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Wie Japan seine Umwelt schützt

Seveso, Bhopal, Tschernobyl – in Japan heißt das Synonym für Umweltkatastrophe Minamata. In den frühen fünfziger Jahren starben in der gleichnamigen Bucht vor dem Distrikt Kumamoto erst die Fische, dann die Katzen. Die Warnzeichen blieben unbeachtet; erst Jahre darauf erkrankten die ersten Menschen. „Hirnschäden unbekannter Herkunft“ lautete die Diagnose; schockierende Bilder gingen um die Welt.

Erst 1968, also zwölf Jahre nach dem Auftreten der ersten Fälle, gab die Regierung offiziell zu Protokoll, daß es sich bei der Minamata-Krankheit um eine schwerwiegende Quecksilbervergiftung handelt, hervorgerufen durch die Abwässer einer nahegelegenen Chemiefabrik.

Die Tatsache, daß Japan mit seinen 120 Millionen Einwohnern heute auf dem Gebiet des Umweltschutzes beträchtliche Erfolge vorzuweisen hat, mag für die 2900 anerkannten langzeitgeschädigten Anwohner von Minamata nur ein kleiner Trost sein. Dennoch steht fest: Im Land der aufgehenden Sonne wird der Himmel nur noch in seltenen Ausnahmen von Schmutzwolken verschleiert, die großen Umweltskandale sind Geschichte. Wie kein anderes Land hat Japan es verstanden, seit den siebziger Jahren das Wirtschaftswachstum vom Energieverbrauch zu entkoppeln.

Der Schadstoffausstoß für die weitaus meisten Umweltgifte konnte drastisch reduziert werden, gleichzeitig erklommen die einheimischen Multis Spitzenpositionen im internationalen Wettbewerb. Im Großraum Tokyo leben fast 30 Millionen Einwohner auf engstem Raum. Nirgendwo sonst verursachen so viele Menschen so wenige Umweltschäden. Meßbar sind diese Erfolge nicht zuletzt an der Lebenserwartung: Für Männer liegt sie bei  76, für Frauen gar bei 82 Jahren, in Deutschland sind es jeweils vier Jahre weniger.

Die Zahlen sprechen für sich: Heute verbraucht der Durchschnittsjapaner nicht einmal die Hälfte der Energie, die ein Amerikaner benötigt; sein Durchschnittseinkommen ist aber deutlich höher. Unter allen Industrienationen erwirtschaftet Japan am meisten Güter aus jedem verbrauchten Liter Öl. Kohle- und Ölkraftwerke, von denen das rohstoffarme Land nach wie vor den Großteil seiner Energie bezieht, waren ebenso wie die Chemiekonzerne gezwungen worden, strenge Auflagen einzuhalten.

Der Antrieb für die japanische Industrie kommt dabei weniger durch die Angst vor Bußgeldern zustande, obwohl auch dies in seltenen Fällen vorkommt. Ein Sprecher des Umweltministeriums erklärte auf eine entsprechende Nachfrage lächelnd: „Sie verlieren ihr Gesicht, wenn sie vor Gericht gestellt werden – und das genügt.“

Doch auch hier ist nicht alles Gold, was glänzt. Während in Deutschland und den Vereinigten Staaten jeweils über 500 Substanzen, die als gefährlich eingestuft werden, strengen gesetzlichen Bestimmungen unterliegen, sind es in Japan gerade zehn. Was das bedeutet, erklärte Dr. Masatoshi Morita, einer der führenden Wissenschaftler am Nationalen Zentrum für Umweltstudien: „Wenn man in Japan erst einmal die Voraussetzungen geschaffen hat, um die Umwelt nach Dioxinen abzusuchen, sind wir um ein Problem reicher.“

(erschienen in „DIE WELT“ am 3. Juli 1992. Die mehrtägige Informationsreise erfolgte auf Einladung und auf Kosten der japanischen Regierung.)

Richard Ernst: Nobelpreis für die NMR-Spektroskopie

Richard Ernst, der diesjährige Nobelpreisträger für Chemie, war unmittelbar nach der Bekanntgabe des schwedischen Karolinska-Instituts auch für die eifrigsten Pressevertreter nicht zu erreichen. Der Grund: der 58jährige Schweizer befand sich gerade in der Luft, irgendwo zwischen Moskau und New York. Ernst, der an der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich als Professor für Physikalische Chemie tätig ist, will in New York an der Columbia-Universität eine weitere Auszeichnung entgegennehmen.

In der Begründung des Nobelpreiskomitees heißt es, Ernst erhalte die Auszeichnung, die in diesem Jahr mit 1,65 Millionen Mark dotiert ist, für die Entwicklung der „kraftvollsten instrumentalen Meßmethode in der Chemie“. Gemeint ist damit die NMR-Spektroskopie, eine Methode, mit der die Lage einzelner Atomkerne innerhalb eines Moleküls bestimmt werden kann.

Die Kernspinresonanzspektroskopie– so der ungekürzte Name – erlaubt es auch, die Struktur von Molekülen in einer Lösung zu bestimmen. Dies ist deshalb von besonderer Bedeutung, weil viele der biologisch aktiven Substanzen, für die Mediziner und Biochemiker sich heute besonders interessieren, normalerweise in wässriger Lösung vorliegen.

Auch die Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Molekülarten und die Bewegung dieser winzigen Teilchen lassen sich mit Hilfe der NMR-Spektroskopie beobachten. Schließlich können die Chemiker aus den so gewonnen Daten Rückschlüsse ziehen, die es ihnen erlauben, die Geschwindigkeit chemischer Reaktionen abzuschätzen.

Ernst, der als letzter der diesjährigen Nobelpreisträger nominiert wurde, ist bereits der 22. Schweizer, der diese höchste aller wissenschaftlichen Auszeichnungen erhält. Sämtliche Nobelpreise in den Naturwissenschaften gehen damit in diesem Jahr an europäische Forscher, die sonst so dominanten Amerikaner gehen zum ersten Mal seit 1970 leer aus.

In Winterthur zeigte sich die Ehefrau des frischgekürten Preisträgers zwar überrascht, meinte allerdings auch, die Nobel-Vergabe kommen nicht ganz so unerwartet. Der Architektensohn Ernst hatte bereits seine Doktorarbeit an der renommierten Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) in Zürich über Kernresonanzspektroskopie geschrieben.

„Die Kernresonanzspektroskopie hat in den letzten 20 Jahren eine erstaunliche Entwicklung erlebt“, erläuterte der Physiker kürzlich vor Kollegen. In der Tat habe sie sich von einer recht nützlichen, beschränkt einsetzbaren analytischen Methode zu der wohl leistungsfähigsten molekularen Untersuchungsmethode überhaupt in den verschiedensten Disziplinen von der Physik bis hin zu der Medizin ausgeweitet.

Vor der Entwicklung der Kernspinresonanz war man darauf angewiesen, Kristalle derjenigen Moleküle herzustellen, die man untersuchen wollte, und diese Moleküle mit Röntgenstrahlen zu analysieren. Zum Leidwesen der Chemiker schließen sich aber nur verhältnismäßig einfache Moleküle zu den regelmäßigen Gittern eines Kristalls zusammen. Ein weiterer Nachteil dieser Röntgenstrukturanalyse besteht darin, daß gerade biologisch aktive Substanzen im Kristall oft nicht ihre „natürliche“ Form einnehmen. Aussagen über die Funktion dieser Stoffe etwa im menschlichen Körper waren daher nur in engen Grenzen möglich.

Auch als die beiden Amerikaner Felix Bloch und Edward Mills Purcell 1945 erstmals über erfolgreiche NMR-Experimente berichteten, war dies noch nicht möglich. Dennoch wurde auch die eigentliche Entdeckung, daß man mit Hilfe von Radiowellen Aufschluß über die Lage von Atomkernen bekommen kann, mit einem Nobelpreis ausgezeichnet.

Für die Anwendung auch in der Physik, der Biologie und der Medizin wurde die NMR-Spektroskopie aber erst interessant, nachdem Ernst 1966 einen mathematischen Trick fand, um die Empfindlichkeit der Methode zehn- bis hundertfach zu verbessern. Nur wenige Jahre später gelang es ihm, auch die Auflösung zu steigern. Immer feinere Details der Moleküle konnten jetzt analysiert werden. Damit nicht genug: Mitte der 70er Jahre schlug Ernst auch eine Methode für den Empfang NMR-tomographischer Bilder vor, die große Verbreitung fand. Sowohl zur Steigerung der Empfindlichkeit als auch der Auflösung hat Ernst „mehr beigetragen als jeder andere“ befand das Nobelpreiskomitee.

Wenn heute beispielsweise der Stoffwechsel im menschlichen Gehirn mittels eines Computers sichtbar gemacht werden kann, werden wohl die wenigsten Patienten an die Prinzipien der NMR-Spektroskopie denken. Und doch verdanken sie den bahnbrechenden Arbeiten des Schweizers eines der modernsten Diagnosegeräte, das heute zum Einsatz kommt.

(erschienen in „DIE WELT“ am 17. Oktober 1991 unter dem Titel „Eine Brille enthüllt tanzende Moleküle“)

Verbrennung ohne Schadstoffe?

Wenn Professor Jürgen Warnatz, Direktor des Institutes für technische Verbrennung an der Universität Stuttgart, seine Arbeit beschreibt, hört sich das so an: „Flammen sind äußerst komplizierte dreidimensionale, zeitabhängige, physikalisch-chemische Systeme, in denen sich ständig unterschiedlichste Reaktionen überlagern.“ Kein Wunder also, daß Warnatz zur Untersuchung von Verbrennungsvorgängen auf die Hilfe eines Supercomputers angewiesen ist. Wenn dieser beispielsweise die Verbrennung des einfachen Moleküls Methan (CH4) simuliert, werden vierhundert verschiedene Reaktionen und vierzig Zwischenprodukte erfaßt.

Damit bietet das Elektronenhirn erhebliche Vorteile gegenüber der klassischen Chemie, in der meist nur Anfangs- und Endprodukt berücksichtigt werden können. In der Computersimulation können Brennstoffgemisch, Druck und Temperatur unabhängig voneinander variiert und berechnet werden; zeitraubende Versuche werden überflüssig. Die praktischen Konsequenzen dieser Forschung liegen auf der Hand: Die optimalen Verbrennungsbedingungen für Gas, Öl und Kohle lassen sich erstmals berechnen, schädliche Nebenprodukte können vermindert werden.

„Wir sind auf dem Weg zu einer Energiegewinnung mit hohem Wirkungsgrad bei gleichzeitig geringer Schadstoffemission“, sagt Warnatz. Dieses Ziel wurde in der Kraftwerkstechnik bisher verfehlt; es galt als unmöglich, beide Vorteile zu vereinen. Denn um eine hohe Energieausbeute zu erzielen, müssen Verbrennungen bei hoher Temperatur erfolgen, wodurch der Anteil an unverbrannten Kohlenwasserstoffen und Stickoxiden ansteigt.

Die Einsatzmöglichkeiten der Computersimulation sind damit aber noch nicht erschöpft: In Automotoren, Heizungsanlagen, Flugzeugturbinen, ja sogar bei der umstrittenen Müllverbrennung könnten die freigesetzten Schadstoffe reduziert werden, wenn es den Forschern gelänge, Druck, Temperatur und Brennstoffgemisch optimal aufeinander abzustimmen. Dies wäre ökologisch und wirtschaftlich sinnvoller, als die entstehenden Abgase mit immer besseren und aufwendigeren Filtern zu reinigen.

(erschienen in „DIE WELT“ am 5. April 1991)

„Meisterleistung der organischen Synthese“

Der mit vier Millionen Kronen (umgerechnet etwa 1,07 Millionen Mark) dotierte Nobelpreis für Chemie geht in diesem Jahr an den US-Amerikaner Elias James Corey. Die Königliche Schwedische Akademie der Wissenschaften würdigte damit die „Meisterleistung bei der Entwicklung der organischen Synthese“ des 62jährigen Corey, der an der Harvard-Universität in Cambridge im US-Bundesstaat Massachusetts lehrt.

Der Nobelpreisträger Elias James Corey in einem Porträt aus dem Jahr 2007 (Von Trvthchem personal photo – Eigenes Werk, CC0, via Wikipedia)

In der Begründung der Akademie heißt es, weiter: „Die Entwicklung der Kunst organischer Synthese während der letzten 100 Jahre hat zu effektiven industriellen Methoden der Herstellung von Plasten und anderen Kunstfibern, Lacken und Farben, Unkraut- und Insektenbekämpfungsmitteln, sowie von Vitaminen und Arzneimitteln geführt. Sie hat in hohem Maße zu hohem Lebensstandard, guter Gesundheit und langem Leben beigetragen, wie sie zumindest die westliche Welt genießt.“

Der Preisträger, mit über 650 wissenschaftlichen Beiträgen in der Fachliteratur kein Unbekannter, habe mit seinen Arbeiten Wegweisendes bei der Entwicklung und Herstellung biologisch aktiver Produkte geleistet, die zum Beispiel als Heilmittel eingesetzt werden.

Der Hintergrund für Coreys Erfolge liegt darin, dass er mit strikter Logik die Grundlagen der sogenannten retrosynthetischen Analyse entwickelt hat. Dies bedeutet, dass man von der gedachten Struktur eines Moleküls ausgeht, das man herstellen möchte. Dabei wird festgelegt, welche Verbindungen getrennt werden sollen, und dann ihre Struktur Schritt für Schritt vereinfacht. „Dabei wird man entdecken, dass gewisse Bruchstücke bereits bekannt sind bzw. ihre Struktur und Synthese beschrieben worden ist“, so das Komitee.

Wenn man auf diese Art und Weise in der Analyse gewissermaßen rückwärts von einer komplexen Struktur zu bereits bekannten geschritten ist, kann man damit beginnen, das Molekül aufzubauen, es zu synthetisieren. Es hat sich gezeigt, dass sich diese Methode ausgezeichnet für die Bearbeitung im Computer eignet, was zu einem kräftigen Schub bei der Planung von Synthesen geführt hat.

(erschienen in der WELT am 18. Oktober 1990. Letzte Aktualisierung am 16. April 2017)

Was ist daraus geworden? Corey war auch nach dem Nobelpreis fleißig; die Zahl seiner Publikationen stieg auf über 1000. Damit sei er einer der meistzitierten Wissenschafter, heißt es auf der Webseite der Harvard Universität, wo Corey mittlerweile emeritiert ist. Zusätzlich hat er mehrere Bücher geschrieben, darunter „The Logic of Chemical Synthesis„, „Molecules and Medicine„, und „Enantioselective Chemical Synthesis„.

Chemiker entdecken die Chaosforschung

Chaos im Reagenzglas? Eine chemische Reaktion, die scheinbar ziellos mal in die eine, mal in die andere Richtung läuft? Die Beobachtung des Sowjetrussen Boris Belousow schien grundlegenden Naturgesetzen zu widersprechen. Sein Cocktail aus Schwefel und Malonsäure, Bromidionen und Cersulfat funktionierte als „chemisches Pendel“: Bei Zugabe des Farbstoffes Ferroin färbte sich die Lösung abwechselnd blau und rostrot – ein Schauspiel, das sich über Stunden hinzog.

Als Belousow vor 30 Jahren seine Kollegen auf dieses spektakuläre Verhalten aufmerksam machen wollte, schenkte man ihm keine Beachtung. Fachzeitschriften lehnten seine „angebliche“ Entdeckung als Hirngespinst ab. Erst 1964 – nach dem Tod des unglücklichen Belousow – konnte Anatoli Schabotinski beweisen, dass die Reaktion „echt“ war.

Die B-Z-Reaktion wird auch heute noch heiß diskutiert. Sie bietet ein gutes Beispiel für Rückkoppelung: Die zuerst gebildeten Reaktionsprodukte beeinflussen den weiteren Verlauf des Experimentes. Wenn man in einem Reaktionsgefäß nun ständig neue Chemikalien zugibt und gleichzeitig die Reaktionsprodukte entfernt, hat man fast schon ein Modell für eine lebende Zelle. Interessanterweise kann man jetzt die Konzentration der „Nährstoffe“ und die Durchflussgeschwindigkeit so einstellen, dass die periodischen Farbumschläge der B-Z-Reaktion immer unregelmäßiger werden und schließlich ins Chaos münden.

Diese Übergangsphase spielt sicher auch in der belebten Natur eine wichtige Rolle. Denn obwohl Ökosysteme und innere Uhren, Herzschlag und Stoffwechsel durch Rückkoppelung stabilisiert werden, kann eine winzige Störung oft fatale Folgen haben. Chemische Reaktionen eignen sich besonders als Modelle für die Entstehung von Chaos, weil die Ausgangsbedingungen eines Experimentes genau eingestellt werden können.

Beispiel für eine fraktale Reaktion: Das „Apfelmännchen“ (Verm. von Fedi CC-BY-SA-3.0 )

Umgekehrt profitiert auch die Chemie von den Erkenntnissen der Chaosforschung. Synthetische Polymere etwa, die Oberflächen von Katalysatoren und sogar die hochkomplizierten Eiweißmoleküle weisen eine Art von Ordnung auf, die erst durch die Entdeckung des amerikanischen Mathematikers Benoit Mandelbrot sichtbar wurde. All diese Systeme sind nämlich „selbstähnlich“.

Die Chaosforschung benutzt diesen Begriff, um deutlich zu machen, dass ein Teil des Ganzen bei entsprechender Vergrößerung so aussieht wie das Ganze. Ein anschauliches Beispiel ist die Struktur eines Baumes, von dem zunächst große Äste abzweigen. Betrachtet man einen Ast, so stellt man fest, dass dieser sich auf identische Weise in einzelne Zweige gliedert. Diese Verästelung setzt sich dann buchstäblich bis in die Blattspitzen fort, wo das gleiche Ordnungsprinzip den An- und Abtransport von Nähr- und Schadstoffen regelt.

Die Selbstähnlichkeit lässt sich nun in Zahlen (Fraktale) fassen, mit denen sich rechnen lässt. Ein spektakuläres Produkt dieser Art von Mathematik sind faszinierende Computergrafiken wie das berühmte „Apfelmännchen“. Die „fraktale Dimension“ lässt sich aber auch als Maß für die versteckte Symmetrie unregelmäßiger Materialien nutzen. Während eine Fläche die Dimension zwei, ein Raum die Dimension drei besitzt, findet man im Experiment beispielsweise für die Oberfläche von Aktivkohle einen Wert von 2,34.

Oft reicht die Kenntnis der fraktalen Dimension aus, um das Verhalten von Molekülen an der jeweiligen Oberfläche vorauszusagen. Die Gesetzmäßigkeiten, die für chemische Reaktionen in Lösung gelten, verlieren nämlich teilweise ihre Gültigkeit, wenn die Prozesse auf fraktalen Strukturen stattfinden. Mit Hilfe der fraktalen Dimension können die Experten beispielsweise Berechnungen über Reaktion und Transport von Schadstoffen im Platin-Katalysator anstellen, ohne dessen genaue Oberflächenstruktur zu kennen.

Auch für verschiedene „Biokatalysatoren“, für Eiweißstoffe also, wurde im Computerexperiment bereits die fraktale Dimension bestimmt. Sie liegt meist um 2,2, was einem ziemlich lockeren Aufbau entspricht. Berechnungen deuten darauf hin, dass dieser verhältnismäßig hohe Wert eine Voraussetzung für die schnelle Arbeit dieser Makromoleküle darstellt. Während die Analyse fraktaler Strukturen in der Chemie schon weit fortgeschritten ist, steckt die Produktion noch in den Kinderschuhen. An dieser Front ist noch wahre Pionierarbeit zu leisten.

(erschienen in der WELT vom 6. August 1990)

„Oostzee“: Nach Unfall schärfere Vorschriften?

Der Frachter „Oostzee„, auf dem es nach einem Seeunfall zur Freisetzung der krebserzeugenden Chemikalie Epichlorhydrin kam, wird nach erfolgter Entsorgung heute von Brunsbüttel aus seine Rückreise nach Rotterdam antreten. Über mögliche Konsequenzen der jüngsten Serie von Giftfrachtunfällen berichteten Expertengestern vor der Wissenschaftspressekonferenz in Bonn. Wie Ministerialdirektor Christoph Hinz vom Bundesministerium für Verkehr mitteilte, werde sein Haus eine Überprüfung einleiten, um festzustellen, ob internationale Gefahrgutvorschriften eingehalten worden seien, und diese gegebenenfalls verschärft werden müssten.

Bei Beachtung der Vorschriften zum Transport von Epichlorhydrin wäre der Unfall nach menschlichem Ermessen ausgeschlossen gewesen. Die Weltschifffahrtsorganisation, so Hinz, befasse sich zurzeit mit einem Übereinkommen für den Transport von Chemikalien als Massengut auf dem Seeweg, wie es für Öl bereits existiert.

Als Ursache des Unglücks, bei dem keine Menschen zu Schaden kamen, nannte Günter Hollmann, Mitglied des Krisenstabes „Oostzee“, die unsachgemäße Lagerung der Giftfässer, die entgegen den Vorschriften direkt auf dem Schiffsboden aufgestellt worden waren. Auch seien die Fässer nicht richtig gestapelt gewesen. Leergefäße sind bei schwerem Seegangzusammengedrückt worden und hatten dadurch das Verrutschen der Ladung ermöglicht.

Michael Hegenauer vom Verband der Chemischen Industrie hält eine Erweiterung der Gesetze zum Gefahrguttransport auf See nicht für nötig. Christoph Thies, der für Greenpeace als zeitweiliger Beobachter im Krisenstab war, betonte hingegen, das Beispiel Oostzee habe gezeigt, dass derartige Ereignisse prinzipiell nicht beherrschbar seien. Er plädierte dafür, durch eine Erhöhung der Transportkosten die Gefahrgüter auf kürzere und ungefährlichere Wege zu zwingen. Nur so könne erreicht werden, dass die Käufer solcher Güter sich nach dem nächstgelegenen Hersteller richteten und nicht nach dem billigsten.

(erschienen in der WELT am 9. August 1989)

59-info@2xWas ist daraus geworden? Unter den vielen Unfällen auf See sorgte dieser für besondere Aufregung, obwohl zumindest unmittelbar keine Menschen zu Schade kamen. Unter anderem berichteten damals auch der Spiegel und die Zeit. Zehn Jahre später wurden mehrere Krebserkrankungen und Todesfälle mit der Katastrophe in Verbindung gebracht, heißt es in einem Artikel der WELT. Laut einem Rückblick von Eige Wiese, der 2014 im Hamburger Abendblatt erschienen ist, hat die schleswig-holsteinische Landesregierung mittlerweile in Zusammenhang mit der „Oostzee“ allein 17 anerkannte Dienstunfälle bei Polizisten eingeräumt. Die Witwen zweier Wasserschutzbeamten, die an seltenen Krebserkrankungen verstorben waren, hätten jahrelang auf Entschädigung geklagt. Um auf ähnliche Katastrophen künftig besser vorbereitet zu sein, hatte das Verkehrsministerium seinerzeit den Auftrag zur Konstruktion spezieller Bergungsschiffe erteilt, auf denen vor allem die Rettungsmannschaften bei ihrer Arbeit besser geschützt sind. Vier solcher Schiffe sind mittlerweile im Dienst. Außerdem, berichtet Wiese, hätten 13 Feuerwehren in norddeutschen Küstenländern spezielle Teams für die Bekämpfung solcher Unfälle gebildet, die alle die gleiche Ausbildung erhalten haben und die gleichen Geräte benutzen.