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Selumetinib – wirksam gegen Neurofibrome, aber nicht verfügbar

Eine seltene Erbkrankheit, die bei Kindern Nerventumore verursacht, kann offenbar mit dem Wirkstoff Selumetinib erfolgreich bekämpft werden, zeigt eine kleine Studie mit 24 Teilnehmern. Das als Neurofibromatose Typ 1 (NF1) bekannte Leiden verursacht häufig Geschulste, die nicht operiert werden können. Diese inoperablen plexiformen Neurofibrome wurden jedoch bei allen 24 Kindern in der Studie gebremst, und bei 17 von ihnen schrumpften sie sogar um 20 bis 50 Prozent.

Dr. Widemann vom US-Krebsforschungszentrum NCI leitet mehrere Studien zum Neurofibrom (Foto: NCI)

Den größten Erfolg erzielten die Wissenschaftler um Dr. Brigitte C. Widemann, Leiterin des Pediatric Oncology Branch am National Cancer Institute der USA bei einem Mädchen, das wegen sehr großer Neurofibrome an Hüfte und Unterleib ständig unter Schmerzen litt und an den Rollstuhl gefesselt war. Durch die Behandlung verringerte sich die Tumormasse fast um die Hälfte; sie musste auch keine Schmerzmedikamente mehr einnehmen und war wieder in der Lage, längere Strecken zu laufen. Wie der Webseite von Widemann zu entnehmen ist, sind nun gleich mehrere Folgestudien geplant, die den Nutzen von Selumetinib bei Kindern wie auch Erwachsenen beweisen sollen.

Die auch nach ihrem Entdecker Morbus Recklinghausen benannte Krankheit betrifft etwa jedes 3000ste Neugeborene, davon entwickeln ein Fünftel bis zur Hälfte die hier behandelten plexiformen Neurofibrome. Sie können, je nach Lage, zu Schmerzen und Entstellungen führen, zu Blindheit, geschwächten Gliedmaßen, oder auch zu Darm- und Blasenschwäche. Vielen kann durch eine Operationen geholfen werden, bei einem Viertel ist dies allerdings nicht möglich.

Prof. Victor-Felix Mautner, Leiter der Neurofibromatose-Ambulanz am Universitätsklinikum Eppendorf sprach von einer „bedeutsamen Arbeit“ für Menschen, die durch NF-1 entstellt werden. Trotz dieses Erfolges wird Selumetinib aber in Deutschland wohl auf längere Zeit nicht verfügbar sein. Die Firma AstraZeneca, die den Wirkstoff ursprünglich gegen Lungenkrebs entwickeln wollte, ist damit nämlich in einer großen Studie gescheitert. Die Folge ist, dass Selumetinib von den Behörden für die Behandlung nicht zugelassen wurde, und auch nicht für „individuelle Heilversuche“ zur Verfügung steht. „Und dies wird auch nicht so schnell passieren“, befürchtet Mautner.

(eine ausführliche Fachversion dieser Nachricht ist erschienen am 6. Januar 2017 bei Medscape)

Quelle:

Dombi E, et al.: Activity of Selumetinib in Neurofibromatosis Type 1-Related Plexiform Neurofibromas. N Engl J Med. 2016 Dec 29;375(26):2550-2560. doi: 10.1056/NEJMoa1605943.

Spinale Muskelatrophie: Hoffnung durch Antisense-Technik

Mithilfe einer neuartigen genetischen Technik ist es Wissenschaftlern erstmals gelungen, das Fortschreiten der Spinalen Muskelatrophie (SMA) bei Säuglingen und Kleinkindern zu verlangsamen – einer fatalen und bislang kaum aufzuhaltenden neurodegenerativen Erkrankung. „Dies ist eine vielversprechende Behandlungsmethode für die häufigste genetische Todesursache im Kindesalter“, so Prof. Christine Klein, Leiterin des Instituts für Neurogenetik an der Universität Lübeck und Vizepräsidentin der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN). Darüber hinaus könne man davon ausgehen, dass die hier genutzte Methode der Antisense-Technik auch für andere Erkrankungen und Indikationen angepasst werden und dort ebenfalls erfolgreich sein könnte.

Den Beweis, dass die Antisense-Technik funktionieren kann, haben nordamerikanische Neurologen mit einer Studie erbracht, über die sie in der Fachzeitschrift The Lancet berichten. Insgesamt 20 Säuglinge, die zwischen der dritten Lebenswoche und dem sechsten Lebensmonat an der Spinalen Muskelatrophie erkrankt waren, haben Richard S. Finkel vom Nemours Children´s Hospital und seine Kollegen behandelt.

Ursache der Erkrankung war in allen Fällen ein fehlendes bzw. defektes Gen für einen Nerven-Schutzfaktor (Survival Motor Neuron 1, SMN1). Ohne dieses Eiweiß gehen die Motoneuronen des Rückenmarks und des Hirnstammes zugrunde, die die Bewegungen einschließlich des Schluckens und des Atmens kontrollieren. Die Folgen sind fatal: Nicht einmal ein Viertel der Kinder überlebte bislang ohne künstliche Beatmung die Diagnose um mehr als zwei Jahre.

Vor diesem Hintergrund erhielten alle Teilnehmer den Wirkstoff Nusinersen in Form mehrerer Injektionen ins Nervenwasser des Rückenmarks. Zwar verstarben vier der 20 Babys trotz der Behandlung. Zum Zeitpunkt des Berichtes aber waren 16 noch am Leben. 13 von ihnen konnten ohne fremde Hilfe atmen, und bei 14 hatte sich die Muskelfunktion gebessert. Teilweise konnten diese Kleinkinder nun den Kopf aufrecht halten, greifen, stehen und sogar laufen. Solche Veränderungen hatte man bislang bei unbehandelten Kindern mit dieser Form von SMA nicht beobachtet. „Eine Heilung bedeutet das nicht“, sagt Prof. Klein, „aber die Therapie scheint wirksam zu sein.“

Die Neurologin hebt hervor, dass der molekulare Mechanismus der Methode wie geplant funktioniert hat: Nusinersen ist ein synthetisch hergestelltes Molekül, das spezifisch konstruiert wurde um ein Ersatzgen für SMN1 zu aktivieren, das fast baugleiche SMN2. Es könnte theoretisch ebenfalls den Nerven-Schutzfaktor liefern, der die Motoneuronen am Leben hält. Allerdings enthält SMN2 einen „Webfehler“, der die Übersetzung der Erbinformation in das rettende Eiweiß um 75 bis 90 Prozent verringert.

Diesen Webfehler konnte Nusinersen offenbar beheben. Das von Wissenschaftlern der Firma Ionis hergestellte synthetische Molekül heftet sich an einer genau vorausberechneten Stelle an ein Zwischenprodukt (Boten-RNS), welches die in SMN2 enthaltenen Erbinformationen an die Eiweißfabriken der Zellen übermittelt. Nusinersen verhindert dadurch, dass aus der SMN2-Boten-RNS ein Abschnitt entfernt wird und die Erbinformation unbrauchbar wird. Die Menge korrekt übersetzter Boten-RNS stieg um das 2,6-fache auf einen Anteil von 50 bis 69 %. Durch Messungen der Eiweißkonzentration im Rückenmark konnten die Forscher schließlich noch zeigen, dass die in dieser Studie behandelten Kinder um durchschnittlich 63,7 % Prozent mehr SMN-Protein bildeten, als unbehandelte Kinder.

Die Nebenwirkungen des Verfahrens wurden von den Patienten gut toleriert, sodass die genetische Therapie von Prof. Klein als „in akzeptabler Weise sicher“ eingestuft wird. Eine weitere, noch nicht veröffentlichte Studie mit Nusinersen bei älteren Patienten mit SMA war ebenfalls erfolgreich, teilte die Hersteller-Firma Ionis mit. Und unmittelbar vor Weihnachten gab die US-Zulassungsbehörde FDA bekannt, dass Nusinersen unter dem Handelsnamen Spinraza für die Behandlung der SMA sowohl bei Säuglingen als auch bei Erwachsenen zugelassen wurde (Inzwischen liegt auch eine Zulassung der europäischen Arzenimittelbehörde EMA vor).

„Als das weckt begründete Hoffnung auf die so lange erwartete Wende in der translationalen Anwendung von Erkenntnissen aus der Molekulargenetik von der reinen Diagnostik hin zu klinisch-therapeutischen Anwendungen im Sinne einer personalisierten Medizin“, so Prof. Klein. Die Antisense-Technik könne auch auf andere Erkrankungen angepasst werden, erwartet die DGN-Vizepräsidentin.

Während bei SMA die Übersetzung eines „schwachen“ Gens gefördert wird, ließe sich stattdessen auch das Ablesen schädlicher Gene verhindern. Im Tierversuch ist dies beispielsweise bei Mäusen schon gelungen, die als Modell für die Huntington´sche Krankheit dienten. Aber auch in klinischen Studien wurde und wird die Antisense-Technik bereits erprobt, beispielsweise gegen die Amyotrophe Lateralsklerose (ALS), Rheuma, Asthma, Morbus Crohn sowie eine Vielzahl von Krebserkrankungen.

(Vorlage für eine Pressemitteilung der Deutschen Gesellschaft für Neurologie vom 5. Januar 2017)

Quellen:

Impfstoff gegen Ebola

Schon im kommenden Jahr könnte ein hochwirksamer Impfstoff gegen das gefürchtete Ebola-Virus in den besonders gefährdeten Ländern Afrikas zur Verfügung stehen. Grund für diesen Optimismus ist der Ausgang mehrerer Studien mit fast 6000 Menschen, die vorwiegend in Guinea in direkten oder indirekten Kontakt mit Ebola-Infizierten Personen gekommen waren, und die den neuen Impfstoff „rVSV-ZEBOV“ bekommen hatten.

In der Fachzeitschrift The Lancet berichten Forscher um die WHO-Angestellte Dr. Ana Maria Henao-Restrepo über Einzelheiten: Demnach wurden die Teilnehmer der Studie nach dem Losverfahren entweder sofort geimpft, oder mit einer Verzögerung von drei Wochen. In der ersten Gruppe waren nach zehn Tagen keine Viren mehr festzustellen, in der zweiten Gruppe erkrankten dagegen 23 Menschen an der Seuche. Knapp drei Monate lang schauten die Forscher auch nach möglichen Nebenwirkungen von rVSV-ZEBOV. Dabei kam es zu einem Fall von extrem hohem Fieber und einer Überempfindlichkeitsreaktion, die beide glimpflich ausgingen. Ansonsten traten lediglich milde Nebenwirkungen auf Kopfweh, Müdigkeit und Muskelschmerzen.

„Beim nächsten Mal gewappnet“ – WHO-Direktorin Kieny (Foto: WHO)

Der Impfstoff, der auf einem gentechnisch veränderten Virus (VSV) basiert, war zuvor an Affen getestet worden, wo er Neuinfektionen zu 100 Prozent verhindern konnte. Bei bereits infizierten Tieren verhinderte rVSV-ZEBOV den Ausbruch der Krankheit immerhin in jedem zweiten Fall. rVSV-ZEBOV wirkt möglicherweise nicht gegen alle Stämme des Ebola-Virus gleich gut. Besonders effektiv verhindert der Impfstoff aber den Ausbruch der Zaire-Variante von Ebola, die mit einer Sterblichkeit von bis zu 90 Prozent zu den tödlichsten Infektionskrankheiten überhaupt zählt.

Die Globale Impfallianz GAVI hat fünf Millionen Dollar zugesagt, um einen Vorrat von 300.000 Dosen des Impfstoffes anzulegen. „Wenn die nächste Epidemie kommt, werden wir gewappnet sein“, sagt die Studienleiterin Dr. Marie-Paule Kieny, Stellvertretende Generaldirektorin für Gesundheitssystem und Innovation der WHO in Genf.

(eine ausführliche Fachversion dieser Nachricht ist erschienen am 4. Januar 2017 bei Medscape)

Quellen:

German Geneticists Get Some Relief

zur Abwechslung ´mal ein Beitrag für internationales Publikum: Im Science Magazine erschien in englischer Sprache ein Artikel, in dem ich über das Gentechnik-Gesetz berichte, dessen strenge Bestimmungen zu Jahresbeginn etwas gelockert wurden.

Zitiert werden Detlef Ganten, damals Leiter des Max Delbrück Centrums für Molekulare Medizin in Berlin, und Beatrix Tappeser vom Öko-Institut Freiburg.

Über den obigen Link bekommt mal leider nur einen Ausschnitt zu sehen. Den Volltext darf ich hier nicht einstellen, weil ich sonst womöglich Ärger kriege – obwohl ich der Urheber bin!

(erschienen am 7. Januar 1994 in Science)

Keuchhusten: Angst verhindert Impfung

Jedes Jahr sterben in Deutschland bis zu 100 Kinder und Säuglinge an Keuchhusten. Sie sterben umsonst, denn schon heute gibt es einen Impfstoff, der vor dem Erreger der Krankheit, dem Bakterium Bordetella pertussis schützt. „Die Todesrate wird auf Null, maximal aber zwei oder drei Kinder sinken, wenn eine flächendeckende Impfung in Deutschland Realität wird“, erklärte der an der Mainzer Universitätsklinik tätige Kinderarzt Heinz-J. Schmitt.

Die kühne Prognose wird gestützt durch einen Blick ins benachbarte Ausland: In Dänemark, Frankreich, den Niederlanden und  Großbritanien wo zwischen 90 und 98 Prozent der Bevölkerung geimpft wurden, sind die jährlichen Todesfälle an einer Hand abzuzählen. Auch in der ehemaligen DDR, wo bis zum Mauerfall nur wenige Risikogruppen von der Impfpflicht ausgenommen waren, hatte man die Gefahr durch die bodenlebenden Bakterien gebannt.

Selbst in vielen afrikanischen und südamerikanischen Entwicklungländern sind die Menschen besser geschützt als in der drittmächtigsten Wirtschaftsnation der Welt. Hier steht jeder dritte Einwohner der äußerst ansteckenden Krankheit schutzlos gegenüber.

Eine Erklärung für diese erschreckenden Zustände lieferten Mediziner, Mikrobiologen und Impfstoffhersteller am vergangenen Wochenende auf einem Presse-Workshop der Firma SmithKline Beecham in Salzburg: Alarmiert von Meldungen über schwere Nebenwirkungen der Keuchhusten-Impfung hatte die Ständige Impfkommission (Stiko) des Berliner Bundesgesundheitsamtes 1975 ihre Empfehlung zurückgezogen, alle Kinder und Jugendlichen nicht nur gegen Diphterie und Tetanus, sondern gleichzeitig auch gegen Keuchhusten impfen zu lassen.

Drei wissenschaftliche Publikation hatten unabhängig voneinander den Schluß nahegelegt, daß maximal eines unter 20000 Kindern nach der Dreifach-impfung bleibende Hirnschäden entwickeln könnte „Für eine vorbeugende Maßnahme erschien mir das zuviel“ erklärte jetzt das Stiko-Mitglied Heinz Spiess von der Kinderpoliklinik München. Ohne die „öffentliche Empfehlung“ aber verlieren Geschädigte im Falle eines nachgewiesenen Impfschadens ihren Versorgungsanspruch gegenüber dem Staat. Mit entsprechender Zurückhaltung reagierten denn auch die Kinderärzte.

Erst 1990 stand für die Stiko unumstößlich fest, daß die beobachteten Hirnschäden mit der Impfung nichts zu tun hatten, sondern auf verschiedene Stoffwechselerkrankungen zurückgingen. Seit 1991 wird die Keuchhusten-Impfung wieder für alle Kinder und Säuglinge empfohlen. Die entstandene Impflücke und die Furcht vor etwaigen Nebenwirkungen aber sind geblieben. Die in Salzburg versammelten Experten waren sich darin einig, daß daran nicht nur der falsche Alarm in den siebziger Jahren schuld ist, sondern auch der bisher gebräuchliche Impfstoff selbst.

Dieser besteht nämlich aus kompletten, abgetöteten Bakterien und mehreren Hilfsstoffen, die es dem menschlichen Immunsystem erleichtern sollen, beim „Wiedersehen“ mit lebenden Erregern deren entscheidende Merkmale zu erkennen und sie unschädlich zu machen. Alle Bestandteile zusammen verursachen bei neun von zehn Kindern Schmerzen an der Infektionsstelle und Fieber; Schwellungen und Rötungen werden fast bei fast jedem zweiten Fall beobachtet.

Neben diesen, in geringer Häufigkeit bei allen Impfungen auftretenden Unannehmlichkeiten, kann es in seltenen Fällen auch zu Krämpfen kommen und – für Mütter und Ärzte gleichermaßen irritierend – zu stundenlangem Schreien der Säuglinge. Trotzdem stehen diese und andere extrem seltene Nebenwirkungen in keinem Verhältnis zu den Folgen einer Infektion. Ein bis drei Wochen nachdem sich die Mikroben in den Schleimhäuten der Atemwege festgesetzt haben, führen die abgesonderten Gifte zu staccatoartigen Hustenanfällen mit schwerer Atemnot. Manchmal zwei Monate lang müssen die kleinen Patienten täglich bis zu 30 solcher Anfälle erdulden. Lungenentzündungen, innere Blutungen und eine Vielzahl weiterer Komplikationen führen dann etwa in jedem tausendsten Fall zum Tode.

Da selbst diese Gefahren allzuoft auf die leichte Schulter genommen werden, hofft der Keuchhusten-Experte Schmitt jetzt auf einen verbesserten Impfstoff, der nicht mehr aus ganzen Bakterien sondern nur noch aus drei hochgereinigten Eiweißen besteht. Dieser „azelluläre“ Pertussis-Impfstoff hat, wie Versuche in Japan, Schweden und den USA gezeigt haben, nur einen Bruchteil der Nebenwirkungen im Vergleich zur herkömmlichen Vakzine und schützt mindestens genauso gut.

Die Daten aus einer deutschen Studie, bei der innerhalb der letzten zwei Jahre rund 15000 Säuglinge geimpft wurden, werden Mitte des nächsten Jahres vorliegen und dann, so hofft Schmitt, eine schnelle Zulassung ermöglichen. Blut oder Blutprodukte, so stellte Hugues Bogaerts im Namen der Herstellerfirma klar, seien weder im alten, noch im neuen Impfstoff enthalten.

(erschienen in der Süddeutschen Zeitung am 16. Dezember 1993)

Quelle: Presse-Workshop Salzburg, 10. – 12.12.1993, besucht auf Einladung der Firma SmithKline Beecham)

Debatte über Tamoxifen-Studie

Über die Notwendigkeit einer deutschen Präventionsstudie zum Einsatz des Antiöstrogens Tamoxifen bei Frauen mit erhöhtem Brustkrebsrisiko konnte auf einem Symposium der Dr. Mildred Scheel Stiftung keine Einigkeit erzielt werden. Entsprechende Studien laufen bereits in den Vereinigten Staaten, Australien, Italien und – nach einer fünfjährigen Diskussion – in Großbritannien.

Für das 9. Treffen der Stiftung waren über 90 Krebsforscher aus elf Ländern zusammengekommen, um ihre Erfahrungen zur Entstehung und Behandlung hormonabhängiger Tumoren auszutauschen. „Ein ganz wesentlicher Schwerpunkt“, so Prof. Dr. Walter Jonat, „war die Nutzen/Risiko-Analyse für solch eine Studie.“

In Deutschland muß statistisch gesehen jede zehnte Frau damit rechnen, an Brustkrebs zu erkranken, das entspricht jährlich über 30000 Fällen, erläuterte der Leitende Oberarzt der Universitäts-Frauenklinik Hamburg. Für etwa 15 bis 25 Prozent der weiblichen Bevölkerung ist dieses Risiko mehr oder weniger stark erhöht, etwa dann, wenn die Menarche noch vor dem zwölften Lebensjahr eintrat, bei Kinderlosigkeit, einem Lebensalter von über sechzig Jahren oder bei einer genetischen Prädisposition.

Eine vorbeugende Behandlung dieser Frauen mit Antiöstrogenen erscheine sinnvoll, weil etwa die Hälfte aller Brustkrebserkrankungen hormonell regulierbar seien, sagte der Leitende Oberarzt der Universitäts-Frauenklinik Heidelberg, Prof. Dr. Manfred Kaufmann. Als positive Nebenwirkung würden kardiovaskuläre Erkrankungen signifikant – nämlich um 20 Prozent – reduziert; außerdem lasse sich das Osteoporose-Risiko eventuell verringern. „Andererseits könnte es sein, daß sich die Rate an induziertem Gebärmutterkrebs unter der Behandlung erhöht.“

Die Aussage, daß der klinische Nutzen ganz sicher überwiege, sei derzeit nicht möglich, bilanzierte Jonat. Kaufmann folgerte dagegen nach „gewinnbringender, kontroverser Diskussion“: „Ich hoffe und würde mir wünschen, daß solch eine Untersuchung auch bald in Deutschland anläuft.“ Die Kosten würden bei einer Laufzeit von fünf Jahren und 5000 Probandinnen je nach Zahl der erhobenen Parameter zwischen vier und 18 Millionen Mark liegen. Für die deutsche Krebshilfe erklärte deren Vorstandsvorsitzender Dr. Helmut Geiger, daß der Wille, solch ein Projekt zu fördern, „prinzipiell vorhanden“ sei.

Im Gegensatz zur präventiven Gabe von Tamoxifen ist der postoperative Nutzen des Hormonblockers beim Brustkrebs unumstritten. Jonat schätzt, daß mit dieser Indikation weltweit etwa 200000 Frauen pro Jahr behandelt werden. Unter ihnen würden 10000 bis 20000 dank Tamoxifen vor einem Rückfall bewahrt. „Vor zehn bis zwanzig Jahren wären diese Frauen noch gestorben“, sagte der Gynäkologe.

(geschrieben für das Deutsche Ärzteblatt, Erscheinungsdatum unbekannt.)

Ärztliche Entscheidungen unter der Lupe

Fehlendes Wissen, fehlende Daten und fehlende Zeit sind die größten Hindernisse für unsere Ärzte, wenn es darum geht, immer wieder die bestmögliche Behandlung für jeden einzelnen Patienten zu ermitteln. Diese Erfahrung ist für Professor Gerhard Riecker, Direktor der Medizinischen Klinik I am Münchner Klinikum Großhadern Anlaß, die Medizin als „Kunst im Umgang mit unsicherem Wissen“ zu definieren.

Zusammen mit einer wachsenden Zahl von Kollegen beschäftigt sich Riecker mit der Frage, wie Ärzte zu ihren Entscheidungen gelangen, von denen Wohl und Wehe, manchmal auch Leben und Tod ihrer Patienten abhängen. Keine Bibliothek der Welt ist heute groß genug, um die gesammelten Weisheiten der Medizin auch nur zu lagern, die seit Hippokrates durch Heerscharen fleißiger Forscher zusammengetragen wurden. Über 30000 verschiedene Fachzeitschriften konkurrieren um die Aufmerksamkeit der Heilkundigen; Riecker schätzt, daß das verfügbare Wissen in der Medizin etwa alle zehn Jahre um die Hälfte zunimmt.

Natürlich muß nicht für jeden Patienten das gesamte medizinische Wissen der Neuzeit durchforstet werden. Bei einem erfahrenen Arzt genügen die sorgfältige Erhebung der Krankheitsgeschichte (Anamnese) und die Resultate der Eingangsuntersuchung, um in 60 bis 90 Prozent aller Fälle die richtige Diagnose zu stellen, so Riecker. Dabei spielen die Beurteilung und Verknüpfung der beobachteten Krankheitszeichen (Symptome) die entscheidende Rolle. Einzelne Daten wie Alter und Geschlecht des Patienten, die Häufung bestimmter Krankheiten in der Familie, die Einnahme von Arzneimitteln, Hinweise auf äußere Umstände wie verdorbene Lebensmittel oder eine umgehende Grippewelle bilden einige der Mosaiksteinchen, die im Idealfall durch den Scharfsinn des Mediziners zu einem umfassenden und eindeutigen Krankheitsbild ergänzt werden.

Im Vordergrund steht derzeit noch immer die Intuition des Arztes, die Fähigkeit, etwas zu verstehen, noch bevor alle Details bewußt wahrgenommen werden. Besonders gefragt ist diese Tugend in der Notfallambulanz, wo jede Sekunde zählt, um beispielsweise Verkehrsopfern mit inneren Verletzungen das Leben zu retten. Wie aber erwirbt man den klinischen Scharfsinn und was kann getan werden, um fatale Fehlentscheidungen zu verhindern?

Dieser Frage widmet sich an der Universität Marburg Professor Wilfried Lorenz, Leiter des Institutes für Theoretische Chirurgie. Er berichtete über eine Fallstudie an fünf Oberärzten. Intuition, so stellte sich dabei heraus, kann durchaus ein zweischneidiges Schwert sein. „Vier der fünf Ärzte stellten exzellente Diagnosen aus dem Bauch heraus. Einer aber lag bei 38 Prozent Richtigkeit.“ – Eine erschreckend niedrige Quote, die laut Lorenz zeigt, welche Vorteile für den Patienten von einer objektivierten Entscheidungsfindung zu erwarten sind.

In Zusammenarbeit mit der Allgemeinchirurgie versucht man deshalb in Marburg schon seit gut 20 Jahren, die Entscheidungsfindung der Kollegen durch neue Konzepte, Methoden und Strukturen zu erleichtern. Denn „großes technisches Vermögen in der Chirurgie ist zwar eine Notwendigkeit, aber nicht alles.“ Dem begegnete man in Marburg durch die Schaffung von kleinen Arbeitsgruppen, in denen theoretische und praktische Chirurgen, Studenten und technisches Personal wenigstens einmal pro Woche zusammentreffen, um die verschiedenen Methoden der Entscheidungsfindung auf aktuelle Probleme anzuwenden.

So ging es in einer Arbeitsgruppe um das relativ häufige Zwölffingerdarmgeschwür, für das mehrere Möglichkeiten der Behandlung zur Verfügung stehen: Läßt man den Dingen ihren natürlichen Lauf, so wird das Geschwür bei einigen Patienten von selbst ausheilen, bei der Mehrzahl der Kranken wird es wiederkehren, ohne großen Schaden anzurichten. Die Statistik verrät aber auch, daß es bei jedem sechsten unbehandelten Patienten zu Komplikationen kommen wird; jeder Zehnte aus dieser Gruppe bezahlt sie schließlich mit seinem Leben.

Verabreicht der Arzt Medikamente, so muß zwar mit Nebenwirkungen gerechnet werden, jeder zweite Kranke wird aber im ersten Anlauf vollständig geheilt. Die Sterblichkeit ist natürlich geringer als bei den unbehandelten Patienten, beträgt aber immer noch ein Prozent. Noch etwas besser schneidet die dritte Möglichkeit ab: Ein operativer Eingriff, bei dem verschiedene Abzweigungen des Eingeweidenervs gekappt werden. Allerdings ist die Operation selbst mit einem nicht unerheblichen Risiko verbunden, dem auch solche Patienten ausgesetzt wären, die womöglich ohne weiteres Zutun gesundet wären.

All diese Möglichkeiten werden nun in einem Entscheidungsbaum skizziert, einem Diagramm, das ausgehend von der Diagnose „Zwölffingerdarmgeschür“ sich immer weiter verzweigt bis zu einem vorgegebenen Endpunkt – in diesem Fall die Frage, ob die Patienten fünf Jahre nach Behandlungsbeginn noch am Leben sind. Die Entscheidung, einen bestimmten Weg zu gehen, ergibt sich dann nicht nur aus den unmittelbaren Folgen einer Entscheidung, sondern auch aus den Folgen der Folgen, die auf der Grundlage der Statistik in Zahlen gefaßt werden können.

Während früher als Endpunkt der Behandlung oft nur die zwei Extreme „Leben“ oder „Tod“ unterschieden wurden, versuchen neuere Modelle auch andere Aspekte zu berücksichtigen. So rückt bei der Behandlung von Krebspatienten die Lebensqualität immer mehr in den Mittelpunkt. Lorenz nennt als Beispiel Erkrankungen des Enddarms, bei denen durch eine radikale Operation die Schaffung eines künstlichen Darmausganges notwendig wird. „Wir haben bisher immer geglaubt, daß dies für einen Patienten das Schlimmste ist und wir haben deshalb alles versucht, Operationsverfahren zu entwickeln, um diesen Schritt zu vermeiden.“

Der Nachteil bestand darin, daß durch diese Haltung das Risiko wuchs, den Krebsherd nur unvollständig zu beseitigen, was tödliche Folgen haben kann. „Unsere Lebensqualitätsforschung hat nun ergeben, daß auch ältere Patienten den künstlichen Darmausgang oft gut vertragen. Das Gefühl, ´es ist alles ´raus´ hat die Lebensqualität dieser Menschen unglaublich positiv beeinflußt“, schildert Lorenz das überraschende Ergebnis.

Inzwischen wird die Theoretische Chirurgie in Deutschland an sechs Kliniken betrieben und kann sich im internationalen Vergleich durchaus sehen lassen. Ihre Resultate erreichen nach Schätzung von Lorenz etwa die Hälfte der Chirurgen. Wenig systematische Entscheidungsfindung wird dagegen in den Praxen niedergelassener Ärzte betrieben, wo die weitaus meisten Patienten behandelt werden. Ein „Riesendefizit“ sieht Lorenz auch in der Inneren Medizin. „Die muß das dringendst einführen; sie ist viel zu sehr biomedizinisch ausgerichtet“.

Der Einsatz von Computern zur Diagnose von Krankheiten steckt ebenfalls noch in den Kinderschuhen. Eine Deutung der vorliegenden Daten durch die Rechenknechte „liefert keine gewünschte Zusatzinformation, sondern bedroht scheinbar die geistige Leistung des Arztes“, erklärt Dr. Christian Ohmann von der Abteilung Theoretische Chirurgie der Chirurgischen Klinik der Düsseldorfer Heinrich-Heine-Universität.

Der theoretische Mediziner hat angesichts der oft umständlichen und zeitraubenden Bedienung der Geräte Verständnis für diese Haltung, verweist aber dennoch auf mehrere Systeme, deren Nutzen eindeutig nachgewiesen ist. „Die Einführung der computerunterstützten Diagnose bei akuten Bauchschmerzen hat zu einer erheblichen Reduktion diagnostischer und therapeutischer Fehler geführt.“ An acht englischen Kliniken konnte die Trefferquote bei der Ermittlung der Krankheitsursache von 57 auf 74 Prozent erhöht werden, gleichzeitig sank die Zahl der Eingriffe, bei denen die Bauchdecke unnötigerweise eröffnet wurde, von 25 auf 10 Prozent. Auch bei der Beurteilung von Brustschmerzen kann Kollege Computer Erfolge vorweisen: Durch Analyse der Beschwerden und des Elektrokardiogramms gelang es, die Zahl der Patienten, die ins Krankenhaus aufgenommen werden mußten, um fast ein Drittel zu senken, ohne daß dabei ernsthaft kranke Menschen übersehen wurden.

Neben diesen beiden Ausnahmen sei der Einsatz computerunterstützter Diagnosemodelle gegenwärtig aber weder für die Routinearbeit noch für die Aus- und Weiterbildung der Ärzte zu empfehlen, meint Ohmann. Der Grund für die Zurückhaltung liegt vor allem darin, daß die bestehenden Systeme bisher nicht ausreichend getestet wurden. Riecker ist dagegen optimistisch, daß Computer schon in fünf Jahren fast flächendeckend an der Entscheidungsfindung beteiligt werden. Ein Expertensystem für die Diagnose von Herz-Rhythmus-Störungen soll Ende des Jahres fertig sein und mit Unterstützung des Heidelberger Springer-Verlages als preiswertes und benutzerfreundliches PC-Programm vertrieben werden. Als weitere Fachrichtungen, auf denen der Computer sich als besonders hilfreich erweisen könnte, nennt der Mediziner Endokrinologie, Neurologie, Intensivmedizin, klinische Chemie und Vergiftungen.

Auch Riecker räumt ein, daß sich vor allem ältere Kollegen mit der Akzeptanz derartiger Systeme schwertun. „Die ältere Generation meidet das wie der Teufel, bei denen ist es ja schon verpönt, in Anwesenheit des Patienten in das Lehrbuch zu schauen. Aber unsere jüngeren Assistenten sind regelrechte Computerfreaks – da kann man nur staunen.“ Durch den stattfindenden Generationswechsel werde sich die rechnergestützte Entscheidungsfindung schnell durchsetzen. Die von Experten in Zusammenarbeit mit Informatikern erstellten Programme ließen sich auch schneller an aktuelle Entwicklungen anpassen; ein „Upgrade“ der entsprechenden Disketten könnte bei entsprechend großer Verbreitung etwa alle ein bis zwei Jahre für „rund 50 Mark“ geliefert werden, meint Riecker.

Im Gegensatz zum Rat eines Computers werden die Empfehlungen sogenannter Konsensuskonferenzen von allen Medizinern anerkannt. Dabei kommen Experten aus verschiedenen Teilgebieten der Medizin zusammen mit dem Ziel, ein Standardprotokoll zur Behandlung einer Krankheit zu entwickeln. Den größten Einfluß auf das Urteil dieser Experten haben in der Regel klinische Studien, die nach sehr strengen Regeln an einer großen Zahl von Patienten und gleichzeitig an mehreren Orten durchgeführt werden. Geht es zum Beispiel um den Vergleich zweier Medikamente, die den Bluthochdruck bekämpfen sollen, wird Verteilung und Verpackung der fraglichen Pillen so organisiert, daß weder die Patienten noch die behandelnden Ärzte wissen, wer welche Arznei erhält. Um eine Verfälschung der Resultate durch persönliche Meinungen und Erwartungen zu verhindern, werden diese Informationen bis zum Abschluß der Studie in einem geschlossenen Umschlag hinterlegt.

Erst dann wird kontrolliert, welches der beiden Medikamente den Blutdruck wie stark gesenkt hat, in welchem Zeitraum dies geschehen ist und welche Nebenwirkungen dabei auftraten. Natürlich werden diese Studien auch in den entsprechenden Fachzeitschriften veröffentlicht, doch dringt die Neuigkeit schneller zu den niedergelassenen Ärzten vor, wenn sie in Form von Leitlinien und Empfehlungen einer Konsensuskonferenz gefaßt wird. Unbestritten ist, daß Expertensysteme und Entscheidungsbäume, Lebensqualitätsanalysen und Konsensuskonferenzen dazu beitragen können, die Heilungschancen für den Patienten zu erhöhen. Sicher ist aber auch, daß trotz aller Entscheidungshilfen die Verantwortung für jeden Entschluß auch in Zukunft ganz allein auf den Schultern des behandelnden Arztes lastet.

(in gekürzter Form erschienen in der Süddeutschen Zeitung am 9. Dezember 1993)

Krebsvorsorge auf dem Prüfstand

Der Kampf gegen den Krebs ist meist auch ein Kampf gegen die Zeit. Je früher ein bösartiges Geschwür entdeckt wird, desto größer sollten deshalb die Chancen auf Heilung sein. Ob aber die verschiede­nen Früherkennungsverfahren, die heute angeboten werden, alle sinnvoll sind, ist wissenschaftlich keinesfalls gesichert. Das Nationale Krebsforschungsinstitut der Vereinigten Staaten (NCI) hat deshalb den Startschuß für einen Großversuch mit 148000 Freiwilligen im Alter zwi­schen 60 und 74 Jahren gegeben.

Dabei steht die Frage im Vordergrund, ob Vorsorgetests die Zahl der Krebstoten wirklich verringern können. Um dies herauszufinden, werden die Probanden per Losentscheid auf zwei Gruppen verteilt, von denen eine die normale medizinische Betreuung erfährt. Die andere wird zusätzlich innerhalb von drei Jahren viermal mit sieben verschiedenen Früherkennungsmethoden auf Krebs des Magen-Darm-Traktes, der Lunge, der Vorsteherdrüse (Prostata) und der Eierstöcke (Ovarien) hin untersucht. Insgesamt zehn Jahre lang geben die Teilnehmer der knapp 150 Millionen Mark teuren PLCO-Studie (engl.: Prostate, Lung, Colorectal, and Ovarian Cancer Screening Trial) Auskunft über ihren Gesundheitszustand.

Nach Schätzungen des Bundesgesund­heitsamtes entfallen in Deutschland mehr als die Hälfte aller Krebsfälle auf die genannten Organe. Im Jahr 1990 waren das allein für die alten Bundesländer über 150000 Neuerkrankungen. Besonders häufig sind ältere Menschen betroffen, was die Beschränkung der amerikani­schen Untersuchung auf vergleichsweise betagte Freiwillige erklärt.

(erschienen in der Süddeutschen Zeitung am 9. Dezember 1993. Ein Überblick zu den Ergebnissen dieser wichtigen Studie aus dem Jahr 2015 findet sich hier.)

Neues vom „Aids-Skandal“

Im Skandal um den Vertrieb von nicht ausreichend auf HIV getestetem Blutplasma sind in den vergangenen Tagen neue Details bekannt geworden. Im Falle der Koblenzer Firma UB Plasma wurden jeweils zwei bis vier Proben von verschiedenen Einzelspendern zusammen getestet, sagte der leitende Oberstaatsanwalt Norbert Weise. Durch dieses Vorgehen sei die Sensitivität des Antikörpertests vermindert worden. „Wir vermuten, daß bei dieser Methode das diagnostische Fenster um etwa sechs Wochen verlängert wird.“

Eine weitere gravierende Verletzung der Vorschriften war das sogenannte „visuelle Testen“, bei dem eine mögliche Verfärbung der Teströhrchen zunächst nur mit dem bloßen Auge abgeschätzt wurde. „Wenn eine Verfärbung sichtbar war, hat man den kompletten Test gemacht; wenn nicht ging man davon aus, daß die Proben HIV-negativ seien“, erklärte Weise. Vorgeschrieben ist dagegen eine exakte maschinelle Bestimmung der optischen Dichte.

Bei den drei bekannt gewordenen Infektionen, die mit Spender Nummer 2505 in Verbindung gebracht wurden, hätten zwei womöglich vermieden werden können, wenn entsprechend den Vorschriften getestet worden wäre, mutmaßte Weise. Das Plasma eines weiteren HIV-positiven Spenders ist vermutlich nie in den Verkehr gelangt. Eine Niederlassung der Koblenzer Firma im rumänischen Bukarest hatte die zugehörige Blutprobe zum Testen nach Deutschland eingeschickt, wobei die Infektion erkannt wurde. Hinweise darauf, daß Plasma dieses Spenders vertrieben wurde, gibt es laut Schmidt bisher nicht.

Mittlerweile wurden von den 24000 sichergestellten Rückstellproben, die eine Überprüfung der ursprünglichen Testergebnisse gestatten, an der Universitätsklinik Mainz gut 10000 untersucht und mit den Eintragungen in den sichergestellten Laborbüchern verglichen. „Bis jetzt stimmen alle Ergebnisse mit denjenigen der Firma überein“, sagte Dr. Franz-Josef Schmidt, leitender Regierungsdirektor im Bezirk Koblenz gegenüber dem Deutschen Ärzteblatt.

Auch dem Testlabor der Firma Haemoplas im niedersächsischen Osterrode wird vorgeworfen, die einschlägigen Vorschriften verletzt zu haben. Laut dem Sprecher im Gesundheitsministerium, Thomas Steg, sind in diesem Fall jedoch keine Rückstellproben vorhanden, die einen Vergleich der Testergebnisse ermöglichen würden. Die „Aufwandsentschädigungen“ in Höhe von etwa 50 Mark pro Spende, die sowohl von UB Plasma als auch von Haemoplas gezahlt wurden, bringen nach Meinung von DRK-Sprecher Fritz Duppe ein erhöhtes Infektionsrisiko mit sich und sollte deshalb abgeschafft werden. Duppe zitierte eine Studie, wonach in Deutschland etwa jeder Hundertausendste unbezahlte Spender HIV-infiziert ist. Bei den bezahlten Spendern seien Infektionen dagegen acht Mal häufiger anzutreffen.

(erschienen im Deutschen Ärzteblatt am 3. Dezember 1993)

Weniger Hürden für die Gentechnik

Verbraucherinitiativen und Umweltschutzverbände, die der Gentechnik kritisch gegenüberstehen, sehen sich ab Anfang nächsten Jahres einer ihrer wichtigsten Waffen beraubt: Öffentliche Anhörungen werden im Rahmen von Genehmigungsverfahren für die meisten Produktions- und Forschungsanlagen abgeschafft. Auch wenn die Freisetzung gentechnisch veränderter Organismen diskutiert wird, müssen besorgte Anwohner ebenso wie weitgereiste Fundamentalisten künftig auf das Medienspektakel einer öffentlichen Anhörung verzichten.

Als „eine skandalöse Nacht- und Nebelaktion, mit der handstreichartig versucht wird, die Bürgerinnen und Bürger aus der Diskussion um die Gentechnik auszugrenzen“, kritisierte denn auch Beatrix Tappeser vom Öko-Institut Freiburg die von der Regierungskoalition durchgesetzten Änderungen. „In den vergangenen Wochen avancierte die Gentechnik zum traurigen Exempel für den Abbau von Öffentlichkeitsrechten“, heißt es in einer gemeinsamen Erklärung von 25 Umweltorganisationen, Forschungsinstituten und Bürgerinitiativen. Dabei wird allerdings verschwiegen, daß – schriftlich formulierte – Einwände gegen die Freisetzung gentechnisch veränderter Organismen nach wie vor von Bundesgesundheitsamt, Umweltbundesamt und der Biologischen Bundesanstalt Braunschweig im Rahmen eines Genehmigungsverfahrens geprüft werden müssen.

Schneller als erwartet haben sich Bund und Länder über die noch offenen Fragen bei der Novellierung des Gentechnikgesetzes geeinigt. Die von Gesundheitsminister Horst Seehofer angestrebten Vereinfachungen werden damit ohne wesentliche Abstriche zum Jahresbeginn Gesetzeskraft erlangen – nicht zuletzt deshalb, weil weitreichende Änderungswünsche auf einer Sitzung des Bundesrates am 5. November nicht von allen SPD-regierten Ländern getragen wurden. Das verzweifelte Bemühen des Gesetzgebers, der nach eigenem Bekunden kaum noch wettbewerbsfähigen deutschen Gentechnikbranche neues Leben einzuhauchen, findet damit seinen vorläufigen Abschluß.

Neben der drastischen Reduktion der Anhörungen hat auch die Verkürzung beziehungsweise Abschaffung der Genehmigungsverfahren für Arbeiten in den Sicherheitsstufen 1 und 2 als wichtigstes Element der Novelle die Beratungen unbeschadet überstanden. Die Sicherheitsstufe 1 betrifft Organismen wie das Darmbakterium Escherichia coli oder die Bäckerhefe, die kein Risiko für Mensch und Umwelt darstellen. Hier wird künftig in jedem Fall eine Anmeldung genügen. Die bisher vorgeschriebene Beteiligung eines Expertengremiums – der Zentralen Kommission für biologische Sicherheit – entfällt.

Vereinfachungen gibt es auch für die Sicherheitsstufe 2 („geringes Risiko“), in der sich nicht nur Bakterien wie die Erreger von Cholera und Legionärskrankheit finden, sondern auch Pilze der Gattungen Aspergillus und Candida, die bei immungeschwächten Patienten lebensbedrohliche Infektionen hervorrufen können. Bei Forschungsarbeiten mit diesen Organismen bleibt den Behörden künftig nur noch ein Monat, um einen Genehmigungsantrag zu bearbeiten, statt wie bisher drei. Ein nicht fristgerecht bearbeiteter Antrag gilt als genehmigt. Öffentliche Anhörungen für gewerbliche Anlagen wird es nur noch in den Fällen geben, wo dies ohnehin nach dem Bundesimmissionsschutzgesetz vorgeschrieben ist.

Im Vermittlungsausschuß mußten letzte Woche nur noch zwei Punkte geklärt werden, wobei sich in beiden Fällen die Länder mit ihren Vorstellungen durchsetzen konnten. Demnach wird die Zustimmung des Bundesrates bei Rechtsverordnungen, die der Umsetzung von EG-Richtlinien dienen, auch weiterhin erforderlich sein. Eine von Regierung und Koalition vorgesehene Konzentration der Entscheidungsgewalt beim Bau gentechnischer Anlagen ist ebenfalls vom Tisch. Neben den für die Gentechnik zuständigen Behörden müssen damit auch weiterhin beispielsweise die für Bau- und Wasserrecht zuständigen Ämter konsultiert werden.

Eine Identität zwischen geltenden EG-Richtlinien und dem Gentechnikgesetz ist damit allerdings noch nicht hergestellt, wie Wolf-Michael Catenhusen (SPD) einräumte. Ausgeklammert wurde auch die Frage, ob Pilotanlagen für die Herstellung klinischer Prüfware ein Genehmigungsverfahren durchlaufen müssen, sagte der ehemalige Vorsitzende der Enquete-Kommission „Chancen und Risiken der Gentechnik“. Als einziges Bundesland beharrte Hessen bisher auf dieser sogenannten 10-Liter-Regelung und machte damit vor allem der Frankfurter Hoechst AG das Leben schwer.

Davon unbeirrt hat sich der Großkonzern inzwischen erneut aufs Glatteis begeben: Im bayerischen Germering kann es Anfang November wieder einmal zu Protesten gegen geplante Freilandversuche; diesmal mit gentechnisch veränderten Mais- und Rapspflanzen. Die Gewächse unterscheiden sich von ihren natürlichen Artgenossen durch ein zusätzliches Gen, welches sie unempfindlich macht gegenüber dem von der Hoechst AG hergestellten Unkrautvernichtungsmittel „Basta“ (Phosphinotricin).

Auf der vom Bundesgesundheitsamt (BGA) geführten Anhörung waren zwar nur rund 200 der 20000 Einwender erschienen, um ihre Argumente mündlich vorzutragen. Ob diese sich aber in Zukunft an die neuen Spielregeln des Gentechnikgesetzes halten werden, ist keineswegs sicher. Medienvertreter sehen der Fortsetzung des Verfahrens am 13.12. daher mit Spannung entgegen. Genehmigt werden dürfen Freilandversuche auch nach der Novellierung nur dann, „wenn nach dem Stand der Wissenschaft im Verhältnis zum Zweck der Freisetzung unvertretbare schädliche Einwirkungen auf Leben und Gesundheit von Menschen, Tieren und Pflanzen sowie die sonstige Umwelt in ihrem Wirkungsgefüge und Sachgüter nicht zu erwarten sind.“

Neben dem vom Lehrstuhl für Pflanzenbau und Pflanzenzüchtung der Technischen Universität München gestellten Antrag liegen dem BGA noch sechs weitere vor: Die Universität Bielefeld beabsichtigt an zwei Standorten in Niedersachsen und Brandenburg gentechnisch veränderte Stämme des Bakteriums Rhizobium meliloti freizusetzen. Die Bakterien gehören zur Familie der „Knöllchenbildner“, die Stickstoff aus der Luft binden und ihren pflanzlichen Symbiosepartnern als Dünger zur Verfügung stellen können. Außerdem will das Max-Planck-Institut für Züchtungsforschung in Köln Kartoffelpflanzen erproben, die mit gentechnischen Methoden gegen das Kartoffelblattrollvirus immunisiert wurden.

Die meisten Anträge, nämlich fünf von sieben, betreffen aber Pflanzen, die gegen das Hoechst-Herbizid Basta resistent sind.  Während der Versuch in Germering von Mitarbeitern der TU München durchgeführt wird, plant Hoechst unter eigener Regie vier ähnliche Experimente in Gersten (Niedersachsen), Friemar (Thüringen) Wörrstadt (Rheinland-Pfalz) und Gersthofen bei Augsburg.

Die Versuche sind Voraussetzung für eine kommerzielle Nutzung des Gens auch in Deutschland. Über die Größe dieses Marktes konnte Hoechst-Pressesprecher Jürgen Cantstetter keine Angaben machen. „Aber wenn es zu einer Zulassung kommt, wollen wir das sehr breit vermarkten.“ Dabei denkt man in Frankfurt nicht daran, genmanipulierte Pflanzen – etwa durch eine Tochterfirma – selbst zu Vertreiben. Vielmehr soll interessierten Saatgutproduzenten eine Lizenz angeboten werden, die es den Firmen erlauben würde, das Resistenzgen in ihre eigenen Sorten einzuklonieren. Weil dieser zusätzliche Arbeitsaufwand das Saatgut eher verteuern würde, rechnet Cantstetter nicht damit, daß die herbizidresistenten Gewächse in Entwicklungsländern zum Einsatz kommen.

Bereits getestet wurden Basta-resistente Tabak- und Tomatenpflanzen 1989 in Frankreich und Kanada, in den Jahren 1990 bis 1992 außerdem Sommerraps und Winterraps, Mais und Sojabohnen. Dabei sei „auf eindrucksvolle Weise die ausgezeichnete Verträglichkeit der gegenüber dem Herbizid resistenten Pflanzen“ bestätigt worden, sagte Dr. Ernst Rasche, Leiter der Geschäftseinheit Saatgut des Konzerns. Bei einem dreijährigen Versuchsprojekt zur Sicherheitsforschung, das im englischen Ascot von Wissenschaftlern des Imperial College Silwood Park durchgeführt wurde, seien keine besonderen Risiken festgestellt worden. Allerdings kam Basta damals beim Vergleich der Wettbewerbsfähigkeit transgener Rapspflanzen mit ihren unveränderten Stammlinien gar nicht zum Einsatz. Auch die Frage, ob das Resistenzgen – wie von Kritikern behauptet – auf andere Pflanzen und möglicherweise Bodenbakterien übertragen werden kann, und ob dies nachteilige Folgen für das jeweilige Ökosystem hätte, wurde bisher nicht eindeutig beantwortet.

Umstritten ist zudem, ob der Einsatz herbizidresistenter Kulturpflanzen letztlich zu einer umweltverträglicheren Unkrautbekämpfung führen wird oder zu einem erhöhten Verbrauch von „Pflanzenschutzmitteln“. Einerseits würden zum Schutz der Kulturen vergleichsweise geringe Mengen Basta ausreichen, das schnell zu unschädlichen Folgeprodukten abgebaut wird. Andererseits könnte die Verlockung groß sein, gerade deshalb alles „totzuspritzen“, was sich nicht verkaufen läßt.

Ein Blick auf die Statistik zeigt jedenfalls, daß fast 70 Prozent der rund 1000 Freilandversuche an über 40 Pflanzenarten, die bisher in den OECD-Staaten genehmigt wurden, die Entwicklung herbizidresistenter Gewächse zum Ziel hatten. Der Rest verteilt sich auf Experimente zum Schutz vor Insekten, Viren und anderen Krankheitserregern.

Die geplanten Versuche der Hoechst AG sollen mit der Aussaat Anfang Mai 1994 beginnen und nach drei Vegetationsperioden mit der Ernte im Oktober 1996 abgeschlossen sein. Neben der Zulassung sollen sie laut Firmenangaben auch „Erkenntnisse über die Vorteile dieses Herbizids im Vergleich zu herkömmlichen Behandlungsverfahren liefern“. Erstmals zugelassen wurde Phosphinotricin 1984 in Deutschland, mittlerweile wird es in 45 Ländern als sogenanntes Totalherbizid verkauft, das Kulturpflanzen und Unkräuter gleichermaßen schädigt und darum bisher weitgehend auf den Obst- und Weinbau beschränkt war. Per Gentransfer, so hoffen die Hoechster, könnte dieses Manko überwunden werden. Der Weg dahin erscheint – zumindest im Rückblick – gleichermaßen logisch und clever:

Phosphinotricin hat strukturelle Ähnlichkeit mit der in jedem Organismus vorkommenden Glutaminsäure, einem der rund zwanzig Bausteine, aus denen Proteine zusammengesetzt werden. Es hemmt ein Enzym, das Glutaminsäure und Ammoniak zu Glutamin – einem weiteren Eiweißbaustein – verbindet. Letztlich stirbt die Pflanze also an einer „Ammoniakvergiftung“. Bei Mensch und Tier wird Ammoniak dagegen durch einen anderen Entgiftungsmechanismus entsorgt.

Um nun die Wirkung von Basta auf die „unerwünschte Begleitflora“ zu begrenzen, verfielen Wissenschaftler bei der belgischen Biotechnologiefirma Plant Genetics Systems und bei Hoechst unabhängig voneinander auf die Idee, die schützenswerten Kulturpflanzen mit einem Resistenzgen auszustatten, welches Phosphinotricin zerstört. Sie fanden solch ein Gen in Bakterien der Gattung Streptomyces und übertrugen es auf eine Vielzahl von Nutzpflanzen.

Ähnliche Versuche mit einem anderen Resistenzgen sind auch bei den Firmen Ciba-Geigy, Du Pont, ICI, Shell und Unilever schon weit fortgeschritten. Auch wenn die Produkte der Chemieriesen bisher noch nirgendwo auf dem Markt sind, scheint die Entwicklung kaum mehr anzuhalten. Die bereits 1987 ausgesprochene Ablehnung herbizidresistenter Pflanzen durch die Enquete-Kommission „Chancen und Risiken der Gentechnologie“ des Bundestages ist offenbar ungehört verhallt.

(erschienen in den VDI-Nachrichten vom 3. Dezember 1993)