefertigt werden muss. Auch verschiedene Motorbauteile müssen an die höheren Anforderun­gen angepasst werden. Die Mehrko­sten, die dadurch entstehen, werden auf etwa 600 Mark geschätzt.

Auf dem Genfer Autosalon präsen­tierte Mercedes erstmals ein Fahrzeug für den Mischbetrieb, das wechseln­de Anteile von herkömmlichem Ben­zin und Methanol „verdaut“. Es han­delt sich dabei um ein Modell der 300er-Serie, bei dem ein Sensor den Methanolanteil im Treibstoff ermit­telt und dann die Einspritzung steu­ert. Derartige Fahrzeuge. wie sie auch von Ford und General Motors ent­wickelt wurden, bieten den offen­sichtlichen Vorteil, dass zukünftige Käufer nicht auf Tankstellen ange­wiesen sein werden, an denen Metha­nol angeboten wird.

Auch in finanzieller Hinsicht könn­te Methanol konkurrenzfähig sein. Zurzeit kostet eine Tonne Methanol auf dem Markt etwa 210 Mark, das bedeutet einen Literpreis von 16 Pfennig. Er ist aber sehr abhängig von der Ausgangs-Substanz und vom Herstellungsverfahren. Nach Schät­zungen der Internationalen Energie­agentur ist Methanol konkurrenzfä­hig, wenn der Erdölpreis über 20 Dol­lar pro Fass liegt – so wie es zurzeit als Folge der Irak-Krise der Fall ist. Für den Treibstoff, der ebenso wie Benzin und Diesel flüssig und leicht brenn­bar ist, wäre auch kein neues Vertei­lungsnetzwerk nötig. Bestehende Transport- und Lagervorrichtungen ließen sich ohne große Investitionen für Methanol nutzen.

Im Prinzip kann der zukunftsträch­tige Energieträger aus allen kohlen­stoffhaltigen Substanzen hergestellt werden. Die Möglichkeit, Methanol aus Erdgas oder Kohle, Erdölrück­ständen, Biomasse und sogar aus Ab­fall zu gewinnen, könnte diesen Treibstoff weltweit langfristig verfüg­bar machen, meint Dr. Hansgert Quadflieg, Leiter der Stabsstelle Pro­jektbegleitung beim TÜV Rheinland. Ökonomische Überlegungen konzen­trieren sich aber darauf, den „Alterna­tivkraftstoff Nummer eins“ aus Erd­gas herzustellen.

Da bei der Erdölgewinnung derzeit große Mengen an Methangas einfach abgefackelt werden, ließen sich durch die Umwandlung in Methanol gleich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: Der Gesamtverbrauch an Primärenergie ginge zurück (es wür­de nämlich entsprechend weniger Benzin benötigt), gleichzeitig gelang­ten weniger Schadstoffe und Treib­hausgase in die Atmosphäre. Diese Lösung bietet sich vor allem für die USA an, da sie in Alaska über gewalti­ge Erdgasfelder verfügen.

Methanol für den deutschen Markt könnte aus bisher noch ungenutzten norwegischen Erdgasfeldern kom­men. Wie Quadflieg mitteilte, strebt Norwegen allerdings vor der kosten­intensiven Erschließung eine Abnah­megarantie der Bundesrepublik über einen längeren Zeitraum hinweg an. Dagegen bestehen auf deutscher Sei­te prinzipielle Bedenken gegenüber einer Preisgarantie bei schwanken­den Rohölpreisen. Ein Eingriff in den Mechanismus der freien Marktwirt­schaft, sprich Subventionen oder Steuererleichterungen, wird vom Wirtschaftsministerium abgelehnt.

(erschienen in der WELT am 16. August 1990. Letzte Aktualisierung am 18. März 2017)

Was ist daraus geworden? Aus der brasilianischen Botschaft bekam ich damals einen freundlichen Leserbrief mit Lob für den Artikel und dem Hinweis, dass in Brasilien zu dem Zeitpunkt bereits 4,5 Millionen Autos mit Äthanol (= Alkohol) unterwegs waren. Heute aber sehen wir bei einem Stop an der Tankstelle: Methanol hat sich nicht durchgesetzt. Beimischungen in geringer Konzentration werden aus Kostengründen nicht gemacht, lese ich in der Wikipedia. Und obwohl neben den USA auch Japan, China, Neuseeland und Südafrika mit der Technologie experimentiert haben, konnte sie sich nirgendwo durchsetzen. Der Hauptgrund dürfte die Entwicklung von Katalysatoren gewesen sein, wodurch die Emissionen an Kohlenwasserstoffen und Stickoxiden deutlich gesenkt wurden.

Rekombinante Hefe

Weltweit zum ersten Mal wird in Großbritannien die Herstellung eines gentechnisch veränderten Organismus als Lebensmittelzusatz erlaubt. Es handelt sich dabei um die Bäckerhefe (Saccharomyces cerevisiae), die zum Gären des Teiges unerlässlich ist.

Die Hefe erhielt zwei genetische Schalter (Promotoren) aus einem eng verwandten Stamm, es wurden also keine neuen Gene eingeführt. Durch die neuen Promotoren wird die Hefe befähigt, den Zucker Maltose schneller aufzunehmen und abzubauen. Bei dieser Reaktion wird Kohlendioxid freigesetzt, was den Teig lockert und zum schnelleren Aufgehen des Gemisches führt.

Die Hefe wurde von der zuständigen Genehmigungsbehörde als sicher eingestuft, weil der Austausch von genetischem Material innerhalb der gleichen Art stattgefunden habe. Für Brot, das mit Hilfe der genetisch veränderten Hefe hergestellt wird, soll es aus diesem Grund auch keine besondere Kennzeichnungspflicht geben.

(erschienen in der WELT am 12. Mai 1990)

Quelle: Aldhous, P. Modified yeast fine for food. Nature 344;386 (1990)

Was ist daraus geworden? Gentechnisch veränderte Organismen – sowohl Mikroorganismen als auch Pflanzen und Tiere – gibt es mittlerweile in Hunderten von Arten. Sie werden unter anderem zur Herstellung von Medikamenten und biologisch aktiven Molekülen genutzt, als Futter für Nutztiere und als Nahrungsmittel für den Menschen.

Nerv repariert

Mit der Chemikalie Polyethylenglykol (PEG) lassen sich durchtrennte Nervenfasern (Axone) wieder zusammenfügen. Todd Krause und George Bittner (Universität von Texas in Austin) gelang dieses Experiment beim Regenwurm. Einmal durchtrennte Nervenfasern zerfallen bei höheren Tieren normalerweise innerhalb von einigen Tagen. Eine Reparatur der Axone findet nur in seltenen Ausnahmefällen statt.

Die Wissenschaftler erzielten mit ihrer Methode an den relativ großen Nervenfasern des Regenwurmes eine Erfolgsquote von 80 bis 100 Prozent. Dazu tauchten sie die freien Enden der Axone zunächst in eine Salzlösung, mit der die Schnittstelle vollständig geöffnet wurde. Mit einer feinen Glaskanüle brachten die Forscher dann unter dem Mikroskop einen Tropfen PEG auf die Schnittstelle.

Innerhalb einer Minute gelang es ihnen, die meisten der getrennten Axone wieder zusammenzufügen. Die Funktion der Nervenfaser überprüften Krause und Bittner, indem sie den Transport von Farbstoffen durch die reparierten Fasern beobachteten. Auch die Leitung von elektrischen Impulsen wurde in mehreren Fällen nachgewiesen. Die Forscher erproben ihre Methode derzeit an den verhältnismäßig dünnen Axonen von Ratten und anderen Wirbeltieren. Sollten die Versuche erfolgreich sein, so Bittner, könne die Technik etwa in fünf Jahren auch beim Menschen angewendet werden.

(erschienen in der WELT am 5. Mai 1990. Letzte Aktualisierung am 7. März 2017)

Originalliteratur: Krause TL, Bittner GD. Rapid morphological fusion of severed myelinated axons by polyethylene glycol. Proc Natl Acad Sci U S A. 1990 Feb;87(4):1471-5

Was wurde daraus? Im Rückblick war dies eine bahnbrechende Arbeit. Die Technik ist weiterhin in Gebrauch, wurde aber weiterentwickelt, um die Reparatur durchtrennter Nerven zu fördern. Die Prognose einer Anwendung beim Menschen binnen fünf Jahren erwies sich aber als zu optimistisch. Dennoch scheint sich der Einsatz des Verfahrens zur Rettung von Nerven der klinischen Praxis zu nähern, folgere ich aus mehreren Reviews, in denen die obige Arbeit zitiert wird.

Software-Test Paradox 3.0

Beeindruckend ist nicht nur der Umfang der mitgelieferten Handbücher (vier Kilogramm beziehungsweise über 2000 Seiten). Die Leistung des Datenbanksystems Paradox 3.0 geht auch sonst weit über das hinaus, was Otto Normalverbraucher benötigt. Für dessen Ansprüche genügt denn auch das Studium eines schmalen Bandes von rund 150 Seiten, der ebenso wie die restlichen Dokumentationen hilfreich und übersichtlich zugleich ist.

Auffällig ist die „Intuition“ des Programms, Paradox scheint zu ahnen, was der Anwender im Sinn hat, sichert ohne vorherige Aufforderung, verzeiht und korrigiert Fehler bei der Arbeit, die bei anderen Programmen schnell zur Verstümmelung ganzer Dateien führen können.

Die Daten werden in Tabellenform dargestellt, auf Wunsch auch in Formularen, die der Anwender frei gestalten kann. Ein Formular, erlaubt dabei sogar die Darstellung oder Eingabe von Datensätzen in verschieden Tabellen gleichzeitig. Verzwickte Abfragen, auch über mehrere verknüpfte Dateien hinweg, lassen sich ohne große Mühe erstellen. Abfrage durch Beispiel (QBE) heißt hier das Zauberwort: Der Benutzer schreibt in eine Abfragetabelle ein Beispiel der gewünschten Antwort – Paradox erledigt den Rest.

Das Programm übernimmt auf Wunsch auch die Übersetzung in die professionelle SQL-Sprache und erlaubt damit selbst Anfängern die Nutzung der meisten kommerziellen Datenbanken. Das Ergebnis jeder Abfrage wird automatisch in einer Antworttabelle gespeichert, aus der sich durch Knopfdruck ein Report oder eine Grafik zaubern lässt. Bei letzterer ist Paradox der Konkurrenz haushoch überlegen: Außer der Wahl zwischen zehn verschiedenen Grafiktypen hat man die volle Kontrolle über Titel, Farben, Achsen und Skalierung.

Für Profis, denen an das nicht genügt, stehen „natürlich“ auch noch Makros, ein Anwendungsgenerator, und die hochentwickelte Programmiersprache PAL zur Verfügung. Paradox begnügt sich mit 512 KB und benötigt eine Festplatte.

Paradox 3.0; Borland GmbH; für IBM-PC und PS/2-Computer und Kompatible; 2451 Mark.

(erschienen in der WELT am 4. April 1990)

Was ist daraus geworden? Habe ein wenig herumgesucht und festgestellt, dass die Firma Corel das Programm zuletzt in der Version 11 vertrieben hat. Aktuell gibt es auf deren Webseiten jedoch keine Hinweise, sodass zu befürchten ist, dass auch diese einstmals führende Software gerade an Altersschwäche stirbt.