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Müdigkeit mit Nervenstimulator verringert

Forschern der US-Luftwaffe ist es gelungen, mit einem Nervenstimulator die Übermüdung freiwilliger Versuchspersonen nach einer durchwachten Nacht zu lindern. Sie benutzten dazu ein Gerät von der Größe eines Rasierapparates, das an den Hals gehalten wird und mit winzigen Stromschlägen den unter der Haut verlaufenden Vagusnerv anregt. Über die von der US-Raumfahrtbehörde NASA finanzierte Studie berichtete kürzlich das Fachblatt Communications Biology.

In dem Artikel verweisen die Wissenschaftler darauf, dass Müdigkeit („Fatigue“) nicht nur ein weit verbreitetes Gesundheitsproblem sei, sondern auch ein Sicherheitsrisiko, wenn sie beispielsweise bei Ärzten oder Schichtarbeitern zu Fehlern führt. Ausdrücklich erwähnen die Forscher auch, dass ihre Arbeit für Gesunde gedacht sei, um deren Leistung zu steigern.

Dazu testeten sie an 40 Militärangehörigen ein Gerät namens gammaCore, das in Europa seit dem Jahr 2016 zur Behandlung der besonders bösartigen Cluster-Kopfschmerzen zugelassen ist und mittlerweile auch gegen Migräneattacken zum Einsatz kommt. In Deutschland wird es für diese Zwecke zum Preis von etwa 260 Euro vertrieben, die allerdings nicht von allen Krankenkassen erstattet werden.

Grundlage der aktuellen Studie sind Forschungen, die bis in die 1980er Jahre zurückreichen, und bei denen man versucht hat, die Krampfanfälle von Epilepsie-Patienten durch die elektrische Stimulation des Vagusnervs zu kontrollieren. Als eine Nebenwirkung dieser Therapie waren damals bei einigen Patienten weniger Schmerzen beobachtet worden. In anderen Studien bei Menschen und Tieren hatte sich vorübergehend das Gedächtnis gebessert.

Der Vagusnerv erstreckt sich vom Magen bis ins Gehirn und erreicht mit seinen vielen Verzweigungen fast alle Organe. Einige Fasern verlaufen zu dem im Hirnstamm gelegenen Locus coeruleus, der wiederum die Großhirnrinde mit dem anregenden Botenstoff Norepinephrin versorgt.

Für ihren Versuch teilten die Forscher die freiwilligen Teilnehmer in zwei Gruppen. Beide Gruppen blieben jeweils 34 Stunden wach und wurden währenddessen wiederholt auf ihre geistige Leistungsfähigkeit, Konzentration und Reaktionsgeschwindigkeit getestet, sowie außerdem nach ihrer Stimmung befragt und wie müde sie sich fühlten. Nach 12 Stunden bekamen die Probanden die Geräte und die Anweisung, sich selbst im Nacken für jeweils 8 Minuten zu stimulieren. In einer der Gruppen, die als Kontrolle diente, war das Gerät allerdings so eingestellt, dass kein Strom floss und somit auch keine Wirkung zu erwarten war.

Das Ergebnis war, dass die tatsächlich stimulierten Probanden in den Tests zur Aufmerksamkeit und zur Multi-Tasking-Fähigkeit (Air Force–Multi-Attribute Task Battery) deutlich besser abschnitten als die Scheinstimulierten. Die erste Gruppe verspürte auch weniger Fatigue und mehr Energie als die Kontrollgruppe. Am ausgeprägtesten war der Effekt am Morgen zwischen 7:00 und 10:00, etwa 13 Stunden nach der am Vorabend erfolgten Stimulation. Etwa 19 Stunden lang waren die Unterschiede zwischen den Gruppen nachweisbar, danach war die Leistungsfähigkeit wieder annähernd gleich.

Die absoluten Unterschiede waren indes nicht besonders groß: In der aktiven Gruppe nahm die Leistung um 5 Prozent ab, unter den Scheinstimulierten dagegen um 15 Prozent. In Berufen, wo Fehler durch Müdigkeit über Leben und Tod entscheiden können, oder auch für Studenten im Prüfungsstress mag der Nervenstimulator auf den ersten Blick dennoch eine verlockende Möglichkeit zur Leistungssteigerung sein. Vermutlich wird die Studie auch in militärischen Kreisen für Aufmerksamkeit sorgen, zumal es beispielsweise bei der US-Luftwaffe durchaus üblich ist, Kampfpiloten Amphetamine als Aufputschmittel zu geben. Dort wird man allerdings auch bemerkt haben, dass es keine aktive Vergleichsgruppe gab. Ob die neue Methode die Aufmerksamkeit übermüdeter Personen besser zu bewahren vermag als beispielsweise einige Tassen Kaffee ist somit noch ungeklärt.

Quelle

McIntire LK et al.: Cervical transcutaneous vagal nerve stimulation (ctVNS) improves human cognitive performance under sleep deprivation stress. Commun Biol. 2021 Jun 10;4(1):634. doi: 1038/s42003-021-02145-7.

weitere Infos:

Vagusnerv bei Wikipedia

Wirkung bei Clusterkopfschmerzen: Marin J et al.: Non-invasive vagus nerve stimulation for treatment of cluster headache: early UK clinical experience. J Headache Pain. 2018 Nov 23;19(1):114. doi: 10.1186/s10194-018-0936-1.

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Gewalt als Folge einer Kopfverletzung?

Dass gewalttätige Menschen häufiger im Gefängnis landen als friedliche Zeitgenossen dürfte niemanden überraschen. Die Frage, warum jemand eine Körperverletzung begeht, ist aber nicht so einfach zu beantworten. In der Fachzeitschrift Lancet Psychiatry haben Wissenschaftler nun eine Studie veröffentlicht, wonach Frauen, die in schottischen Gefängnissen einsitzen, extrem häufig Kopfverletzungen erlitten haben. Und eben diese Frauen hatten eindeutig häufiger eine Vorgeschichte gewaltsamer Straftaten als andere Insassen ohne Kopfverletzungen.

Im Detail hatten die Forscher die 109 freiwilligen Studienteilnehmerinnen erst gründlich untersucht, und dann in einem Interview befragt. Dabei stellte sich heraus, dass 85 dieser Frauen – also fast 80 Prozent – nach eigenen Angaben in ihrem Vorleben signifikante Kopfverletzungen mit vorübergehender Bewusstlosigkeit erlitten hatten, 71 davon sogar mehrfach, und bei 34 hatte dies zu einer bleibenden Behinderung geführt. Die meisten Verletzungen waren auf häusliche Gewalt zurückzuführen, viele Frauen waren außerdem als Kinder oder Erwachsene misshandelt worden.

Der wichtigste Befund der Studie aber lautet, dass die Frauen mit Kopfverletzungen eindeutiger häufiger Gewalt angewandt hatten. Die Wahrscheinlichkeit dafür war bei ihnen mehr als drei Mal so hoch, wie bei Frauen ohne Kopfverletzungen, und sie saßen dafür im Durchschnitt auch länger im Gefängnis.

Die Untersuchung wurde von der schottischen Regierung finanziert und kommt zu dem Schluss, dass Kopfverletzungen in der Vorgeschichte bei der Entwicklung einer gerechteren Strafordnung berücksichtigt werden sollten.

Quelle:

McMillan TM et al.: Associations between significant head injury and persisting disability and violent crime in women in prison in Scotland, UK: a cross-sectional study. Lancet Psychiatry. 2021 Jun;8(6):512-520. doi: 10.1016/S2215-0366(21)00082-1.

Ganz kurz: Übergewicht und Demenz

Erkranken dicke Frauen häufiger an einer Demenz? Diese Frage haben sich Forscher um Sarah Floud vom Nuffield Department of Population Health an der Universität Oxford vorgenommen, und dafür Daten aus der „Million Women Study“ angeschaut. Wie der Name schon sagt haben daran – in den Jahren 1996 bis 2001 – mehr als eine Million Frauen in Großbritannien teilgenommen, die zwischen 50 und 64 Jahre alt waren.

Heraus kam, dass in der Tat Frauen, die im mittleren Lebensabschnitt stark übergewichtig sind, ein mäßig erhöhtes Risiko haben, später an einer Demenz, wie z.B. Alzheimer zu erkranken. Wegen der großen Zahl der Teilnehmerinnen und der langen Beobachtungszeit (durchschnittlich 18 Jahre) darf man mit großer Sicherheit davon ausgehen, dass dieses Ergebnis „real“ ist, also nicht auf zufälligen Schwankungen oder Fehlern bei der Analyse beruht.

Was wurde gemessen? Erst Mal der Body-Mass-Index (BMI), der das Körpergewicht im Verhältnis zur Größe angibt. Normal sind 18,5 bis 24,9, darüber beginnt das Übergewicht, und ab einem Wert von 30 spricht man von Adipositas (auf deutsch: Fettleibigkeit). Erfasst wurde außerdem, wieviel die Frauen sich bewegt haben, und für mehr als die Hälfte auch das Essverhalten.

Unter den 18695 Frauen, die in dieser Untersuchung später an Demenz erkrankten, waren solche mit einem (früheren) BMI über 30 eindeutig gehäuft vertreten. Das Risiko für diese, stark übergewichtigen, Frauen war aber „nur“ um 21 Prozent erhöht gegenüber jenen, deren Gewicht normal war.

Ob das Übergewicht auch die Ursache der Demenz war, ist mit solch einer Studie allerdings nicht zu beweisen. Möglich ist auch, dass die Fettleibigkeit andere Vorgänge im Körper widerspiegelt (wie beispielsweise erhöhte Blutfettwerte, die zu einer Arterienverkalkung führen, die wiederum als Ursache von Demenzen anerkannt ist).

Übrigens spielten die anderen Punkte langfristig offenbar keine Rolle: Weder wirkte sich die Kalorienaufnahme auf das Demenzrisiko aus, noch war es bei jenen erhöht, die sich weniger als ein Mal pro Woche körperlich betätigt hatten.

Quelle:
Floud S, Simpson RF, Balkwill A, et al. Body mass index, diet, physical inactivity, and the incidence of dementia in 1 million UK women. Neurology. 2019;10.1212/WNL.0000000000008779. doi:10.1212/WNL.0000000000008779.

Finanzierung: UK Medical Research Council, Cancer Research UK.

(Publikumsversion eines nur für Ärzte zugänglichen Fachartikels für Univadis.de, erschienen am 3. Januar 2020)

Maschine konserviert Schweinehirn

Ganz schön gruselig wirkt auf den ersten Blick eine Reihe von Experimenten, über die der Neuroforscher Professor Nenad Sestan von der Yale School of Medicine und seine Kollegen in der Fachzeitschrift Nature berichten: Von Dutzenden abgetrennten Schweineköpfen ist da die Rede, die noch vor Ort in der Schlachterei präpariert und später im Labor an eine hochkomplizierte Maschine („BrainEx“) angeschlossen wurden. Zweck der Übung war es, die Gehirne der Tiere möglichst lange funktionsfähig zu halten – und dies ist den Forschern auf spektakuläre Weise gelungen.

Jeweils etwa vier Stunden vergingen vom Zeitpunkt der Schlachtung bis ein Team von Neurochirurgen die Gehirne über die Karotisarterien an BrainEx angeschlossen hatte. Diese Maschine, bestehend aus mehreren Pumpen und Sensoren, einem Filtersystem für Blutschadstoffe, einem Pulsgenerator und einer Temperatursteuerung, übernahm dann für bis zu sechs Stunden die Aufgabe des nicht mehr existenten Schweinekörpers. An dessen Stelle durchspülte die Maschine das Schweinehirn mit einer speziellen Nährflüssigkeit, die ebenfalls für diese Versuche entwickelt worden war.

Wohl niemals zuvor ist es gelungen, ein derart großes Gehirn über so lange Zeit so gut zu konservieren: Beispielsweise konnten die Forscher zeigen, dass der Sauerstofftransporter Hämoglobin alle Blutgefäße in den abgetrennten Hirnen erreichte. Die Gefäßwände waren außerdem noch in der Lage, sich zusammenzuziehen. Als man nämlich das Medikament Nimodipin ins System spritzte, erhöhte sich der Blutfluss, so wie es auch bei einem gesunden und intakten Gehirn geschieht. Unter dem Mikroskop waren die typischen Strukturen der Nervenzellen und ihre Bestandteile klar zu erkennen, und im Gegensatz zu nicht präparierten Hirnen gab es keine größeren krankhaften Veränderungen. Sogar die Funktionen einzelner Nervenzellen waren intakt, und der Austausch elektrischer Signale funktionierte noch über viele Stunden hinweg. Höhere Hirnaktivitäten, die als Hinweis auf ein Bewusstsein in den isolierten Hirnen dienen könnten, gab es keine. Allerdings ist auch nicht klar, ob die Forscher überhaupt nach solchen Zeichen gesucht haben.

Kaum verwunderlich ist, dass kritische Geister gleich in zwei begleitenden Artikeln nach dem Sinn und der Moral dieser Experimente fragten. Klar ist aber auch, dass es den Wissenschaftlern nicht darum ging, abgetrennte Köpfe „unsterblich“ zu machen oder gar Tote ins Leben zurück zu holen. Vielmehr erlaubt ihre Methode zunächst einmal Untersuchungen, die mit herkömmlichen Arten der Präparation nicht möglich sind. Neben einem neuen Blick auf das Gehirn könnte die „Hirnmaschine“ zudem langfristig  dabei helfen, neue Therapien gegen die Schäden zu entwickeln, im Gehirn nach längerem Sauerstoffmangel entstehen – etwa nach einem Herzinfarkt oder bei Ertrunkenen.

Verselja Z et al.: Restauration of brain circulation and cellular functions hours post-mortem. Nature. 18. April 2019 (online). doi: 10.1038/s41586-019-1099-1.

Strom holt Gedächtnis zurück

Nicht zum ersten Mal ist es gelungen, mit der Methode der transkraniellen Hirnstimulation das Gedächtnis älterer Menschen vorübergehend zu verbessern. Die Arbeit, über die Laborleiter Robert M. G. Reinhart von der Boston University und sein Kollege John A. Nguyen in der Fachzeitschrift Nature Neuroscience berichten, ist dennoch etwas Besonderes, denn die beiden Wissenschaftler haben bei ihren Experimenten offenbar gezielter auf das Arbeitsgedächtnis eingewirkt, als ihre Vorgänger.

Dazu analysierten sie zunächst mithilfe der Elektroenzephalographie (EEG) die Wechselwirkungen zweier Arten von Hirnwellen (Gamma- und Thetawellen) bei jeweils 42 älteren und jüngeren Erwachsenen. Vereinfacht gesagt war ein Ergebnis, dass das Arbeitsgedächtnis umso schlechter war, je weniger gut die beiden Arten von Hirnwellen im Schläfen- und Stirnlappen aufeinander abgestimmt waren.

Diese sogenannte Theta-Gamma-Phasen-Amplituden-Kopplung beeinflussten die Forscher, indem sie durch die Schädeldecke gezielt einen schwachen Wechselstrom schickten. Nach Sitzungen von jeweils 25 Minuten Dauer sollten die Versuchsteilnehmer dann einen Gedächtnistest absolvieren. Während ältere Probanden vor diesem Eingriff noch langsamer waren und mehr Fehler machten als ihre jungen Kollegen, erreichten sie nach der Hirnstimulation genau so gute Ergebnisse wie die (nicht stimulierten) Jungen.

Als mögliche Therapie gegen ernsthafte Gedächtnisprobleme oder gar Demenzerkrankungen eignet sich diese Methode allerdings schon deshalb nicht, weil die Wirkung nur etwa 50 Minuten lang anhielt. Den Forschern ging es vielmehr darum zu zeigen, dass der Verlust von spezifischen Verbindungen zwischen Nervenzellen in der Großhirnrinde verantwortlich sein könnte für den altersbedingten Niedergang der geistigen Leistungen. Vielleicht – so hoffen sie – könnte dies dann auch ein Ansatzpunkt für Therapien der Zukunft sein, die ohne Medikamente funktionieren.

Reinhart RMG, Nguyen JA. Working memory revived in older adults by synchronizing rhythmic brain circuits. Nat Neurosci. 2019 Apr 8. doi: 10.1038/s41593-019-0371-x.

Weniger Behinderungen bei MS-Patienten

Zu den vielen erfreulichen Dingen, über die ich in jüngster Zeit für meinen Kunden Univadis berichten durfte, gehört auch eine neue Studie aus Schweden. Sie zeigt, dass Patienten mit der häufigsten Form der Multiplen Sklerose heutzutage länger mobil bleiben, und weniger schnell Behinderungen erleiden, als noch vor 20 Jahren. Finanziert wurde diese Studie nicht von der Pharmaindustrie, sondern vom Schwedischen Forschungsrat (Vetenskapsrådet) und der Schwedischen Hirn-Stiftung (Hjärnfonden).

Im Gegensatz zu Deutschland sind in Schweden die medizinische Daten aller Einwohner zentral erfasst und für die Forschung leicht zugänglich. Dies hat sich ein Team um Omid Beiki vom Karolinska-Institut in Stockholm zunutze gemacht um zu überprüfen, wie schnell die Patienten in Schweden in der Vergangenheit bestimmte Meilensteine der fortschreitenden Krankheit erreicht haben, und ob es dabei im Laufe der Zeit Veränderungen gab.

Eingeschlossen in die Studie wurden 7331 Patienten, die ihre Diagnose zwischen 1995 und 2010 erhalten hatten, und bei denen die Schwere der Behinderungen durch die Krankheit mindestens zwei Mal bestimmt worden war. Als Maßstab diente eine zehnteilige Skala (EDSS), mit Zwischenstationen wie 4 (kann weniger als 500 Meter ohne Hilfe laufen) oder 7 (ist auf den Rollstuhl angewiesen).

Die gute Nachricht: Patienten mit der häufigsten Form der Krankheit (schubförmig-remittierende Multiple Sklerose, RRMS) erleiden heute weniger schnell anhaltende schweren Behinderungen, als noch vor 10 Jahren. Jahr um Jahr verringerte sich beispielsweise das Risiko, mit EDSS 3,0 eingestuft zu werden (das entspricht einer leichten Behinderung, die Patienten sind aber noch voll gehfähig) um drei Prozent. Für das Erreichen eines EDSS von 6,0 (Patient benötigt Krücken, um mehr als 100 Meter ohne Rast zu gehen) nahm das Risiko sogar um sieben Prozent pro Jahr ab. Dies bedeutet auch, dass beispielsweise von jenen Patienten, die vor 25 Jahren erkrankten, nach 15 Jahren ein höherer Anteil auf den Rollstuhl angewiesen war, als unter den Patienten, die vor 15 Jahren erkrankten.

Die wahrscheinlichste Erklärung für diesen Fortschritt dürfte die Einführung einer Reihe neuer Medikamente gegen die Multiple Sklerose sein, die stärker wirksam sind als die bereits seit 1993 verfügbaren Beta-Interferone. Unterstützt wird diese Vermutung durch einen Vergleich mit der selteneren primär-progredienten Form der Multiplen Sklerose. Hier gibt es noch keine ähnlich wirksamen Medikamente wie für die RRMS, und in der aktuellen Studie waren auch keine Fortschritte bei der Verzögerung des Krankheitsverlaufs zu erkennen.

Beiki O et al.: Changes in the Risk of Reaching Multiple Sclerosis Disability Milestones In Recent Decades: A Nationwide Population-Based Cohort Study in Sweden. JAMA Neurol. 2019 Mar 18. doi: 10.1001/jamaneurol.2019.0

Autismus: Schlaue Brille hilft, Emotionen zu erkennen

Eine neuartige Technik unterstützt autistische Kinder dabei, Gesichtsausdrücke und Emotionen besser zu erkennen. Wie Forscher in der Fachzeitschrift JAMA Pediatrics berichten, haben sie dazu eine App entwickelt, die auf Smartphones läuft und mit einer intelligenten Brille zusammenarbeitet, die von Google bereit gestellt wurde.

Da der Zeitaufwand für das Training und die Kosten relativ gering wären, könnte die Methode nach weiteren Prüfungen als Ergänzung zu üblichen Verhaltenstherapien zum Einsatz kommen, hoffen die Wissenschaftler um Catalin Voss von der Abteilung für Computerwissenschaften der Stanford-Universität.

Die sogenannte „Superpower Glass Intervention“ besteht aus einer „intelligenten“ Brille mit integrierter Kamera, die im Zusammenspiel mit der App auf dem Smartphone die Wahrnehmung von Gesichtern und das Erkennen von Emotionen fördern soll. Getestet wurde sie in einer Studie mit 71 Kindern mit der Diagnose Autismus-Spektrum-Störung. Die meisten waren Jungs, und im Durchschnitt etwas über 8 Jahre alt. Sie wurden in zwei Gruppen aufgeteilt, von denen die eine 15 – 20 Stunden pro Woche eine Verhaltenstherapie bekam.

Zum Vergleich wurden die Familien der anderen Gruppe angewiesen, zusätzlich zu der Verhaltenstherapie vier Mal pro Woche mit der Superpower Glass Intervention für jeweils 20 Minuten zu üben. Die Kinder trugen dabei die Brille und bekamen verschiedene Gesichter mit verschiedenen Eindrücken präsentiert. Um die Erkennung zu erleichtern, gab es gleichzeitig verstärkende soziale Hinweise wie z.B. „Smileys“ und ein Lob vom Computer, wenn die Gesichtsausdrücke richtig zugeordnet wurden.

Zu Beginn der Studie und nach sechs Wochen wurden die Kinder in einem Verhaltenstest und die Eltern zusätzlich per Fragebogen abgefragt. Dabei war die Gruppe der Kinder, die mit der „Smartbrille“ geübt hatte, in alle vier getesteten Bereichen besser. Auf einer Skala – der Vineland Adaptive Behaviours Scale Unterskala für Sozialisierung – war die Überlegenheit besonders deutlich (statistisch signifikant), was bedeutet, dass dieses Ergebnis sehr wahrscheinlich kein Zufall war.

Laut den Studienautoren ist dies die erste randomisierte klinische Studie, die die Wirksamkeit einer am Leib getragenen digitalen Intervention zur Verbesserung des Sozialverhaltens bei Kindern mit Autismus-Spektrum-Störungen demonstriert. Zwar gibt es die smarte Brille mit dem Lernprogramm noch nicht zu kaufen. Jedoch sind die Forscher zuversichtlich, das diese und ähnliche „digitale Heimtherapien“ eine große Zukunft vor sich haben, weil damit die Behandlungsmöglichkeiten erweitert und mehr Patienten erreicht werden könnten.

Voss C et al.: Effect of Wearable Digital Intervention for Improving Socialization in Children With Autism Spectrum Disorder: A Randomized Clinical Trial. JAMA Pediatr. 2019 Mar 25. doi: 10.1001/jamapediatrics.2019.0285.

Parkinson – Eine Zwischenbilanz

Nur wenige Nervenleiden haben mich so oft beschäftigt wie die Parkinson-Krankheit. Vielleicht wurde mir deshalb die Ehre zuteil, in diesem Jahr mehrere Mitteilungen für die Deutsche Parkinson-Gesellschaft zu verfassen, die kürzlich auf einer Pressekonferenz anlässlich des Welt-Parkinson-Tages verbreitet wurden. Die Originaltexte können Sie direkt dort nachlesen; für diese Seite will ich lediglich ein paar Highlights herausstellen:

Weltweit hat sich die Zahl der Parkinson-Patienten von 2,5 Millionen im Jahr 1990 auf 6,1 Millionen im Jahr 2016 mehr als verdoppelt. Hauptursache dafür ist die zunehmende Alterung der Bevölkerung, für ein Fünftel des Zuwachses haben die Wissenschaftler jedoch keine Erklärung.

Weltweit gingen 2016 durch Parkinson umgerechnet 3,2 Millionen beschwerdefreie Jahre mit guter Lebensqualität (sogenannte DALYs) verloren. Für Deutschland liegen die Schätzungen bei 100.000 DALYs. Die Krankheit forderte zuletzt 200.000 Todesfälle pro Jahr, davon 7.000 in Deutschland.

Zwar gibt es zahlreiche Medikamente, welche die Beschwerden lindern und einem Großteil der Patienten ein Alltagsleben mit nur wenigen Einschränkungen ermöglichen. Eine Heilung ist jedoch nicht möglich.

Viele Forscher hoffen auf eine ursächliche Therapie, bei der bestimmte Proteinablagerungen (Alpha-Synuklein) im Gehirn reduziert werden. „Gelänge es, diesen Prozess zu verhindern, hätten wir damit eine Art Parkinson-Impfstoff geschaffen“, sagte die zweite Vorsitzende der Deutschen-Parkinson-Gesellschaft, Prof. Karla Eggert.

In den beiden großen, internationalen Studien PASADENA und SPARK soll dieses Konzept nun auch mit Beteiligung deutscher Patienten überprüft werden, nachdem erste Versuche in den USA ermutigend verlaufen sind. Vor verfrühten Hoffnungen wird jedoch gewarnt: Erstens wird es noch mindestens 3 Jahre dauern, bis die Ergebnisse vorliegen, und zweitens ist ein ähnlicher Ansatz auch bereits bei der Alzheimer-Krankheit erprobt worden – und dort in mehreren Anläufen gescheitert.

Quellen:

  • GBD 2016 Parkinson’s Disease Collaborators. Global, regional, and national burden of Parkinson’s disease, 1990-2016: a systematic analysis for the Global Burden of Disease Study 2016. Lancet Neurol. 2018 Oct 1. pii: S1474-4422(18)30295-3. doi: 10.1016/S1474-4422(18)30295-3.
  • Jankovic J et al.: Safety and Tolerability of Multiple Ascending Doses of PRX002/RG7935, an Anti-α-Synuclein Monoclonal Antibody, in Patients With Parkinson Disease: A Randomized Clinical Trial. JAMA Neurol. 2018 Oct 1;75(10):1206-1214. doi: 10.1001/jamaneurol.2018.1487.
  • Zella SMA et al.: Emerging Immunotherapies for Parkinson Disease. Neurol Ther. 2018 Dec 11. doi: 10.1007/s40120-018-0122-z.

Fragwürdige Zelltransplantationen gegen ALS

Versuche, die amyotrophe Lateralsklerose (ALS) mit der Transplantation von Stammzellen zu behandeln, könnten bei Patienten übertriebene Hoffnungen wecken, fürchte ich angesichts zweier wenig erfolgreicher Studien in Italien und Tschechien:

Präsentiert wurden beide Studien im Spätjahr 2016 auf der Jahrestagung der US-amerikanischen Society for Neuroscience in San Diego. Insgesamt waren 44 Patienten behandelt worden, allerdings hatte es bei keiner der beiden Studien eine Kontrollgruppe gegeben, mit der sich die erzielten „Erfolge“ hätten vergleichen lassen. Solche randomisierten und placebokontrollierten Studie sind in der Medizin der Goldstandard: Die Patienten werden einer Behandlungsgruppe zugelost und man vergleicht mit der besten verfügbaren Therapie oder einem Scheinmedikament. Dass dies bei den beiden Studien nicht gemacht wurde, mindert die Beweiskraft.

Zellen aus Fehlgeburten isoliert

Die italienische Arbeitsgruppe hatte neuronale Stammzellen aus menschlichen Embryonen gewonnen, deren Mütter eine Fehlgeburt erlitten hatten. Jedem Patient wurden drei Injektionen mit jeweils etwa 50 Millionen der neuronalen Stammzellen ins Rückenmark injiziert. Um eine Abstoßungsreaktion zu verhindern, bekamen die Studienteilnehmer sechs Monate lang Medikamente zur Unterdrückung der Immunantwort.

Zwar gab es keine ernsthaften Nebenwirkungen, jedoch wurde auch der Krankheitsverlauf kaum beeinflusst. Lediglich im Zeitraum von zwei bis vier Monaten nach dem Eingriff hatten elf der 18 Patienten etwas mehr Kraft in Armen und Beinen, als man erwarten durfte. Neun der 18 Patienten waren zum Zeitpunkt der Konferenz bereits an ihrer Krankheit gestorben. Dennoch kündigte Dr. Daniele Ferrari von der Abteilung Biotechnologie und Biowissenschaften der Universität Bicocca, Mailand an, dass man eine Studie der Phase II beginnen und diesmal größere Mengen an Zellen transplantieren wolle.

Professor Eva Sykova (Foto: Martin Vlček, Kancelář Senátu – Senát Parlamentu České republiky, CC BY 3.0)

Die tschechische Arbeitsgruppe um Prof. Dr. Eva Sykova vom Institut für Experimentelle Medizin ASCR in Prag hatte die Stammzellen aus den Patienten selbst gewonnen, im Labor vermehrt und dann bei einer Lumbalpunktion ins Nervenwasser injiziert. Kraft, Beweglichkeit und Gehfähigkeit der 26 Teilnehmer in dieser Studie wurden über 18 Monate hinweg verfolgt. Nach drei und nach sechs Monaten fanden die Forscher statistisch signifikante Verbesserungen sowohl auf der ALS Functional Rating Scale, als auch bei der forcierten Vitalkapazität, einem Maß für die Funktion der Lunge.

Fragwürdige Vergleiche

Da es innerhalb der Studie keine Vergleichsgruppe gab, musste man zur Bewertung den natürlichen Verlauf der Krankheit heranziehen. Dies scheint bei Zelltransplantationen gegen ALS inzwischen die Regel zu sein: Wissenschaftler der Cochrane Kollaboration hatten kürzlich die gesamte Literatur nach solchen Studien durchsucht, um deren Wirksamkeit zu beurteilen. Sie fanden aber keine mit adäquater Kontrollgruppe. Nicht auszuschließen ist deshalb, dass die Verbesserungen in beiden Studien auf einem Placeboeffekt beruhen.

Experimentelle Behandlung außerhalb der Studie

Trotz der geringen Aussagekraft der bisherigen Studien erhalten offenbar schon heute ALS-Patienten auch außerhalb von Studien Zelltransplantationen. So berichtete die Gruppe von Eva Sykova, dass 25 ihrer Patienten außerhalb von Studien behandelt worden sind. Inzwischen hätten sich auch Interessenten aus dem Ausland gemeldet, sagte die Forscherin auf der Neuroscience-Tagung.

Quellen:

Syka M et al. Stem cells for treatment of Amyotrophic lateral sclerosis. Preclinical and clinical study. Abstract 45.01. Society for Neuroscience 47 Annual Meeting, San Diego, 12.11.2016.

Jendelova P et al. The effect of different applications of mesenchymal stem cells in the treatment of amyotrophic lateral sclerosis. Abstract 45.04. Society for Neuroscience 47 Annual Meeting, San Diego, 12.11.2016.

Mazzini L et al. Data from pre-clinical and completed phase I clinical studies with intraspinal injection of human neural stem cells in amyotrophic lateral sclerosis. Abstract 45.13. Society for Neuroscience 47 Annual Meeting, San Diego, 12.11.2016.

Abdul Wahid SF et al. Cell-based therapies for amyotrophic lateral sclerosis/motor neuron disease. Cochrane Database Syst Rev. 2016 Nov. 8;11:CD011742

(Überarbeitete Version eines Textes, der als Pressemitteilung geplant war, jedoch nicht veröffentlicht wurde)

Spinale Muskelatrophie: Hoffnung durch Antisense-Technik

Mithilfe einer neuartigen genetischen Technik ist es Wissenschaftlern erstmals gelungen, das Fortschreiten der Spinalen Muskelatrophie (SMA) bei Säuglingen und Kleinkindern zu verlangsamen – einer fatalen und bislang kaum aufzuhaltenden neurodegenerativen Erkrankung. „Dies ist eine vielversprechende Behandlungsmethode für die häufigste genetische Todesursache im Kindesalter“, so Prof. Christine Klein, Leiterin des Instituts für Neurogenetik an der Universität Lübeck und Vizepräsidentin der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN). Darüber hinaus könne man davon ausgehen, dass die hier genutzte Methode der Antisense-Technik auch für andere Erkrankungen und Indikationen angepasst werden und dort ebenfalls erfolgreich sein könnte.

Den Beweis, dass die Antisense-Technik funktionieren kann, haben nordamerikanische Neurologen mit einer Studie erbracht, über die sie in der Fachzeitschrift The Lancet berichten. Insgesamt 20 Säuglinge, die zwischen der dritten Lebenswoche und dem sechsten Lebensmonat an der Spinalen Muskelatrophie erkrankt waren, haben Richard S. Finkel vom Nemours Children´s Hospital und seine Kollegen behandelt.

Ursache der Erkrankung war in allen Fällen ein fehlendes bzw. defektes Gen für einen Nerven-Schutzfaktor (Survival Motor Neuron 1, SMN1). Ohne dieses Eiweiß gehen die Motoneuronen des Rückenmarks und des Hirnstammes zugrunde, die die Bewegungen einschließlich des Schluckens und des Atmens kontrollieren. Die Folgen sind fatal: Nicht einmal ein Viertel der Kinder überlebte bislang ohne künstliche Beatmung die Diagnose um mehr als zwei Jahre.

Vor diesem Hintergrund erhielten alle Teilnehmer den Wirkstoff Nusinersen in Form mehrerer Injektionen ins Nervenwasser des Rückenmarks. Zwar verstarben vier der 20 Babys trotz der Behandlung. Zum Zeitpunkt des Berichtes aber waren 16 noch am Leben. 13 von ihnen konnten ohne fremde Hilfe atmen, und bei 14 hatte sich die Muskelfunktion gebessert. Teilweise konnten diese Kleinkinder nun den Kopf aufrecht halten, greifen, stehen und sogar laufen. Solche Veränderungen hatte man bislang bei unbehandelten Kindern mit dieser Form von SMA nicht beobachtet. „Eine Heilung bedeutet das nicht“, sagt Prof. Klein, „aber die Therapie scheint wirksam zu sein.“

Die Neurologin hebt hervor, dass der molekulare Mechanismus der Methode wie geplant funktioniert hat: Nusinersen ist ein synthetisch hergestelltes Molekül, das spezifisch konstruiert wurde um ein Ersatzgen für SMN1 zu aktivieren, das fast baugleiche SMN2. Es könnte theoretisch ebenfalls den Nerven-Schutzfaktor liefern, der die Motoneuronen am Leben hält. Allerdings enthält SMN2 einen „Webfehler“, der die Übersetzung der Erbinformation in das rettende Eiweiß um 75 bis 90 Prozent verringert.

Diesen Webfehler konnte Nusinersen offenbar beheben. Das von Wissenschaftlern der Firma Ionis hergestellte synthetische Molekül heftet sich an einer genau vorausberechneten Stelle an ein Zwischenprodukt (Boten-RNS), welches die in SMN2 enthaltenen Erbinformationen an die Eiweißfabriken der Zellen übermittelt. Nusinersen verhindert dadurch, dass aus der SMN2-Boten-RNS ein Abschnitt entfernt wird und die Erbinformation unbrauchbar wird. Die Menge korrekt übersetzter Boten-RNS stieg um das 2,6-fache auf einen Anteil von 50 bis 69 %. Durch Messungen der Eiweißkonzentration im Rückenmark konnten die Forscher schließlich noch zeigen, dass die in dieser Studie behandelten Kinder um durchschnittlich 63,7 % Prozent mehr SMN-Protein bildeten, als unbehandelte Kinder.

Die Nebenwirkungen des Verfahrens wurden von den Patienten gut toleriert, sodass die genetische Therapie von Prof. Klein als „in akzeptabler Weise sicher“ eingestuft wird. Eine weitere, noch nicht veröffentlichte Studie mit Nusinersen bei älteren Patienten mit SMA war ebenfalls erfolgreich, teilte die Hersteller-Firma Ionis mit. Und unmittelbar vor Weihnachten gab die US-Zulassungsbehörde FDA bekannt, dass Nusinersen unter dem Handelsnamen Spinraza für die Behandlung der SMA sowohl bei Säuglingen als auch bei Erwachsenen zugelassen wurde (Inzwischen liegt auch eine Zulassung der europäischen Arzenimittelbehörde EMA vor).

„Als das weckt begründete Hoffnung auf die so lange erwartete Wende in der translationalen Anwendung von Erkenntnissen aus der Molekulargenetik von der reinen Diagnostik hin zu klinisch-therapeutischen Anwendungen im Sinne einer personalisierten Medizin“, so Prof. Klein. Die Antisense-Technik könne auch auf andere Erkrankungen angepasst werden, erwartet die DGN-Vizepräsidentin.

Während bei SMA die Übersetzung eines „schwachen“ Gens gefördert wird, ließe sich stattdessen auch das Ablesen schädlicher Gene verhindern. Im Tierversuch ist dies beispielsweise bei Mäusen schon gelungen, die als Modell für die Huntington´sche Krankheit dienten. Aber auch in klinischen Studien wurde und wird die Antisense-Technik bereits erprobt, beispielsweise gegen die Amyotrophe Lateralsklerose (ALS), Rheuma, Asthma, Morbus Crohn sowie eine Vielzahl von Krebserkrankungen.

(Vorlage für eine Pressemitteilung der Deutschen Gesellschaft für Neurologie vom 5. Januar 2017)

Quellen: