Chaos im Reagenzglas? Eine chemische Reaktion, die scheinbar ziellos mal in die eine, mal in die andere Richtung läuft? Die Beobachtung des Sowjetrussen Boris Belousow schien grundlegenden Naturgesetzen zu widersprechen. Sein Cocktail aus Schwefel und Malonsäure, Bromidionen und Cersulfat funktionierte als „chemisches Pendel“: Bei Zugabe des Farbstoffes Ferroin färbte sich die Lösung abwechselnd blau und rostrot – ein Schauspiel, das sich über Stunden hinzog.

Als Belousow vor 30 Jahren seine Kollegen auf dieses spektakuläre Verhalten aufmerksam machen wollte, schenkte man ihm keine Beachtung. Fachzeitschriften lehnten seine „angebliche“ Entdeckung als Hirngespinst ab. Erst 1964 – nach dem Tod des unglücklichen Belousow – konnte Anatoli Schabotinski beweisen, dass die Reaktion „echt“ war.

Die B-Z-Reaktion wird auch heute noch heiß diskutiert. Sie bietet ein gutes Beispiel für Rückkoppelung: Die zuerst gebildeten Reaktionsprodukte beeinflussen den weiteren Verlauf des Experimentes. Wenn man in einem Reaktionsgefäß nun ständig neue Chemikalien zugibt und gleichzeitig die Reaktionsprodukte entfernt, hat man fast schon ein Modell für eine lebende Zelle. Interessanterweise kann man jetzt die Konzentration der „Nährstoffe“ und die Durchflussgeschwindigkeit so einstellen, dass die periodischen Farbumschläge der B-Z-Reaktion immer unregelmäßiger werden und schließlich ins Chaos münden.

Diese Übergangsphase spielt sicher auch in der belebten Natur eine wichtige Rolle. Denn obwohl Ökosysteme und innere Uhren, Herzschlag und Stoffwechsel durch Rückkoppelung stabilisiert werden, kann eine winzige Störung oft fatale Folgen haben. Chemische Reaktionen eignen sich besonders als Modelle für die Entstehung von Chaos, weil die Ausgangsbedingungen eines Experimentes genau eingestellt werden können.

Beispiel für eine fraktale Reaktion: Das „Apfelmännchen“ (Verm. von Fedi CC-BY-SA-3.0 )

Umgekehrt profitiert auch die Chemie von den Erkenntnissen der Chaosforschung. Synthetische Polymere etwa, die Oberflächen von Katalysatoren und sogar die hochkomplizierten Eiweißmoleküle weisen eine Art von Ordnung auf, die erst durch die Entdeckung des amerikanischen Mathematikers Benoit Mandelbrot sichtbar wurde. All diese Systeme sind nämlich „selbstähnlich“.

Die Chaosforschung benutzt diesen Begriff, um deutlich zu machen, dass ein Teil des Ganzen bei entsprechender Vergrößerung so aussieht wie das Ganze. Ein anschauliches Beispiel ist die Struktur eines Baumes, von dem zunächst große Äste abzweigen. Betrachtet man einen Ast, so stellt man fest, dass dieser sich auf identische Weise in einzelne Zweige gliedert. Diese Verästelung setzt sich dann buchstäblich bis in die Blattspitzen fort, wo das gleiche Ordnungsprinzip den An- und Abtransport von Nähr- und Schadstoffen regelt.

Die Selbstähnlichkeit lässt sich nun in Zahlen (Fraktale) fassen, mit denen sich rechnen lässt. Ein spektakuläres Produkt dieser Art von Mathematik sind faszinierende Computergrafiken wie das berühmte „Apfelmännchen“. Die „fraktale Dimension“ lässt sich aber auch als Maß für die versteckte Symmetrie unregelmäßiger Materialien nutzen. Während eine Fläche die Dimension zwei, ein Raum die Dimension drei besitzt, findet man im Experiment beispielsweise für die Oberfläche von Aktivkohle einen Wert von 2,34.

Oft reicht die Kenntnis der fraktalen Dimension aus, um das Verhalten von Molekülen an der jeweiligen Oberfläche vorauszusagen. Die Gesetzmäßigkeiten, die für chemische Reaktionen in Lösung gelten, verlieren nämlich teilweise ihre Gültigkeit, wenn die Prozesse auf fraktalen Strukturen stattfinden. Mit Hilfe der fraktalen Dimension können die Experten beispielsweise Berechnungen über Reaktion und Transport von Schadstoffen im Platin-Katalysator anstellen, ohne dessen genaue Oberflächenstruktur zu kennen.

Auch für verschiedene „Biokatalysatoren“, für Eiweißstoffe also, wurde im Computerexperiment bereits die fraktale Dimension bestimmt. Sie liegt meist um 2,2, was einem ziemlich lockeren Aufbau entspricht. Berechnungen deuten darauf hin, dass dieser verhältnismäßig hohe Wert eine Voraussetzung für die schnelle Arbeit dieser Makromoleküle darstellt. Während die Analyse fraktaler Strukturen in der Chemie schon weit fortgeschritten ist, steckt die Produktion noch in den Kinderschuhen. An dieser Front ist noch wahre Pionierarbeit zu leisten.

(erschienen in der WELT vom 6. August 1990)