Mindestens sechs deutsche Arbeitsgruppen bereiten sich zur Zeit darauf vor, den Nutzen der Gentherapie bei verschiedenen Krankheiten des Menschen zu erproben. Beim Bonner Bundesforschungsministerium (BMFT), welches kürzlich 40 Millionen Mark zur Entwicklung der Methode bereitgestellt hatte, sind innerhalb weniger Monate 183 Anträge zu rund 300 Teilprojekten eingegangen, teilte Dr. Robert Hauer, zuständiger Referent im BMFT, auf Anfrage mit. „Wir gehen davon aus, daß jeder, der damit zu tun hat, auch einen Antrag gestellt hat.“ Allerdings sei man bei der überwiegenden Mehrzahl der Projekte noch weit von einer Anwendung am Menschen entfernt.
Dagegen laufen anderswo die Vorarbeiten schon seit Jahren. So wollen Wissenschaftler am Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin (MDC) in Berlin-Buch im September gleich drei Anträge zur Durchführung klinischer Studien einreichen: Dr. Michael Strauss plant in Zusammenarbeit mit Münchner und Hamburger Kliniken die Behandlung von Menschen mit erblich bedingten, extrem erhöhten, Blutfettwerten (familiäre Hypercholesterinämie).
Wegen eines Gendefekts sind die Zellen dieser Patienten nicht in der Lage, die „böse“ Form des Cholesterins – LDL – aus dem Blut zu fischen. Die resultierende Gefäßverstopfung führt dann oft schon im jugendlichen Alter zum Tod durch Herzinfarkt. Strauss hat deshalb „entkernte“ Hüllen von Hepatitis B Viren entwickelt, welche die Bauanleitung für das Cholesterin-fischende Eiweiß zumindest im Tierversuch in Leberzellen einschleusen können. Nach zahlreichen weiteren Tests sollen die Gen-Taxis dann im Sommer nächsten Jahres an einer kleinen Zahl von Patienten erprobt werden.
Zusammen mit Professor Bernd Dörken, der an der benachbarten Robert-Rössle-Klinik der Freien Universität Berlin arbeitet, will Strauss außerdem versuchen, Lebermetastasen und Hirntumoren durch das Einschmuggeln sogenannter Selbstmordgene zu attackieren. Die Methode, mit der amerikanische Wissenschaftler bereits erste Achtungserfolge erringen konnten, wirkt wie eine örtlich eng begrenzte Chemotherapie: Erst wird das Selbstmordgen mit Hilfe von Viren oder durch eine Injektion in den Tumor geschleust, dann wird den Patienten 14 Tage lang ein Medikament (Ganciclovir) verabreicht, das nur in Anwesenheit des Selbstmordgens zu einem giftigen Stoffwechselprodukt umgesetzt wird.
Ebenfalls am MDC plant Dr. Thomas Blankenstein eine „Impfung“ mit gentechnisch veränderten Brustkrebszellen. Dies soll die „normale“ Behandlung von an Brustkrebs erkrankten Frauen ergänzen und Rückfälle verhindern. Wiederum sind es Tierversuche an Mäusen und Ratten, aber auch erste Erfahrungsberichte der amerikanischen Kollegen, die Hoffnung machen. Nach Operation, Strahlen- und Chemotherapie noch verbleibende Tumorzellen, die für das Immunsystem unsichtbar sind, könnten womöglich mit derartigen „Krebsimpfungen“ enttarnt und vernichtet werden.
An der Universität Bonn will Professor Klaus Olek die Behandlung von Blutern verbessern. Ihnen soll es durch Gentransfer ermöglicht werden, fehlende Blutgerinnungsfaktoren selbst herzustellen und somit unabhängig von Plasmapräparaten zu werden. Dies würde die mit jeglichem Austausch von Körperflüssigkeiten verbundene Infektionsgefahr durch bekannte und unbekannte Krankheitserreger beseitigen. Auch die Firma Bayer ist auf diesem Gebiet aktiv, wenn auch nicht in Deutschland. Bereits 1992 wurde ein Abkommen mit der amerikanischen Firma Viagene geschlossen, mit dem Ziel, die Hämophilie-A durch die Übertragung von Erbinformattioen zu behandeln.
In Hamburg arbeitet Dr. Marcus Stockschlaeder am Universitätskrankenhaus Eppendorf an einem Verfahren, um die gesunden Blutzellen von Krebspatienten vor denjenigen Giften zu schützen, die im Rahmen einer Chemotherapie zum Einsatz kommen und an der Hautklinik der Universität Würzburg schließlich will Direktorin Professor Eva-Bettina Bröcker einer Meldung des Wissenschaftsmagazins „Nature“ zufolge den Schwarzen Hautkrebs (Melanom) attackieren.
Bei allem Optimismus warnen die beteiligten Wissenschaftler aber auch vor übertriebenen Hoffnungen. „Wirklich geheilt worden ist durch die Gentherapie bisher noch niemand“, betonte der Amerikaner French Anderson mit Blick auf die fast 80 Studien, die bisher weltweit begonnen wurden. Der Mann muß es wissen; schließlich war er derjenige, der den weltweit ersten Versuch geleitet hatte. Die beiden Mädchen mit der lebensbedrohlichen Immunschwäche ADA-Defizienz, die dabei im Herbst 1990 als erste Menschen fremde Gene erhielten, müssen zwar in mehrmonatigen Abständen in die Klinik, um ihre Behandlung auffrischen zu lassen. Die Krankheit selbst ist aber dennoch besiegt: Wie Anderson bekanntgab, sind Ashanti DeSilva und Cynthia Cutshall seit über zwei Jahren frei von Beschwerden.