Seveso ist überall heißt ein Klassiker der Umweltschutz-Literatur. Untertitel des 1989 erschienen Werkes von Egmont R. Koch und Fritz Vahrenholt: „Die tödlichen Risiken der Chemie.“ Es steht auch in meinem Bücherschrank und hat wesentlich zur Sensibilisierung gegenüber der Umweltverschmutzung beigetragen. Der so aufgebaute Druck dürfte wesentlich dazu beigetragen haben, dass innerhalb weniger Jahre sehr strenge Schutzmaßnahmen ergriffen wurden und die Belastung durch das „Supergift“ deutlich gesunken ist. Wer es etwas genauer wissen will findet hier einen Artikel, den ich anhand der Unterlagen zum 2. Internationalen Dioxin-Symposium in Berlin für die Pharmazeutische Zeitung vom 9. September 1993 geschrieben habe:

Obwohl in Deutschland heute wesentlich weniger Dioxine und Furane freigesetzt werden als noch vor einigen Jahren, sind weitere Maßnahmen möglich und erforderlich, um die Schadstoffbelastung der Umwelt zu reduzieren. Diese Forderung erhoben Experten des Bundesgesundheitsamtes und des Umweltbundesamtes kürzlich in einem Sonderheft des Bundesgesundheitsblattes.

Die Ableitung einer »gesundheitlich unschädlichen« Dosis wird erschwert durch einen Mangel an verwertbaren Hinweisen aus epidemiologischen Studien am Menschen. Der Beweis einer krebserzeugenden Wirkung von niedrigen Dosen des »Seveso-Giftes« 2,3,7,8-Tetrachlor-Dibenzo-p-Dioxin steht für den Menschen noch aus, wird in der Auswertung des 2. Internationalen Dioxin-Symposiums mitgeteilt. Allerdings werden die Ergebnisse des Follow-Up in Seveso erst in einigen Jahren vorliegen, und die Daten aus verschiedenen Untersuchungen zeigten, »daß es sich beim 2,3,7,8-TCDD mit hoher Wahrscheinlichkeit um ein Humankanzerogen handelt«.

Weniger deutlich sind die Hinweise auf eine Störung des Immunsystems oder der Reproduktionsfähigkeit durch die verschiedenen Vertreter der polychlorierten Dibenzo-p-dioxine und -furane (PCDDVF). Derzeit gibt es keine verläßlichen Anhaltspunkte dafür, daß derartige Effekte beim Menschen durch geringe Dosen dieser Substanzgruppe ausgelöst werden können.

Schwierig ist auch die Beurteilung von schädlichen Einflüssen auf das Zentralnervensystem. An Personen, die längerfristig beruflich oder durch Chemieunfälle exponiert waren, wurde zwar eine Reihe von Befindlichkeitsstörungen, Beschwerden und Befunden immer wieder registriert. So klagten Betroffene nach akuter Exposition mit hohen Dosen über Kopfschmerzen, Übelkeit, Schlafstörungen und Impotenz und waren zudem leicht reizbar. Chronische Exposition hatte unter anderem abgeschwächte oder nicht auslösbare Muskeleigenreflexe und Empfindungsstörungen in den Extremitäten zur Folge. In umfangreichen psychologischen Studien wurde lediglich »eine vermehrte psychosomatische Störbarkeit und eine erhöhte Verstimmbarkeit« aufgezeigt.

Probleme mit Richt- und Grenzwerten

»Eine eindeutige oder gar dosisabhängige neurotoxische Wirkung für PCDD/F konnte bei der Mehrzahl der Untersuchten nicht festgestellt werden«, bilanzierten Professor Jörg Schuster und Dr. Jutta Dürkop. Schwierigkeiten bereitet den Experten die Vielzahl der Dioxine und Furane, die trotz des gemeinsamen Wirkmechanismus ein stark unterschiedliches toxikokinetisches Verhalten zeigen. Die wissenschaftliche Basis der TCDD-Äquivalenzfaktoren (TEF), die in Form von Richt- und Grenzwerten in die Gesetzgebung eingehen, ist daher umstritten. TEF stützen sich im Wesentlichen auf Versuche zur chronischen Toxizität, die Induktion von Monooxygenasen bei der Ratte und auf teratogene Wirkungen. Aussagen zur möglichen Kanzerogenität und zur Immuntoxizität stehen somit auf wackeligen Beinen.

Die Bandbreite der gesundheitsbezogenen Richtwerte im verschiedenen Ländern ist dennoch relativ gering. Die vom Regionalbüro Europa der Weltgesundheitsorganisation errechnete »hinnehmbare tägliche Aufnahme« von zehn Picogramm 2,3,7,8-TCDD pro Kilogramm Körpergewicht und Tag wurde von Kanada, den Niederlanden und Großbritannien akzeptiert. Der Nordische Rat hat für die skandinavischen Länder fünf Picogramm festgelegt, in Deutschland geht man von einem bis zehn Picogramm aus, wobei ein Sicherheitsfaktor von 100 bis 1000 zugrunde gelegt wurde.

Kinder stark belastet

Zumindest die untere Grenze dessen, was die Experten hierzulande als »hinnehmbar« ansehen, wird in der Regel überschritten. Erwachsene nehmen in Deutschland durchschnittlich zwei Picogramm Toxizitätsäquivalente (TE) pro Tag und Kilogramm Körpergewicht auf, einjährige Kinder etwa das Doppelte.

Am stärksten betroffen sind Säuglinge, die beim Stillen täglich im Durchschnitt 150 Picogramm TE je Kilogramm Körpergewicht aufnehmen. Wie Dr. Dietrich Schulz vom Umweltbundesamt mitteilte, deuten Untersuchungen aus Nordrhein-Westfalen darauf hin, daß die durchschnittlichen Konzentrationen in der Frauenmilch zwischen 1989 und 1991 um etwa ein Drittel abgenommen haben. Als dichtbesiedeltes und hochindustrialisiertes Land nimmt die Bundesrepublik damit weiterhin eine unerfreuliche Spitzenstellung ein. Trotz dieser Belastung sieht das BGA aber keine gesundheitliche Gefährdung des Säuglings und empfiehlt nach wie vor allen Müttern, vier bis sechs Monate voll zu stillen.

Eine Reihe von Schutzmaßnahmen wurde in den letzten Jahren eingeleitet, um die freigesetzten Dioxinmengen zu begrenzen. Doch werden nach Schätzungen zwischen einem und zwei Kilogramm Dioxin-Toxizitätsäquivalente jährlich auf der Gesamtfläche der alten Bundesländer deponiert. Für die Niederlande geht man von fast einem Kilogramm aus, in Schweden, wo die Gesamtemissionen innerhalb von sieben Jahren um achtzig Prozent verringert wurden, rechnet man mit 120 bis 290 Gramm TE auf der gesamten Landesfläche.

Dioxine aus der Müllverbrennung

Während früher die chemische Industrie die Hauptquelle für Dioxine war und »als Ursache für heutige Altlasten anzusehen ist«, so der Bericht, spielen mittlerweile thermische Prozesse wie die Abfallverbrennung und Metallschmelzen die wichtigste Rolle. Die 17. Bundesimmissionsschutzverordnung (BimSchV) verlangt, daß die 400 Gramm Dioxin-TE, die noch 1989 aus Müllverbrennungsanlagen entwichen, spätestens bis 1996 auf vier Gramm reduziert werden.

Eine wichtige Voraussetzung für die Umsetzung der Verordnung bilden neue Erkenntnisse zur Dioxinbildung, die am Kernforschungszentrum Karlsruhe von Professor Hubert Vogg gewonnen wurden. Sie erlauben es, durch eine präzise Steuerung des Verbrennungsprozesses die Bildung der Schadstoffe auf weniger als ein zehnmilliardstel Gramm pro Kubikmeter Abluft zu reduzieren. Fraglich ist allerdings, ob der BImSchV-Grenzwert von 0,1 Nanogramm Dioxin-TE pro Kubikmeter Abluft auch beim Schmelzen von Eisen und Stahl, beim Umschmelzen von Aluminium oder der Kupferrückgewinnung eingehalten werden kann. Nach groben Schätzungen dürften diese Anlagen mehr als doppelt so viel Dioxin freisetzen wie alle fünfzig deutschen Müllverbrennungsanlagen zusammen.

Probleme gibt es auch bei der Umset­zung der bereits im Januar vom Kabi­nett verabschiedeten Dioxinverord­nung. Zu Jahresbeginn hatte man laut Umweltminister Klaus Töpfer die »weltweit niedrigsten Grenzwerte für Dioxine in Stoffen, Zubereitungen und Erzeugnissen festgelegt«. Alle toxiko­logisch relevanten chlorierten Dioxi­ne, 17 an der Zahl, wurden erfaßt; erstmalig gab es auch Grenzwerte für acht bromierte Dioxine und Furane. Rechtskräftig ist die Verordnung in­des noch nicht, weil die Notifizierung durch die zuständigen EG-Behörden noch aussteht. Bis zu einem Jahr dür­fen sich die Brüsseler Bürokraten Zeit lassen, um die deutsche Verordnung zu begutachten.

Quellen:

Bundesgesundheitsblatt – Sonderheft 1993, Hrsg.: Jörg Schuster und Jutta Dürkop. 2 Interna­tionales Dioxin-Symposium und 2. fachöffentliche Anhörung des Bundesgesundheitsamtes und des Umweltbundesamtes zu Dioxinen und Furanen in Berlin vom 9. bis 13. November 1992. 1. Auswer­tung.