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Weniger Hürden für die Gentechnik

Verbraucherinitiativen und Umweltschutzverbände, die der Gentechnik kritisch gegenüberstehen, sehen sich ab Anfang nächsten Jahres einer ihrer wichtigsten Waffen beraubt: Öffentliche Anhörungen werden im Rahmen von Genehmigungsverfahren für die meisten Produktions- und Forschungsanlagen abgeschafft. Auch wenn die Freisetzung gentechnisch veränderter Organismen diskutiert wird, müssen besorgte Anwohner ebenso wie weitgereiste Fundamentalisten künftig auf das Medienspektakel einer öffentlichen Anhörung verzichten.

Als „eine skandalöse Nacht- und Nebelaktion, mit der handstreichartig versucht wird, die Bürgerinnen und Bürger aus der Diskussion um die Gentechnik auszugrenzen“, kritisierte denn auch Beatrix Tappeser vom Öko-Institut Freiburg die von der Regierungskoalition durchgesetzten Änderungen. „In den vergangenen Wochen avancierte die Gentechnik zum traurigen Exempel für den Abbau von Öffentlichkeitsrechten“, heißt es in einer gemeinsamen Erklärung von 25 Umweltorganisationen, Forschungsinstituten und Bürgerinitiativen. Dabei wird allerdings verschwiegen, daß – schriftlich formulierte – Einwände gegen die Freisetzung gentechnisch veränderter Organismen nach wie vor von Bundesgesundheitsamt, Umweltbundesamt und der Biologischen Bundesanstalt Braunschweig im Rahmen eines Genehmigungsverfahrens geprüft werden müssen.

Schneller als erwartet haben sich Bund und Länder über die noch offenen Fragen bei der Novellierung des Gentechnikgesetzes geeinigt. Die von Gesundheitsminister Horst Seehofer angestrebten Vereinfachungen werden damit ohne wesentliche Abstriche zum Jahresbeginn Gesetzeskraft erlangen – nicht zuletzt deshalb, weil weitreichende Änderungswünsche auf einer Sitzung des Bundesrates am 5. November nicht von allen SPD-regierten Ländern getragen wurden. Das verzweifelte Bemühen des Gesetzgebers, der nach eigenem Bekunden kaum noch wettbewerbsfähigen deutschen Gentechnikbranche neues Leben einzuhauchen, findet damit seinen vorläufigen Abschluß.

Neben der drastischen Reduktion der Anhörungen hat auch die Verkürzung beziehungsweise Abschaffung der Genehmigungsverfahren für Arbeiten in den Sicherheitsstufen 1 und 2 als wichtigstes Element der Novelle die Beratungen unbeschadet überstanden. Die Sicherheitsstufe 1 betrifft Organismen wie das Darmbakterium Escherichia coli oder die Bäckerhefe, die kein Risiko für Mensch und Umwelt darstellen. Hier wird künftig in jedem Fall eine Anmeldung genügen. Die bisher vorgeschriebene Beteiligung eines Expertengremiums – der Zentralen Kommission für biologische Sicherheit – entfällt.

Vereinfachungen gibt es auch für die Sicherheitsstufe 2 („geringes Risiko“), in der sich nicht nur Bakterien wie die Erreger von Cholera und Legionärskrankheit finden, sondern auch Pilze der Gattungen Aspergillus und Candida, die bei immungeschwächten Patienten lebensbedrohliche Infektionen hervorrufen können. Bei Forschungsarbeiten mit diesen Organismen bleibt den Behörden künftig nur noch ein Monat, um einen Genehmigungsantrag zu bearbeiten, statt wie bisher drei. Ein nicht fristgerecht bearbeiteter Antrag gilt als genehmigt. Öffentliche Anhörungen für gewerbliche Anlagen wird es nur noch in den Fällen geben, wo dies ohnehin nach dem Bundesimmissionsschutzgesetz vorgeschrieben ist.

Im Vermittlungsausschuß mußten letzte Woche nur noch zwei Punkte geklärt werden, wobei sich in beiden Fällen die Länder mit ihren Vorstellungen durchsetzen konnten. Demnach wird die Zustimmung des Bundesrates bei Rechtsverordnungen, die der Umsetzung von EG-Richtlinien dienen, auch weiterhin erforderlich sein. Eine von Regierung und Koalition vorgesehene Konzentration der Entscheidungsgewalt beim Bau gentechnischer Anlagen ist ebenfalls vom Tisch. Neben den für die Gentechnik zuständigen Behörden müssen damit auch weiterhin beispielsweise die für Bau- und Wasserrecht zuständigen Ämter konsultiert werden.

Eine Identität zwischen geltenden EG-Richtlinien und dem Gentechnikgesetz ist damit allerdings noch nicht hergestellt, wie Wolf-Michael Catenhusen (SPD) einräumte. Ausgeklammert wurde auch die Frage, ob Pilotanlagen für die Herstellung klinischer Prüfware ein Genehmigungsverfahren durchlaufen müssen, sagte der ehemalige Vorsitzende der Enquete-Kommission „Chancen und Risiken der Gentechnik“. Als einziges Bundesland beharrte Hessen bisher auf dieser sogenannten 10-Liter-Regelung und machte damit vor allem der Frankfurter Hoechst AG das Leben schwer.

Davon unbeirrt hat sich der Großkonzern inzwischen erneut aufs Glatteis begeben: Im bayerischen Germering kann es Anfang November wieder einmal zu Protesten gegen geplante Freilandversuche; diesmal mit gentechnisch veränderten Mais- und Rapspflanzen. Die Gewächse unterscheiden sich von ihren natürlichen Artgenossen durch ein zusätzliches Gen, welches sie unempfindlich macht gegenüber dem von der Hoechst AG hergestellten Unkrautvernichtungsmittel „Basta“ (Phosphinotricin).

Auf der vom Bundesgesundheitsamt (BGA) geführten Anhörung waren zwar nur rund 200 der 20000 Einwender erschienen, um ihre Argumente mündlich vorzutragen. Ob diese sich aber in Zukunft an die neuen Spielregeln des Gentechnikgesetzes halten werden, ist keineswegs sicher. Medienvertreter sehen der Fortsetzung des Verfahrens am 13.12. daher mit Spannung entgegen. Genehmigt werden dürfen Freilandversuche auch nach der Novellierung nur dann, „wenn nach dem Stand der Wissenschaft im Verhältnis zum Zweck der Freisetzung unvertretbare schädliche Einwirkungen auf Leben und Gesundheit von Menschen, Tieren und Pflanzen sowie die sonstige Umwelt in ihrem Wirkungsgefüge und Sachgüter nicht zu erwarten sind.“

Neben dem vom Lehrstuhl für Pflanzenbau und Pflanzenzüchtung der Technischen Universität München gestellten Antrag liegen dem BGA noch sechs weitere vor: Die Universität Bielefeld beabsichtigt an zwei Standorten in Niedersachsen und Brandenburg gentechnisch veränderte Stämme des Bakteriums Rhizobium meliloti freizusetzen. Die Bakterien gehören zur Familie der „Knöllchenbildner“, die Stickstoff aus der Luft binden und ihren pflanzlichen Symbiosepartnern als Dünger zur Verfügung stellen können. Außerdem will das Max-Planck-Institut für Züchtungsforschung in Köln Kartoffelpflanzen erproben, die mit gentechnischen Methoden gegen das Kartoffelblattrollvirus immunisiert wurden.

Die meisten Anträge, nämlich fünf von sieben, betreffen aber Pflanzen, die gegen das Hoechst-Herbizid Basta resistent sind.  Während der Versuch in Germering von Mitarbeitern der TU München durchgeführt wird, plant Hoechst unter eigener Regie vier ähnliche Experimente in Gersten (Niedersachsen), Friemar (Thüringen) Wörrstadt (Rheinland-Pfalz) und Gersthofen bei Augsburg.

Die Versuche sind Voraussetzung für eine kommerzielle Nutzung des Gens auch in Deutschland. Über die Größe dieses Marktes konnte Hoechst-Pressesprecher Jürgen Cantstetter keine Angaben machen. „Aber wenn es zu einer Zulassung kommt, wollen wir das sehr breit vermarkten.“ Dabei denkt man in Frankfurt nicht daran, genmanipulierte Pflanzen – etwa durch eine Tochterfirma – selbst zu Vertreiben. Vielmehr soll interessierten Saatgutproduzenten eine Lizenz angeboten werden, die es den Firmen erlauben würde, das Resistenzgen in ihre eigenen Sorten einzuklonieren. Weil dieser zusätzliche Arbeitsaufwand das Saatgut eher verteuern würde, rechnet Cantstetter nicht damit, daß die herbizidresistenten Gewächse in Entwicklungsländern zum Einsatz kommen.

Bereits getestet wurden Basta-resistente Tabak- und Tomatenpflanzen 1989 in Frankreich und Kanada, in den Jahren 1990 bis 1992 außerdem Sommerraps und Winterraps, Mais und Sojabohnen. Dabei sei „auf eindrucksvolle Weise die ausgezeichnete Verträglichkeit der gegenüber dem Herbizid resistenten Pflanzen“ bestätigt worden, sagte Dr. Ernst Rasche, Leiter der Geschäftseinheit Saatgut des Konzerns. Bei einem dreijährigen Versuchsprojekt zur Sicherheitsforschung, das im englischen Ascot von Wissenschaftlern des Imperial College Silwood Park durchgeführt wurde, seien keine besonderen Risiken festgestellt worden. Allerdings kam Basta damals beim Vergleich der Wettbewerbsfähigkeit transgener Rapspflanzen mit ihren unveränderten Stammlinien gar nicht zum Einsatz. Auch die Frage, ob das Resistenzgen – wie von Kritikern behauptet – auf andere Pflanzen und möglicherweise Bodenbakterien übertragen werden kann, und ob dies nachteilige Folgen für das jeweilige Ökosystem hätte, wurde bisher nicht eindeutig beantwortet.

Umstritten ist zudem, ob der Einsatz herbizidresistenter Kulturpflanzen letztlich zu einer umweltverträglicheren Unkrautbekämpfung führen wird oder zu einem erhöhten Verbrauch von „Pflanzenschutzmitteln“. Einerseits würden zum Schutz der Kulturen vergleichsweise geringe Mengen Basta ausreichen, das schnell zu unschädlichen Folgeprodukten abgebaut wird. Andererseits könnte die Verlockung groß sein, gerade deshalb alles „totzuspritzen“, was sich nicht verkaufen läßt.

Ein Blick auf die Statistik zeigt jedenfalls, daß fast 70 Prozent der rund 1000 Freilandversuche an über 40 Pflanzenarten, die bisher in den OECD-Staaten genehmigt wurden, die Entwicklung herbizidresistenter Gewächse zum Ziel hatten. Der Rest verteilt sich auf Experimente zum Schutz vor Insekten, Viren und anderen Krankheitserregern.

Die geplanten Versuche der Hoechst AG sollen mit der Aussaat Anfang Mai 1994 beginnen und nach drei Vegetationsperioden mit der Ernte im Oktober 1996 abgeschlossen sein. Neben der Zulassung sollen sie laut Firmenangaben auch „Erkenntnisse über die Vorteile dieses Herbizids im Vergleich zu herkömmlichen Behandlungsverfahren liefern“. Erstmals zugelassen wurde Phosphinotricin 1984 in Deutschland, mittlerweile wird es in 45 Ländern als sogenanntes Totalherbizid verkauft, das Kulturpflanzen und Unkräuter gleichermaßen schädigt und darum bisher weitgehend auf den Obst- und Weinbau beschränkt war. Per Gentransfer, so hoffen die Hoechster, könnte dieses Manko überwunden werden. Der Weg dahin erscheint – zumindest im Rückblick – gleichermaßen logisch und clever:

Phosphinotricin hat strukturelle Ähnlichkeit mit der in jedem Organismus vorkommenden Glutaminsäure, einem der rund zwanzig Bausteine, aus denen Proteine zusammengesetzt werden. Es hemmt ein Enzym, das Glutaminsäure und Ammoniak zu Glutamin – einem weiteren Eiweißbaustein – verbindet. Letztlich stirbt die Pflanze also an einer „Ammoniakvergiftung“. Bei Mensch und Tier wird Ammoniak dagegen durch einen anderen Entgiftungsmechanismus entsorgt.

Um nun die Wirkung von Basta auf die „unerwünschte Begleitflora“ zu begrenzen, verfielen Wissenschaftler bei der belgischen Biotechnologiefirma Plant Genetics Systems und bei Hoechst unabhängig voneinander auf die Idee, die schützenswerten Kulturpflanzen mit einem Resistenzgen auszustatten, welches Phosphinotricin zerstört. Sie fanden solch ein Gen in Bakterien der Gattung Streptomyces und übertrugen es auf eine Vielzahl von Nutzpflanzen.

Ähnliche Versuche mit einem anderen Resistenzgen sind auch bei den Firmen Ciba-Geigy, Du Pont, ICI, Shell und Unilever schon weit fortgeschritten. Auch wenn die Produkte der Chemieriesen bisher noch nirgendwo auf dem Markt sind, scheint die Entwicklung kaum mehr anzuhalten. Die bereits 1987 ausgesprochene Ablehnung herbizidresistenter Pflanzen durch die Enquete-Kommission „Chancen und Risiken der Gentechnologie“ des Bundestages ist offenbar ungehört verhallt.

(erschienen in den VDI-Nachrichten vom 3. Dezember 1993)

Rückenwind für sanfte Landwirtschaft

Forschungsmittel von etwa 17 Mio. DM, die das Land Nordrhein-Westfalen in den letzten zehn Jahren an der Bonner Universität in der Förderung einer umweltverträglichen und standortgerechten Landwirtschaft investiert hat, haben sich inzwischen amortisiert. Dieser Meinung ist zumindest Professor Wilfried Werner, Sprecher des Lehr- und Forschungsschwerpunktes, an dem derzeit 15 verschiedene Institute beteiligt sind. „Die Fördergelder werden sich auch weiterhin gut verzinsen“, sagte Werner anläßlich einer Fachtagung, zu der die laufenden Projekte vorgestellt wurden.

Die in Bonn und auf dem Versuchsbetrieb Wiesengut bei Hennef entwickelten Produktionsverfahren zielen auf einen geschlossenen Nährstoffkreislauf innerhalb der Betriebe. Durch den gleichzeitigen Anbau von Ackerbohnen mit Senfpflanzen kann beispielsweise der Bedarf an stickstoffhaltigem Dünger reduziert und die Anreicherung von trinkwassergefährdendem Nitrat im Boden weitgehend verhindert werden, wie Martin Justus vom Institut für organischen Landbau berichtete.

Um die Backqualität von Weizen aus organischem Anbau zu steigern, erprobten Joachim Schulz-Marquardt und Markus Weber eine neue Pflanzmethode. Beim sogenannten Streifenanbau von Weizen mit Klee und anderen Pflanzen aus der Familie der Knöllchenbildner „wächst“ der Dünger regelrecht aus dem Acker: Der gehäckselte Klee setzt seine mineralischen Bestandteile nur langsam frei und ermöglicht dadurch die Aufzucht eines Qualitätsweizens mit hohem Proteingehalt. Auf dem Backwarenmarkt trifft dieser Weizen derzeit auf eine erhöhte Nachfrage nach Vollkorn- und Auszugsmehlen.

Neben dem „Nährstoffmanagement“ spielt in Bonn aber auch die Kontrolle von Ernteschädlingen mit biologischen Methoden eine wichtige Rolle, ebenso die artgerechte Haltung von Nutztieren und eine Minimierung des Arzneimittelverbrauchs. Erklärte Absicht des Programmes ist es denn auch, die gewonnen Erkenntnisse möglichst zügig interessierten Landwirten zur Verfügung zu stellen.

Nach Auskunft von Professor Ullrich Köpke vom Institut für Organischen Landbau widmen sich mittlerweile rund 100 Betriebe in Nordrhein-Westfalen der sanften Landwirtschaft. Bundesweit werden 0,7% aller Nutzflächen organisch bewirtschaftet. Die „Ökobauern“ produzieren zwar ein Drittel weniger als vergleichbare konventionelle Nachbarbetriebe, sie erzielen aber am Markt deutlich höhere Preise. Dabei werden in den westlichen Bundesländern 80% der Einnahmen über die Direktvermarktung erzielt. Unter dem· Strich ist das Pro-Kopf-Einkommen dieser Betriebe daher deutlich höher. Lediglich im Vergleich mit konventionellen Spitzenbetrieben schneiden die organisch bewirtschafteten Güter schlechter ab, sagte Köpke.

Für die Zukunft befürchtet Köpke allerdings einen Strukturwandel und einen Rückgang der Erträge für die Öko-Betriebe. Ein Grund dafür ist ironischerweise ein EG-weites Subventionsprogramm, das vor zwei Jahren ins Leben gerufen wurde. Er gewährt neuen Biobetrieben einen Zuschuß von etwa 450 DM pro Jahr und Hektar. Die Pioniere des organischen Landbaus gehen dagegen leer aus.

Während der fünfjährigen Laufzeit des Programms sind sie gegenüber den Newcomern bei gleichen Kosten stark benachteiligt. Die Verdoppelung der ökologisch bewirtschafteten Flächen in Nordrhein-Westfalen seit 1991 hat bereits zu einem Preisverfall für organisch produziertes Getreide geführt. Über weitere Hilfen für die Bio-Bauern wird derzeit in Brüssel verhandelt.

(erschienen in den VDI-Nachrichten am 5. November 1993)

Eine Socke für die Gasleitung

Gewaltige Probleme bei der Umstellung der Gasversorgung sind für Berto Schnichels nichts Neues: Der Betriebsdirektor der Bonner Stadtwerke erinnert sich noch an den Beginn der sechziger Jahre: „Bei Goch am Niederrhein hatten sie damals so viele Lecks – da waren fast schon Gasfelder in der Straße.“ Keine Schlamperei am Bau, sondern die „einfache“ Umstellung der Versorgung von feuchtem Stadt- auf trockenes Erdgas hatte die Lecks hervorgerufen.

Kleine Ursache – große Wirkung: Weil jede Muffe im Netz mit Hanffasern abgedichtet worden war, gab es mit einem Mal reichlich Arbeit. Die Fasern, die von dem durchziehenden Stadtgas ständig  feuchtgehalten worden waren, hatten an Volumen verloren, sobald nur noch das trockene Erdgas durch die Leitungen strömte, und begannen, ihren Dienst zu versagen. Bei sechs Meter langen Rohrstücken mußte natürlich im gleichen Abstand mit Leckagen gerechnet werden. Gefahr drohte vor allem dort, wo das explosive Gas in Keller oder Postschächte hätte eindringen können.

Die Geschichte – von den Versorgungsunternehmen längst zu den Akten gelegt – wiederholt sich jetzt im östlichen Teil Deutschlands, wo zu DDR-Zeiten das auf der Grundlage von Braunkohle erzeugte Synthesegas verbrannt wurde. Zusätzlich zur Umstellung mußten die alten Rohre nach der Wende auch noch eine Druckanhebung von 11 auf 22 Millibar verkraften. Sie wurde erforderlich, um der wachsenden Nachfrage nach dem neuen, sauberen, Energieträger gerecht zu werden. Allein die Vereinigten Elektrizitätswerke Westfalen AG (VEW), die mit ihren Partnern 60 Prozent der Gasversorgung in der ehemaligen DDR abdecken, haben inzwischen 350000 Haushalte umgestellt und wollen bis Ende des Jahres weitere 300000 ans Netz anschließen.

Am gravierendsten ist das Problem in Berlin, wo „so etwa 17000 Leckstellen“ bis 1995 abgedichtet werden sollen. „Aber es waren auch schon ´mal mehr“, tröstet Jürgen Stur, Pressesprecher der Berliner Gaswerke. Immerhin wurden seit dem Fall der Mauer gut 5000 Löcher gestopft. Etwa zwei Drittel von insgesamt 6685 Kilometer Gasleitungen im Berliner Untergrund verlaufen im ehemaligen Westteil der Stadt und sind recht gut in Schuß. Dagegen finden sich in den östlichen Stadtteilen über 1200 Kilometer Gußrohre, die teilweise noch in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts gelegt wurden. Durch die Lecks können offensichtlich auch Wachstumsschäden an Straßenbäumen hervorgerufen werden. Rund 3000 Exemplare waren betroffen, durch die Sanierungsmaßnahmen sei jedoch eine „deutliche Entlastung“ erreicht worden.

Rund 700 Kilometer sind laut Stur noch zu sanieren; die Berliner hätten demnach allen Grund, sich auf umfangreiche Bauarbeiten samt zugehöriger Verkehrsstaus, Umleitungen, und lärmträchtiger Erdarbeiten gefaßt zu machen. Einem in Japan entwickelten Verfahren zur Schlauchauskleidung von Druckrohren haben es die gestreßten Großstadtbewohner nun zu verdanken, daß sich der Ärger in Grenzen hält.

Die Methode, mit der die Gasleitungen vor den in Japan häufigen Erdbeben geschützt werden sollten, ist das Resultat einer engen Zusammenarbeit zwischen der Tokyo Gas Company und dem Ashimori-Konzern. Beim sogenannten Paltem-Verfahren werden nicht nur die Nerven der Anwohner, sondern auch die öffentlichen Kassen geschont. Die vergleichsweise geringen Erdarbeiten machen die Methode zumindest in Großstädten und anderen verkehrsreichen Regionen zu einer preiswerten Alternative. Statt die Straße auf ganzer Länge aufzureißen und neue Rohre zu legen, müssen nämlich lediglich einige Kopflöcher geöffnet werden. Nach einer gründlichen Reinigung des zu sanierenden Leitungsabschnitts wird durch diese Öffnungen dann ein extrem belastbarer Gewebeschlauch aus Polyesterfasern unter Luftdruck in die alten Leitungen eingestülpt.

Dieser Kunststoffschlauch wurde zuvor mit einem Zweikomponentenkleber gefüllt und in einem Druckkessel auf eine Trommel gewickelt. Mit dem Einleiten von Druckluft wird der Schlauch dann umgestülpt wie eine alte Socke, wobei der Kleber an die Rohrwand gepreßt wird. Im nächsten Arbeitsschritt wird von einem mobilen Heißdampferzeuger produzierter Dampf in die Leitung geschickt, wodurch der Kleber innerhalb von zwei Stunden aushärtet. Schließlich müssen noch die zugeklebten Hausanschlüße durch einen videoüberwachten Roboter vom Rohr aus wieder aufgeschnitten werden. Der ganze Prozeß dauert etwa zwei bis drei Tage je Rohrabschnitt. Bei einer Zugfestigkeit des „Liners“ von 150 N/mm und einem Berstdruck von 5 bar sind die sanierten Leitungen dann auch gegen starke Beanspruchungen bestens gewappnet.

„Wir sind voll beschäftigt“, verkündet Dieter Hausdorf, Geschäftsführer der Kanal-Müller-Gruppe, die seit Juli des vergangenen Jahres mit dem Paltem-Verfahren arbeitet. Während damals vorwiegend im Raum Halle/Leipzig saniert wurde, hat man sich jetzt mit Dortmund erstmals auch einem Standort in den alten Ländern zugewandt. Dort sind die Leitungen zwar in der Regel in einem besseren Zustand, dennoch müssen auch die 227000 Kilometer „westdeutscher“ Rohre instandgehalten werden, deren mittlere Lebenserwartung etwa 80 Jahre beträgt. Die Kosten dafür beliefen sich nach Angaben des Bundesverbandes der deutschen Gas und Wasserwirtschaft im letzten Jahr auf 5,7 Milliarden Mark; bis 1995 rechnet man mit weiteren 17 Milliarden Mark, wobei für die neuen Länder noch keine Kostenschätzung vorliegt.

Nicht immer lohnt sich das Schlauchrelining, aber „je schwieriger die Umgebung, umso größer ist das Preisgefälle zwischen Auswechseln und Sanieren“, erklärt Hausdorf. Je nach Boden und Verkehrsverhältnissen muß für den Neubau einer Leitung mit 70 bis 300 Mark pro Meter gerechnet werden. Für eine Standardleitung von 150 Millimetern kostet das Paltem-Verfahren etwa 150 Mark je laufenden Meter, die Erdarbeiten schlagen hier nur mit durchschnittlich 25 Mark zu Buche. Begrenzt wird der Einsatz der Methode ebenso wie das verwandte Phoenix-Verfahren zum einen durch die Reduktion der Rohrkapazität als Folge des verringerten Durchmessers. Auch bei einer allzu hohen Zahl von Hausanschlüßen, die ja nachträglich wieder eröffnet werden müssen, kann die Rentabilitätsgrenze unterschritten werden. Außerdem werden parallel verlaufende Gas und Wasserleitungen aus Kostengründen oftmals gemeinsam erneuert.

Doch auch hier zeichnen sich Fortschritte ab: Weil das Verfahren prinzipiell auch auf die Sanierung von Wasserleitungen zu adaptieren wäre, blickt man bei der Kanal-Müller-Gruppe optimistisch in die Zukunft. Für den Praktiker Berto Schichels steht jedenfalls fest: „Das Folien-Relining ist heute sicherlich eines der besten Sanierungsverfahren“.

(geschrieben für die VDI-Nachrichten im Juni 1993. Erscheinungsdatum unbekannt.)

Genanalysen – Chancen und Risiken

Fluch und Segen zugleich birgt die Möglichkeit einer Gendiagnose, wie der Amerikaner Henry T. Lynch aus eigener Erfahrung zu berichten weiß. Der grauhaarige Wissenschaftler von der Creighton Universität im Bundesstaat Nebraska hat seine ganze Karriere der Untersuchung erblicher Krebserkrankungen gewidmet – eine besonders bösartige Form des Darmkrebses, das Lynch-Syndrom, trägt sogar seinen Namen.

Auf einem Fachkongreß in Bonn schilderte der Mediziner kürzlich die enormen Belastungen, unter denen die weiblichen Mitglieder einer Großfamilie aus Omaha zu leiden haben. Bei dieser Familie tritt eine aggressive, erbliche Krebsform seit Generationen mit erschreckender Häufigkeit auf. Jede zweite Frau in dieser Familie muß damit rechnen, daß sich in der Brust- oder in den Eierstöcken lebensbedrohliche Geschwüre bilden.

Ein molekularbiologisches Verfahren, das erst in den letzten Jahren entwickelt wurde, erlaubt es seit kurzem, die Frauen anhand ihrer Gene in zwei gleichgroße Gruppen zu trennen: Mitglieder der einen Gruppe werden von ihrer Angst erlöst; ihr Krebsrisiko ist nicht höher als das in der normalen Bevölkerung. Die Frauen der anderen Gruppe tragen dagegen mit 98-prozentiger Wahrscheinlichkeit ein defektes Gen. „Im Prinzip können wir das zum Zeitpunkt der Geburt feststellen“, sagt Lynch, der selbst einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung der Methode geleistet hat.

Für Frauen in der zweiten Gruppe ist das  Risiko drastisch erhöht, schon in mittlerem Alter an dem erblichen Brust-Ovariar Krebs-Syndrom (HBOC) zu erkranken. Auch durch halbjährliche Untersuchungen der bedrohten Organe und selbst die vorsorgliche operative Entfernung der Eierstöcke kann die Gefahr lediglich verringert werden. Nachdem Lynch die Frauen in ihrer vertrauten Umgebung in persönlichen Gesprächen über ihre Lage aufgeklärt hatte, stellte er eine Frage, die mit zunehmender Verbreitung genanalytischer Verfahren auf immer mehr Menschen zukommen wird: „Wollen Sie wirklich wissen, ob Sie in 15, 20 oder 40 Jahren damit rechnen müssen, an einer möglicherweise unheilbaren, tödlichen Krankheit zu leiden?“

Nach einer dreiwöchigen Bedenkzeit und eingehender Beratung entschieden sich die meisten Frauen schließlich für den Gentest. Menschliche Dramen hätten sich abgespielt, als die Resultate bekannt gegeben wurden, erinnert sich Lynch. Dramatisch auch ein weiteres Ergebnis: Unter den Frauen, bei denen ein defektes Gen gefunden wurde, verlangte die Hälfte, sämtliche Eintragungen in den Krankenakten zu löschen.

„Die Versicherungen sind ganz wild auf diese Daten, weil sie die Menschen mit erhöhtem Risiko am liebsten ausschließen würden“, erläutert Lynch. Um ähnliche Machenschaften in Deutschland bereits im Keim zu ersticken, streben Mitglieder aller im Bundestag vertretenen Fraktionen eine Ergänzung des Grundgesetzes an. Dort soll, gemäß einem Vorschlag der Verfassungskommission, in Artikel 74 die künstliche Befruchtung beim Menschen sowie die Untersuchung und die künstliche Veränderung von Erbinformationen aufgenommen werden. Ein Gesetz zur Genomanalyse würde damit auch der Zustimmung des Bundesrates bedürfen und hätte dann – im Gegensatz zu anderen gesundheitsrechtlichen Gesetzen – über die Ländergrenzen hinaus Gültigkeit.

Von einer bundeseinheitlichen Regelung erwartet die forschungspolitische Sprecherin der SPD, Edelgard Bulmahn zum Beispiel eine Garantie der „informationellen Selbstbestimmung“. Genetische Daten müßten demnach im Patienten-Arzt-Verhältnis verbleiben und dürften nicht an Dritte weitergegeben werden.

Nach Meinung von Kritikern wird es für solch eine Regelung höchste Zeit: Das „Human Genome Projekt“, mit dem in weltweiter Kooperation alle Erbanlagen des Menschen entschlüsselt werden sollen, schreitet schneller voran, als selbst Optimisten zu hoffen wagten. Schon Ende des nächsten Jahres könnten sämtliche geschätzt 75000 Gene des Homo sapiens kartiert sein (Anmerkung: Die Schätzung war viel zu hoch; derzeit geht man von ca. 21000 menschlichen Genen aus).

Die Versuchung, aufgrund der dann vorliegenden Daten, ungeborene Kinder, Ehepaare, Arbeitssuchende und Versicherungsnehmer anhand ihrer genetischen Daten zu beurteilen, wird auch unter Wissenschaftlern als ernsthafte Bedrohung empfunden. So befanden sich der amerikanische Gentherapie-Pionier French Anderson und sein Landsmann, der Gentechnik-Kritiker Jeremy Rifkin schon vor drei Jahren in seltener Übereinstimmung mit ihrer Forderung nach umfassendem Schutz für die genetischen Daten des Einzelnen.

Fundamentale ethische und soziale Probleme sieht auch der renommierte Molekularbiologe Benno Müller-Hill auf die Gesellschaft zukommen. In einem Beitrag für die britische Fachzeitschrift „Nature“ wagte der am Institut für Genetik der Universität zu Köln arbeitende Professor kürzlich einen Ausblick auf die nächsten dreißig Jahre. Er geht davon aus, daß Fortschritte in der Erkennung genetischer Eigenschaften am Anfang stehen, die Behandlung von Krankheiten dagegen möglicherweise um Jahrzehnte hinterher hinken wird.

Müller-Hill, der seine Kollegen neben der Arbeit als Grundlagenforscher auch mit Enthüllung über medizinische Verbrechen während des Dritten Reiches konfrontierte, lehnt Gentests keinesfalls grundsätzlich ab. „Wenn eine Person einen Gentest wünscht, dann soll sie den auch haben.“ Praktische Tests seinen aber sinnvoller. So wäre ein einfacher Rechentest bei der Aufnahme an der mathematischen Fakultät einer Universität sicherlich nützlicher als eine – derzeit noch nicht machbare – Genomanalyse. „Auch wenn es um den Arbeitsschutz geht, bin ich gegen erzwungene Gentests“, sagte Müller-Hill gegenüber den VDI-Nachrichten.  Allerdings räumt der Gen-Ethiker ein, daß Menschen, die ihrem Arbeitgeber oder der Versicherung freiwillig Daten präsentieren, welche auf ein geringes Risiko hinweisen, trotzdem im Vorteil wären.

Die Zuverlässigkeit derartiger Risikoanalysen wäre ohnehin begrenzt. Denn auch wenn ein Labortechniker in zehn Jahren möglicherweise in der Lage sein sollte, mit einem einfachen Test festzustellen, ob ein Embryo bereits eine Veranlagung für Krebs, Herzkrankheiten oder Fettleibigkeit hat – Zeitpunkt und Schweregrad der Erkrankung werden sich bestimmt nicht auf einer Farbskala ablesen lassen. Ein Großteil der menschlichen Eigenschaften scheint zudem von mehreren Genen gleichzeitig beeinflußt zu sein. Das, den Bundestag beratende Büro für Technikfolgen-Abschätzung weist darauf hin, daß die Wahrscheinlichkeit des Ausbruchs einer Krankheit trotz einer „genetischen Veranlagung“ häufig nur 10 bis 20 Prozent beträgt. Die pränatale Diagnose solch schwer zu quantifizierender Eigenschaften wie Intelligenz und Toleranz muß deshalb nicht prinzipiell unmöglich sein. Derzeit werden bereits Untersuchungen an verschiedenen Hunderassen durchgeführt mit dem Ziel, den Einfluß der Erbsubstanz auf die Charaktereigenschaften der Tiere zu ermitteln.

Auch ohne derartige Forschungsprojekte werden die sozialen Spannungen zunehmen, glaubt Müller-Hill. „Man kann sich vorstellen, daß es zu Protestbewegungen derjenigen kommt, die beschlossen haben, ihre genetische Identität nicht preiszugeben. Es wird auch Fundamentalisten geben, die sich niemals testen lassen, weil sie selbst die Resultate nicht wissen wollen. All diese Gruppen werden schwere soziale Nachteile in Kauf nehmen müssen.“

Die Wende werde erst kommen, prophezeit der Genetiker, wenn die obersten Gerichte entscheiden, daß die „genetische Ungerechtigkeit“ ungeheure Ausmaße annommen hat. Dann werde man es Angestellten und Versicherungsnehmern erlauben, falsche Daten zu präsentieren, ohne sie dafür gesetzlich zu belangen. Ein ganz ähnliches Urteil fällte übrigens im Frühjahr das Bundesverfassungsgericht: Schwangere Frauen dürfen beim Einstellungsgespräch über ihren Zustand lügen, befanden Deutschlands oberste Richter.

Der „Schatten genetischer Ungerechtigkeit“ wird nach der Prognose Müller-Hills vor allem auf diejenigen fallen, die von einem der zahlreichen Leiden des zentralen Nervensystems befallen sind. Erbanlagen, die für Schizophrenie, manische Depression oder niedrige Intelligenz verantwortlich sein können, vermutet er in Europa und den Vereinigten Staaten bei mindestens zehn Prozent der Bevölkerung. „Es wird nun behauptet, diese Eigenschaften seien vererbt. Tatsächlich ist aber sowohl der Einfluß der Familie als auch die Beitrag von Umweltfaktoren noch unklar.“

Eine Öffentlichkeit, die davon überzeugt ist, daß etwa eine bestimmte Geisteskrankheit ausschließlich auf defekte Gene zurückzuführen ist, wird die Erforschung und Beseitigung möglicher anderer Ursachen daher vernachlässigen, befürchtet der Molekularbiologe. „Es ist so viel einfacher, eine Pille zu verschreiben, als die sozialen Zustände zu ändern, die für die Schwere der Symptome verantwortlich sind.“

Den Schluß, daß man auf das Wissen über „gute“ und „schlechte“ Gene verzichten könne, hält Müller-Hill aber für falsch. Die neuen Kenntnisse würden seiner Meinung nach lediglich die Realität sichtbar machen und dadurch die Ungerechtigkeit in der Welt betonen. Dadurch würden dann Gesetze erforderlich, um die genetisch Benachteiligten zu schützen. „Soziale Gerechtigkeit muß genetische Ungerechtigkeit kompensieren.“

(Originalfassung eines Artikels für die VDI-Nachrichten, erschienen am 8. Oktober 1993)

Weitere Infos / Quellen:

  1. Müller-Hill B. The shadow of genetic injustice. Nature. 1993 Apr 8;362(6420):491-2. doi: 10.1038/362491a0.
  2. Hennen, Leo; Petermann, Thomas; Schmitt, J.-J.: TA-Projekt „Genomanalyse“: Chancen und Risiken genetischer Diagnostik. Endbericht (kostenlos abrufbar hier).

Politiker misstrauen Gentests

Die Genomanalyse ermöglicht die Früherkennung von Krankheiten. Doch je weiter die menschlichen Gene entschlüsselt werden, desto größer ist auch die Möglichkeit, das neue Wissen zu mißbrauchen. Das ergab eine Studie im Auftrag des Büros der Technikfolgenabschätzung des Bundestages (TAB). Für Forschungspolitiker entsteht daraus die Forderung nach gesetzlichen Regelungen für die Nutzung der Genomanalyse.

Die immer schneller voranschreitende Entschlüsselung des menschlichen Erbmaterials wird nach Meinung der Experten eine ganze Reihe ethischer und rechtlicher Probleme mit sich bringen. Für den Einzelnen werde diese Entwicklung von größerem Einfluß sein als beispielsweise die Entdeckung der Kernspaltung, mußmaßte Professor Karl-Hans Laermann vor der Bonner Wissenschaftspressekonferenz. „Eine freiwillige Selbstbeschränkung reicht deshalb nicht aus – wir streben eine bundesweite Regelung an“, sagte der forschungspolitische Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion.

Schon heute besteht die Möglichkeit, über 700 verschiedene Krankheiten durch einen Gentest festzustellen. Zum Teil handelt es sich dabei um Krankheiten mit tödlichem Ausgang, für die es noch keinerlei Therapie gibt.

In der TAB-Studie wird nicht nur der Trend erkennbar, die Möglichkeiten der vorgeburtlichen Diagnose immer mehr auszuschöpfen. Es zeichnet sich auch ab, daß unerwünschte Merkmale immer häufiger mit „krank“ gleichgesetzt werden. Edelgard Bulmahn, stellvertretende forschungspolitische Sprecherin der SPD-Bundestagsfraktion, verwies in diesem Zusammenhang auf eine Befragung von Schwangeren, die ergab, daß eine genetische Veranlagung des Embryos zur Fettleibigkeit für 18 % aller Frauen ein Grund zur Abtreibung wäre.

Um derartige Mißbräuche auszuschließen, forderte Frau Bulmahn, pränatale Genomanalysen nur in Ausnahmen zuzulassen, etwa dann, wenn es sich um schwerwiegende Krankheiten handelt, deren Erkennung eine Behandlung vor der Geburt ermöglicht. Ebenfalls erlaubt wäre ein Gentest zur Früherkennung schwerwiegender Krankheiten, die im Kindes-oder Jugendalter auftreten und nicht therapierbar sind. Ein entsprechender Indikationskatalog sollte von der ärztlichen Standesvertretung unter Beteiligung von Patienten-Selbsthilfegruppen erstellt werden, meinte die SPD-Abgeordnete.

Enge Grenzen müssen nach dem Willen aller Beteiligten auch bei den Versicherungsgesellschaften gezogen werden, die ein besonders großes Interesse daran haben, ihr Risiko durch den Ausschluß krankheitsgefährdeter Menschen zu minimieren, was in den USA schon heute der Fall ist. „Die exakte Kenntnis des individuellen Risikos ist mit dem Versicherungsgedanken der Solidargemeinschaft unvereinbar“, erklärte dazu Karl-Hans Laermann. Deshalb dürften genetische Analysen in diesem Zusammenhang nicht gefordert werden. Ob man sich mit diesen Vorstellungen auf EG-Ebene durchsetzen kann, wurde jedoch allgemein bezweifelt.

Am Arbeitsplatz soll eine Analyse des Erbguts nur dann möglich sein, wenn dadurch Risiken für den Arbeitnehmer vermieden werden. Beispiel: Für den Bäckerlehrling wäre es gesundheitsschädigend, wenn er seine Mehlstauballergie nicht rechtzeitig erkennt. Dem Arbeitgeber darf dagegen nach den Vorstellungen der Forschungspolitiker kein Anspruch auf die genetischen Daten seiner Angestellten gewährt werden.

Ergänzt werden soll der Schutz der persönlichen genetischen Daten durch das „Recht auf Wissen“. Demnach wird es dem Einzelnen prinzipiell erlaubt sein, einen Gentest in Anspruch zu nehmen, allerdings nur nach vorheriger Beratung durch einen Fachmann. Fraglich bleibt dann bloß, was ein gesunder junger Mensch macht, wenn er durch einen Test erfährt, daß er mit 40 an einer unheilbaren Krankheit leiden wird. Das ist die Kehrseite des Wissens.

(erschienen in den VDI-Nachrichten am 24. September 1993)

Gentherapie gegen Rheuma geplant

Nachdem ich die Redakteursstelle bei der WELT aufgegeben hatte, folgten meine ersten Jahre als Freier Journalist für Medizin & Wissenschaft. Häufig habe ich dann ein Thema mehreren Regionalzeitungen gleichzeitig angeboten, was vor dem Internet bei nicht überlappenden Verbreitungsgebieten der Print-Ausgaben problemlos möglich war. Manchmal wurde auch noch eine Fachversion erstellt, beispielsweise für das Deutsche Ärzteblatt oder die Ärzte-Zeitung, oder die Infos wurden als Teil eines größeren Artikels einem Magazin angeboten. Ein Beispiel ist dieser Text, den ich hier in 3 Versionen poste:

(Süddeutsche Zeitung, 26. August 1993, gekürzt in der Stuttgarter Zeitung am 28. August)

Eine neue Strategie gegen die schmerzhaften Gelenkkrankheiten Rheuma und Arthrose wollen Wissenschaftler in Düsseldorf und Pittsburgh gemeinsam erproben. Fast jeder zweite Bundesbürger über 65 leidet unter den Beschwerden, denen mit Medikamenten oftmals nicht beizukommen ist. Bei den gebräuchlichen Arzneien, die in Pillenform aufgenommen oder mit einer Spritze in die Blutbahn injiziert werden, kommt es außerdem häufig zu Nebenwirkungen, die dann ebenfalls mit Medikamenten gelindert werden müßen.

Durch einen Gentransfer in die Zellen der Gelenkinnenhäute gelang es den Molekularbiologen im Tierversuch an Kaninchen, das Problem an der Wurzel zu packen. Dabei wurden zunächst mit einer Arthroskopie Zellen aus dem erkrankten Gelenk entfernt. Anschließend schleußten die Forscher im Labor mit Hilfe von Fettkörperchen (Liposomen) das IRAP-Gen in die Zellen ein. Dadurch erhielten die kranken Zellen die Fähigkeit, ein Eiweiß herzustellen – das Interleukin-Rezeptor-Antagonist-Protein – welches das Hormon Interleukin 1 blockiert und dadurch der Rheumaentstehung entgegenwirkt.

Nachdem die genmanipuierten Zellen wieder in die Gelenke der Tiere zurücktransplantiert wurden, produzierten die Tiere das schützende Eiweiß bis zu sechs Wochen lang. Sowohl die für Rheuma typische Entzündung als auch die anschließende Zerstörung des Knorpels wurden dadurch verhindert. Hauptziel der Wissenschaftler ist es jetzt, die Wirksamkeit der transferierten Gene möglichst lange zu erhalten. Allzu häufige Eingriffe an den späteren Patienten mit den dazugehörigen Injektionen veränderter Zellen in die Gelenke wären nicht nur schmerzhaft und unpraktisch, sie könnten auch selbst zu neuen Entzündungen führen.

Die Drei-Mann-Firma Orthogen will als Träger des Projekts das Prinzip unter Leitung von Peter Wehling zur Anwendungsreife weiterentwickeln. Unterstützt wird Wehling dabei vom Minsterium für Wirtschaft, Mittelstand und Technologie des Landes Nordrhein-Westfalen, das insgesamt 1,25 Millionen Mark bereitstellt. Wehling, der etwa zwei Millionen Mark Kapital aufgebracht hat, hofft darauf, in „zwei bis drei Jahren“ die ersten menschlichen Patienten behandeln zu können. Das Konzept sieht vor, daß Gelenkhautinnenzellen dann jeweils von Spezialisten vor Ort entnommen und anschließend per Spezialtransport nach Düsseldorf gebracht werden, wo der Gentransfer stattfinden soll. Die genmanipulierten Zellen würden dann – so Wehlings Vision – zurückgeflogen und den Patienten während einer ambulanten Behandlung verabreicht.

(VDI-Nachrichten, 27. August 1993)

Rheuma und Arthrose könnten in zwei bis drei Jahren durch eine Gentherapie behandelt werden, so die Hoffnung von Peter Wehling, Leiter der Düsseldorfer Firma Orthogen. In Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern der Universität Pittsburgh soll in der nordrhein-westfälischen Landeshauptstadt ein Verfahren entwickelt werden, bei dem bundesweit kranke Zellen aus den Gelenken der Patienten entnommen und anschließend in einem zentralen Labor korrigiert werden. Nach dem Rücktransport sollen die genmanipulierten Gelenkhautinnenzellen den Rheumakranken dann während einer ambulanten Behandlung wieder verabreicht werden.

Nach Angaben von Wehling leidet in Deutschland fast jeder zweite Rentner an den oft sehr schmerzhaften Gelenkkrankheiten Rheuma und Arthrose. Im Extremfall müßten täglich bis zu acht verschiedene Medikamente eingenommen werden.

Gegenüber den bisherigen Medikamenten hätte das gentechnische Verfahren den Vorteil, daß schützende Wirkstoffe direkt im Gelenkspalt produziert würden, statt den gesamten Organismus zu überschwemmen. Im Gegensatz zu herkömmlichen Arzneien, die in Pillenform oder als Spritze verabreicht werden, seien daher bei dem neuen Verfahren Nebenwirkungen nicht zu erwarten, erklärte der Begründer der Technologie, Professor Chris Evans von der Universität Pittsburgh.

Bisher wurde der Gentransfer in die betroffenen Zellen der Gelenkinnenhäute jedoch lediglich an Kaninchen erprobt. Dazu schlossen die Forscher ein Therapiegen in kugelförmige Fettkörperchen, (Liposomen) ein, die nach Kontakt mit der Zellmembran ihre Fracht in das Zellinnere entlassen. Die Zellen nutzten daraufhin bis zu sechs Wochen lang den molekularen Bauplan zur Herstellung eines Eiweißes, des Interleukin-Rezeptor-Antagonist-Proteins (IRAP). IRAP wiederum blockierte das Hormon Interleukin-1, welches bei der Rheumaentstehung eine entscheidende Rolle spielt.

Die Rechnung der Wissenschaftler ging auf; die für Rheuma und Arthrose typischen Entzündungen und Knorpelzerstörungen im Gelenk konnten bei den Tieren verhindert werden. Obwohl die Wirkungsdauer vor einer Anwendung des Verfahrens am Menschen noch wesentlich verlängert werden müßte, fördert das Ministerium für Wirtschaft, Mittelstand und Technologie des Landes Nordrhein-Westfalen das Projekt mit rund 1,25 Millionen Mark. Damit wolle man ein Standortsignal setzen für die Bio- und Gentechnologie und zur besseren Akzeptanz beitragen, erklärte Staatssekretär Hartmut Krebs: „Dies ist auch ein Stück PR zur Ermutigung von Wissenschaftlern in unserem Land.“

(unveröffentlichte Version für Deutsches Ärzteblatt vom 30. August 1993)

Eine Gentherapie gegen Rheuma und Arthrose soll in Zusammenarbeit zwischen der Universität Pittsburgh und der Düsseldorfer Firma Orthogen entwickelt werden. Das Vorhaben wird vom Ministerium für Wirtschaft, Mittelstand und Technologie des Landes Nordrhein-Westfalen mit 1,25 Millionen Mark gefördert. „Dies ist auch ein Stück PR zur Ermutigung von Wissenschaftlern in unserem Land“, sagte Staatsekretär Hartmut Krebs vor Journalisten in Düsseldorf.

Der Transfer von Genen mit antiarthritischen Eigenschaften in Gelenkhautinnenzellen wurde bisher allerdings lediglich bei Kaninchen erprobt. Dort gelang es der Arbeitsgruppe von Professor Chris Evans an der University of Pittsburgh School of Medicine durch Blockade des Rezeptors für Interleukin-1, Entzündungen und Zerstörung des Knorpels im Gelenk zu verhindern.

Ursprünglich hatte man versucht, Synovialzellen durch die Injektion von rekombinanten Retroviren direkt im Gelenk zu transduzieren. Dies scheiterte daran, daß Retroviren nur sich teilende Zellen infizieren können, die Gelenkhautinnenzellen aber lediglich eine sehr geringe mitotische Aktivität aufweisen. Dagegen war man beim Gentransfer in vitro erfolgreich: In Liposomen verpackte Kopien des IRAP-Gens wurden in Synovialzellen eingeschleust, die zuvor dem Gelenk entnommen worden waren. Nach Retransplantation produzierten die Zellen bis zu sechs Wochen lang das Interleukin-Rezeptor-Antagonist-Protein (IRAP).

Nebenwirkungen erwartet Evans von der neuen Methode nicht, da die eingeschleusten Gene im Gegensatz zu gebräuchlichen Medikamenten ihre Wirkung nur im Gelenkspalt entfalten würden. Da Evans beim Gentransfer auf den Einsatz von Retroviren verzichtet, schließt er eine Gefährdung der Patienten aus. „Bisher ist noch kein Empfänger fremder Gene als Folge solch einer Behandlung erkrankt.“

Innerhalb von „zwei bis drei Jahren“ soll das Verfahren jetzt zur klinischen Anwendung gebracht werden, sagte Orthogen-Geschäftsführer Peter Wehling. Wichtigstes Ziel der Wissenschaftler ist es dabei, die Dauer der Genexpression erheblich zu steigern. Der Orthopäde stellt sich dabei vor, daß lokal durch Arthoskopie gewonnene Synovialzellen nach Düsseldorf geflogen und dort im Speziallabor mit antiarthritischen Genen versehen werden. Anschließend – so Wehlings Vision – werden die Zellen in einer ambulanten Behandlung den Patienten vor Ort reimplantiert. Auch einen Preis kann der habilitierte Neuroimmunologe schon heute nennen: „Zwischen 10000 und 40000 Mark“ soll ein einzelner Gentransfer kosten.

Heftig kritisiert wurde Wehling unterdessen vom Präsidenten der Deutschen Gesellschaft für Rheumatologie, Professor Joachim R. Kalden:  „Das so darzustellen, ist gefährlich, unkritisch und falsch“, sagte Kalden gegenüber dem Ärtzeblatt.

Eine amerikanische Studie zur Inhibition von IL-1 habe bei weitem nicht den Erfolg gebracht, den man sich hätte vorstellen können, erklärte der Neuroimmunologe. Dagegen habe man mit der Hemmung von TNF- durch monoklonale Antikörper sowohl im Tierversuch als auch am Patienten sehr gute Erfolge erzielt.

„Ich meine, daß man in der Diskussion über die Hierarchie der Zytokine, die für die Perpetuation der Inflammation bei der chronischen Polyarthritis verantwortlich sind, noch ganz am Anfang steht. Es sieht so als, als ob IL-1 ein Kandidat sei, möglicherweise aber nicht der entscheidende. Jetzt schon Pressekonferenzen über eine Gentherapie bei der chronischen Polyarthritis zu entwickeln, halte ich für sehr gewagt.“

Quelle: Pressekonferenz und Telefonat, keine Fachpublikation.

Was wurde daraus? Nach dieser Ankündigung machte Prof. Wehling noch mehrfach Schlagzeilen, unter anderem im Jahr 2009 mit einem „Ersten Hinweis auf klinische Erfolge der Gentherapie„. Etabliert ist das Verfahren allerdings bis heute nicht. Bei der Firma Orthogen, die laut der Webseite Bionity.com inzwischen 25 Mitarbeiter hat, zielt man nun offenbar weniger hoch und bewirbt stattdessen mit Orthokin(R) „ein Medizinprodukt zur Herstellung Autologen Conditionierten Serums, das entzündungshemmende Zytokinantagonisten und Wachstumsfaktoren enthält“. Außerdem arbeitet man an einer „neuartigen Stammzelltechnologie zur Knorpelregeneration aus nicht-embryonalen Stammzellen“, die jedoch keine eigene Erfindung darstellt, sondern „exklusiv von Harvard lizensiert“ wurde. 

Maßnahmen gegen Sommersmog

Die von Umweltminister Klaus Töpfer in der letzten Woche vorgelegte Sommersmog-Verordnung der Bundesregierung ist unter Beschuß geraten, noch bevor sie dem Bundesrat zur Beratung zugeleitet werden konnte. Die Festlegung von Konzentrationswerten für Stickoxide, Benzol und Ruß erleichtert zwar verkehrsrechtliche Maßnahmen durch die örtlichen Behörden – eine deutliche Verminderung des bodennahen Ozons aber wird Kritikern zufolge durch die neue Verordnung nicht erreicht.

Erst wird gemessen, ab dem 1. Juli 1995 darf dann gehandelt werden. Mit diesem Datum treten die neuen Konzentrationswerte in Kraft, die nach langem Tauziehen zwischen Umwelt- Verkehrs- und Wirtschaftsministerium festgelegt wurden. Ziel der Verordnung ist es, den verkehrsbedingten Sommersmog zu bekämpfen. Als Indikatorsubstanzen wählte man Stickoxide (NOx), Benzol und Ruß. Während Benzol und Ruß vor allem wegen ihres krebserregenden Potentials von Bedeutung sind, führen Stickoxide zusammen mit flüchtigen Kohlenwasserstoffen unter Sonneneinstrahlung zur Bildung des Reizgases Ozon.

Der „Ernstfall“ tritt nach dem Willen der Bundesregierung ein, wenn im Jahresmittel mehr als 160 Mikrogramm NOx pro Kubikmeter Luft gemessen, oder aber kurzfristig 320 Mikrogramm (μg) überschritten werden. Für Ruß gilt zunächst ein Jahresmittelwert von 14 μg, der zum 1. Juli 1998 auf 8 μg abgesenkt wird. Auch bei Benzol sind zwei Stufen vorgesehen: Im ersten Schritt gilt ein Konzentrationswert von 15 μg, der drei Jahre später auf 10 μg reduziert wird.

Aus Stichproben weiß man, daß sämtliche Werte vielerorts deutlich überschritten werden, besonders wenn die Meßungen – wie vorgesehen – in engen Straßenschluchten mit geringer Luftzirkulation ausgeführt werden.

Die „erforderlichen Verkehrsmaßnahmen“ – sprich Umleitungen und Straßensperrungen, Geschwindigkeitsbeschränkungen und Fahrverbote – scheinen daher unvermeidlich, drohen aber erst in zwei Jahren. Welche Schritte dann im Einzelnen eingeleitet werden, bleibt den zuständigen Verkehrsbehörden überlassen. „Wir können nicht von Bonn aus beurteilen, welche Maßnahmen vor Ort sinnvoll sind“, begründet Töpfer das Verfahren. Eine Verwaltungsvorschrift, die jetzt noch zwischen der Bundesregierung und den Ländern ausgehandelt werden muß, soll jedoch Prioritäten setzen und eine „Harmonisierung“ der Bemühungen erreichen.

Den Kommunen bleibt trotz der scheinbar großzügig bemessenen Frist bis zum Juli 1995 nicht viel Zeit: Während Staub und Schwefeldioxid, Ozon und Stickoxide bereits flächendeckend erfaßt werden, fehlen die Geräte zur Meßung von Benzol und Ruß. Sie kosten zwischen 100000 und 300000 Mark pro Anlage und müßen trotz technischer Unvollkommenheiten bei der Rußmeßung spätestens im Sommer 1994 einsatzbereit sein, damit ein Jahr später die geforderten Jahresdurchschnittswerte zur Verfügung stehen.

Von den Neuanschaffungen – in der Stadt Hamburg werden beispielsweise vier neue Geräte benötigt – profitieren in erster Linie die Anwohner vielbefahrener Straßen. Sie leiden am stärksten unter den krebserregenden Benzol- und Ruß-Emissionen der Autos. Mit der Festschreibung von Konzentrationswerten wird ihnen ein mächtiges Druckmittel in die Hand gegeben, denn kaum ein Straßenverkehrsamt wird sich dem Vorwurf aussetzen wollen, dem Überschreiten dieser Werte tatenlos zuzusehen. Bis zu zehn zusätzliche Leukämiefälle pro 100000 Einwohner gehen nach Schätzungen allein auf das Konto des leichtflüchtigen Kohlenwasserstoffs Benzol, der zu 90 Prozent im Zusammenhang mit dem Kraftfahrzeugverkehr freigesetzt wird.

Allzu hohe Konzentrationen dieses Schadstoffes sollen gemäß der neuen Verordnung nun in erster Linie durch verkehrsplanende und verkehrslenkende Maßnahmen verhindert werden, was letztlich aber nur zu einer Umverteilung der Schadstoffe führen würde. Fahrverbote sind erst an zweiter Stelle vorgesehen, wobei Autos, die mit einem Katalysator ausgestattet sind, sowie Diesel mit einem Partikelwert von weniger als 0,08 Gramm je Kilometer verschont blieben.

Durch einen geregelten Drei-Wege-Katalysator kann nämlich der Ausstoß an Stickoxiden um 90 Prozent, der an Benzol um bis zu 85 Prozent reduziert werden. Im Stadtverkehr allerdings werden diese Werte in der Regel deutlich unterschritten, weil die optimale Betriebstemperatur auf den meist nur kurzen Strecken nicht erreicht wird. Gegenwärtig sind etwa 40 Prozent der deutschen Fahrzeugflotte mit einem Katalysator ausgerüstet; die 100-Prozent Marke hofft Töpfer in fünf Jahren zu erreichen, wenn die „schmutzigen“ Wagen älterer Baujahre weitgehend von den Straßen verschwunden sind.

Von der jetzt vorgelegten Sommersmog-Verordnung erwartet der Umweltminister jedoch nicht nur die Reduktion krebserregender Stoffe in der Atemluft. Zusammen mit anderen Maßnahmen glaubt Töpfer vielmehr eine „deutliche Minderung der Emissionen von Vorläufersubstanzen für Ozon“ bewirken zu können – und zwar „trotz der erwarteten Zunahme des Verkehrs.“

Ganz anders sieht dies das Berliner Umweltbundesamt. Von lokalen Maßnahmen seien keine großen Änderungen bei den Vorläufersubstanzen zu erwarten, hieß es aus der zentralen Umweltbehörde des Bundes, die auch für die wissenschaftliche Beratung des Ministers zuständig ist. Selbst weitgehende Sperrungen der Innenstädte brächten demnach lediglich „Veränderungen im Prozentbereich“, erklärte Pressesprecher Dr. Holger Brackemann.

Nötig seien dagegen Reduktionen der Vorläufersubstanzen um 70 bis 80 Prozent, um die 120 μg pro Kubikmeter Luft nicht wesentlich zu überschreiten, die vom VDI als Orientierungswert für Risikogruppen angesetzt werden. Auch die Ausrüstung der gesamten Pkw-Flotte mit geregeltem Drei-Wege-Kat würde dafür nicht ausreichen.

Gefordert sei deshalb ein generelles Tempolimit von 100 Stundenkilometern auf Autobahnen und Tempo 80 auf Landstraßen, sagte Dr. Klaus Kübler, stellvertretender Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion in der Enquete-Kommission „Schutz der Erdatmosphäre“. Erst vor wenigen Wochen war die Hessische Landesregierung mit einer „Ozon-Verordnung“ vorgeprescht und hatte Töpfer damit unter Zugzwang gesetzt.

Trotz juristischer Unsicherheiten wurde in Wiesbaden beschlossen, ein Tempolimit zu verhängen, wenn mindestens drei der 33 Meßstellen des Landes Ozonwerte über 240 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft melden. Auf Autobahnen dürfen dann nur noch 90, auf Landstraßen 80 Stundenkilometer gefahren werden. Während Umwelt- und Verkehrsministerium in dem rot-grün regierten Bundesland an einem Strang ziehen und ein Tempolimit auch ohne Ozonalarm für sinnvoll halten, ist die Lage in Bonn weniger harmonisch:

Nach Darstellung des SPD-Umweltexperten Michael Müller leisteten sowohl das Bonner Verkehrs- als auch das Wirtschaftsministerium Widerstand gegen die ursprünglich von Töpfer vorgeschlagenen Konzentrationswerte für Ruß und Benzol, die nun erst ab 1998 gelten werden.

(Originalversion eines Artikels für die VDI-Nachrichten, erschienen am 30. Juli 1993)

Weitere Infos:

Hintergrundpapier Sommersmog des Umweltbundesamtes

Gentherapie heilt Immunschwäche

Ein Rückblick ins Jahr 1993, als das Forschungsgebiet der Gentherapie im Aufbruch war. Als gelernter Molekularbiologe war ich von den Möglichkeiten fasziniert und bin heute ein bisschen enttäuscht, dass man nicht schneller vorangekommen ist. Enttäuscht bin ich aber auch von Roland Mertelsmann, den ich damals auf mehreren Dienstreisen kennen gelernt habe, und dessen Name auf 58 Forschungsarbeiten auftaucht, die laut einem Gutachten der Deutschen Forschungsgemeinschaft „gefälscht oder fälschungsverdächtig“ sind.

Zwei kleine, gesunde Mädchen sind der bislang überzeugendste Beweis dafür, daß die Gentherapie erfolgreich sein kann, wo die klassische Medizin an ihre Grenzen stößt. Vor knapp drei Jahren erhielt Ashanti Desilva am Nationalen Gesundheitsinstitut der USA eine Infusion mit etwa einer Milliarde gentechnisch veränderter weißer Blutzellen. Die sechsjährige Ashanti, die damals an einer lebensbedrohlichen und äußerst seltenen Immunschwächekrankheit litt, führt heute ebenso ein normales Leben wie die elf Jahre alte Cynthia Cutshall, die wenige Monate später behandelt wurde.

Im Rückblick wird das historische Experiment als „Meilenstein in der Geschichte der Medizin“ gefeiert, die beteiligten Ärzte gelten als sichere Kandidaten für den Nobelpreis. Was W. French Anderson, Michael Blaese, Kenneth Culver und andere in mittlerweile gut 25 Studien an knapp 100 Patienten vorexerzierten, soll nun auch in der Bundesrepublik stattfinden:

An der Freiburger Universitätsklinik setzt Roland Mertelsmann auf die Gentherapie, die im Herbst bei 14 krebskranken Freiwilligen erprobt werden soll. Alle herkömmlichen Methoden haben bei diesen Patienten versagt – ein Grund mehr für den Mediziner, die Erwartungen nicht zu hoch zu schrauben. „Mehrere hundert Krebskranke haben bereits nachgefragt“, berichtet Mertelsmann.

Noch stehen die Erwartungen in krassem Mißverhältnis zu den eher spärlichen Erfolgsmeldungen. Andererseits gibt es eine Vielzahl von Gründen für den Optimismus der Beteiligten. Während Arzneimittel in aller Regel nur die Symptome einer Krankheit behandeln können, läßt sich das Übel durch eine Gentherapie oft unmittelbar an der Wurzel packen. Statt Chemikalien im Körper des Patienten abzulagern, liefert die Gentherapie den betroffenen Zellen die fehlenden Informationen, erklärt Detlev Ganten, Direktor des Max-Delbrück-Centrums für Molekulare Medizin in Berlin.

Im Falle von Ashanti und Cynthia war diese Information ein Gen, welches die Bauanleitung für ein einziges Eiweiß enthält. Ohne diesen Biokatalysator – die Adenosin-Deaminase – sammelten sich im Körper der Mädchen Stoffwechselprodukte an, die zu einer schleichenden Vergiftung wichtiger Abwehrzellen führten. Eine nicht abreißende Serie von Infektionen war die Folge; ohne die ständige Einnahme starker Antibiotika hätten die Kinder die Zeit bis zu dem rettenden Eingriff vermutlich nicht überlebt.

Zwar steht seit kurzem das fehlende Eiweiß auch in Medikamentenform zur Verfügung. Die Arznei hat aber gravierende Nebenwirkungen und konnte in mindestens drei Fällen das Leben der kleinen Patienten nicht mehr retten. Weltweit gibt es kaum 30 Kinder, die unter dieser Krankheit – der ADA-Defizienz – leiden. Trotzdem hatten Anderson, Blaese und Culver gute Gründe, die Erfolgschancen einer Gentherapie zunächst an diesem extrem seltenen Leiden zu prüfen.

Schon geringe Mengen des fehlenden Eiweißes reichen nämlich aus, um den Defekt zu korrigieren. Das Ärzteteam spekulierte deshalb darauf, daß es genügen würde, die fehlende Erbinformation zumindest in einen kleinen Teil der betroffenen Immunzellen hineinzuschmuggeln. Bei einer Gentherapie gegen Krebs wären dagegen praktisch alle entarteten Zellen zu zerstören. Um einen Gesunden vor einer Infektion mit dem Aidsvirus zu schützen, müßten gar 100 Prozent der gefährdeten Immunzellen erreicht werden.

Ein weiterer Faktor erleichtert die Gentherapie bei der ADA-Defizienz: Die betroffenen Immunzellen lassen sich relativ leicht aus dem Blutstrom isolieren. Im Labor können die Wissenschaftler
dann in die Trickkiste der modernen Biologie greifen und unter mehreren Varianten des Gentransfers auswählen. Die beliebtesten Helfer sind derzeit Viren, die sich im Lauf der Evolution darauf spezialisiert haben, in die verschiedensten Körperzellen einzudringen und dort ihr genetisches Material abzuladen. Was den Viren unter normalen Umständen hilft, sich auf Kosten des Infizierten zu vermehren, machen die Genforscher sich zunutze.

Längst haben sie die Viren „kastriert“, indem sie aus dem Erbmaterial Gene entfernten, die für die Vermehrung der Parasiten unverzichtbar sind. An ihre Stelle setzten die US-Wissenschaftler im Falle der kleinen Ashanti den molekularen Bauplan zur Herstellung des fehlenden Eiweißes – das ADA-Gen. Im Reagenzglas entluden die umgebauten Viren ihr Mitbringsel in den Blutzellen, die im Labor kräftig vermehrt und schließlich dem Mädchen injiziert wurden. Der Eingriff war erfolgreich und wurde inzwischen auch in Europa zwei Mal durchgeführt.

Da die genmanipulierten Blutzellen nur eine begrenzte Lebensdauer haben, mußten Ashanti und Cynthia die unangenehme Prozedur bisher etwa alle sechs bis acht Wochen erdulden. Den zwei jüngsten Patienten bleibt dies vermutlich erspart: Ein Ärzteteam der Universität San Franzisko erprobte im letzten Monat den Gentransfer auf Stammzellen, die kurz nach der Geburt aus den Nabelschnüren der beiden neugeborenen Knaben gewonnen wurden. Dies hat den Vorteil, daß alle Abkömmlinge der erfolgreich behandelten Stammzellen das gesunde Gen in sich tragen; im Idealfall wäre also die Krankheit mit einer einzigen Behandlung geheilt.

Leider ist es bei Kindern und Erwachsenen äußerst schwierig, die seltenen Stammzellen aufzuspüren und aus dem Knochenmark herauszulocken. In neueren Experimenten hat Gentherapie-Pionier Michael Blaese jedoch auch dieses Problem in Angriff genommen. Im niederländischen Rijswijk wartet außerdem Dinko Valerio auf eine Gelegenheit, seine Version des Gentransfers in Stammzellen an einem der seltenen Patienten mit ADA-Defizienz zu erproben.

Während bei dieser Immunschwächekrankheit weltweit eine Übermacht von Ärzten und Molekularbiologen einer vergleichsweise winzigen Zahl von Patienten gegenübersteht, sieht die Situation bei der Zystischen Fibrose, auch Mukoviszidose genannt, ganz anders aus. „Allein in Deutschland gibt es rund 10000 Patienten, deren mittlere Lebenserwartung beträgt 24 Jahre“, erklärte der Britische Molekularbiologe Robert Williamson.

Die Zellen der Patienten produzieren ein fehlerhaftes Eiweiß, welches bei Gesunden den Export von Natrium- und Chloridionen übernimmt. Ist der Ionentransporter defekt, bildet sich in Lunge und Magen-Darm-Trakt ein zähflüssiger Schleim. Die Kranken sind extrem anfällig für Infektionen durch Pilze, Bakterien und Viren, außerdem ist die Nahrungsverwertung gestört. Schuld ist ein schadhaftes Gen, bei dem in den meisten Fällen nur ein einziger von rund 300000 Bausteinen fehlt.

Williamson, der am Londoner St. Mary’s Hospital arbeitet, wird als einer der Ersten versuchen, diesen Erbdefekt mit den Methoden der modernen Biologie zu korrigieren. Statt wie seine amerikanischen und französischen Kollegen auf Viren zu setzen, hat Williamson seine Therapiegene in winzige Fettkügelchen – sogenannte Liposomen – verpackt. Sie sollen mit einem Aerosol bis in die feinsten Verästelungen der menschlichen Lunge gelangen und mitsamt der heilbringenden Erbsubstanz von den geschädigten Zellen der Luftwege aufgenommen werden. Die gesunden Gene werden dann ausgepackt und sind, wie Tierversuche andeuten, bis zu hundert Tagen in der Lage, die Produktion des fehlenden Eiweißes zu steuern. Danach müßte die Prozedur wiederholt werden.

Wenn der Gentransfer nur bei jeder zwanzigsten Zelle funktioniert, wäre das Problem nach Ansicht von Williamson gelöst. Ob das Versprechen gehalten werden kann, wird sich bald zeigen: Mit
umgebauten Erkältungsviren hat Ronald Crystal vom Nationalen Gesundheitsinstitut der USA vor wenigen Wochen den ersten Patienten behandelt.

Eher zögerlich geht man inzwischen auch in Deutschland ans Werk. Während sich in den USA schon 1984 die erste Ethikkommission mit Möglichkeiten und Folgen der Gentherapie auseinandersetzte, hat Gesundheitsminister Horst Seehofer erst vor kurzem eine Arbeitsgruppe zum Thema einberufen. Sie soll „überprüfen, ob der gegenwärtige rechtliche Rahmen angesichts der sich abzeichnenden stürmischen Entwicklung“ ausreicht. Die in Forscherkreisen weitverbreitete Haltung, ein Gentransfer sei im Prinzip mit einer Organtransplantation vergleichbar und bereite daher keine neuartigen Probleme, findet bei Politikern und in der deutschen Öffentlichkeit bisher wenig Zustimmung.

Neben Roland Mertelsmann, der seine Genehmigung schon in Händen hält, planen derzeit noch vier weitere deutsche Arbeitsgruppen den Einstieg in die Gentherapie. Sie werden große Mühe haben, den Hoffnungen todkranker Patienten und den kühnen Prognosen optimistischer Wissenschaftler gerecht zu werden: „In 50 Jahren werden 50 Prozent aller Behandlungen das Prinzip Gentherapie nutzen“, lautet die Vision von Detlev Ganten, Direktor des Max-Delbrück-Centrums für Molekulare Medizin in Berlin.

(Originalfassung eines Artikels für die VDI-Nachrichten, erschienen am 30. Juli 1993)

Noch kaum Gentech-Arzneien aus Deutschland

Auch wenn die Gentechnik immer häufiger die Schlagzeilen beherrscht – auf dem bundesdeutschen Arzneimittelmarkt spielen die Erzeugnisse der modernen Biologie vorerst nur eine untergeordnete Rolle, zumindest was die Zahl der zugelassenen Präparate betrifft. Rund 57000 Arzneimittel sind derzeit in deutschen Apotheken erhältlich. Unter ihnen befinden sich nach Angaben des Berliner Bundesgesundheitsamtes gerade 176 Präparate aus gentechnischer Produktion.

Selbst diese Zahl täuscht eine Vielfalt vor, die es gar nicht gibt: „Aus Gründen der Arzneimittelsicherheit“ wird jede Darreichungsform und jede Dosierung gesondert gezählt. Auch Medikamente, die unter verschiedenen Namen den gleichen Wirkstoff enthalten, werden jeweils separat erfaßt. Gentechnisch hergestelltes Insulin für Zuckerkranke erscheint deshalb gleich 60-mal auf der Liste. Den Markt teilen sich der dänische Biotechnologie-Konzern Novo Nordisk und die amerikanische Firma Eli-Lilly.

Die Frankfurter Hoechst AG, einer der weltweit größten Insulin-Produzenten, ist dagegen gezwungen, Insulin weiterhin aus den Bauchspeicheldrüsen geschlachteter Schweine zu isolieren. Täglich müssen dafür rund elf Tonnen tierischer Organe von 100000 Tieren verarbeitet werden. Zwar verfügt auch der deutsche Pharmariese über das Know-How zur gentechnischen Insulin-Herstellung samt zugehöriger Patente und einer 100 Millionen Mark teuren Produktionsanlage.

Was fehlt ist jedoch die erforderliche Produktionserlaubnis. Nach jahrelangem Streit mit der zuständigen Genehmigungsbehörde, dem Regierungspräsidium in Gießen, war zum 1. Januar zunächst der Probebetrieb genehmigt worden. In öffentlichen Anhörungen soll ab Juni der Antrag auf „Produktion von Humaninsulin mit gentechnisch veränderten Bakterien“ erörtert werden.

In Frankfurt macht man die im Gentechnikgesetz vorgeschriebene Öffentlichkeitsbeteiligung und die „politische Situation“ im rot-grün regierten Bundesland Hessen für die Verzögerungen verantwortlich. Der für die Biotechnologie zuständige Sprecher der Firma, Dr. Dieter Brauer, schildert die Konsequenzen aus den bisherigen Erfahrungen: „Es ist für uns nicht zumutbar, hier ein Produkt zu entwickeln. Unsere Anlagen in den USA, in Frankreich und in Japan wurden deshalb in den letzten 18 Monaten entsprechend ausgebaut.“ Ebenfalls im Ausland läßt Hoechst derzeit eine Reihe von Substanzen prüfen, vom blutgerinnsellösenden Eiweiß Hirudin bis zum Blutgerinnungsfaktor XIII.

Das Pech der Hoechster scheint auch deren Tochterfirma anzuhaften, den Marburger Behring-Werken, die erst kürzlich die Produktion von Erythropoietin (Epo) einstellen mußten. Im Patentstreit um das blutbildende Eiweiß zog man den Kürzeren gegenüber der amerikanischen Konkurrenz. Die juristische Auseinandersetzung bedroht auch den zweiten deutschen Epo-Anbieter, Boehringer Mannheim, wo die Bioreaktoren gegenwärtig allerdings noch weiterlaufen. Rund 20000 deutsche Dialysepatienten erhalten die Substanz regelmäßig um die Vermehrung der roten Blutkörperchen anzuregen und dadurch Müdigkeit und Leistungsschwäche zu bekämpfen. Gegen einen Mangel an weißen Blutkörperchen hat die US-Firma Amgen den Granulozyten-Kolonien-stimulierenden Faktor (G-CSF) verfügbar gemacht. Er trägt unter anderem dazu bei, die Nebenwirkungen einer Chemotherapie abzumildern.

Langsamer als erwartet verläuft indes die Markteinführung des Tumor Nekrose Faktors (TNF), der in der Krebstherapie und möglicherweise bei der Behandlung von Unfallopfern zum Einsatz kommen soll. Noch vor wenigen Jahren war die Fachwelt entzückt über die Fähigkeit des Moleküls, Krebsgeschwulste im Tierversuch regelrecht aufzulösen. Inzwischen mehren sich die Hinweise auf gravierende Nebenwirkungen, möglicherweise begünstigt TNF sogar die Entstehung von Tochtergeschwüren.

Trotz der gedämpften Erwartungen hält man bei der Ludwigshafener BASF-Tochter Knoll AG daran fest, daß die klinischen Daten die Weiterentwicklung rechtfertigten. Seit zwei Jahren liegt eine Produktionserlaubnis für jährlich 500 Gramm vor. Diese Menge wäre ausreichend, um ganz Europa zu versorgen – doch steht die gesetzliche Zulassung noch aus.

Weitgehend unberührt von den Problemen der deutschen Hersteller scheint man allein im schwäbischen Biberach. Dort produziert die Dr. Karl Thomae GmbH mit Hilfe gentechnisch veränderter Hamsterzellen den „menschlichen Plasminogenaktivator“. Das Eiweiß ist in der Lage, Blutgerinnsel innerhalb kürzester Zeit aufzulösen und kommt daher beim Herzinfarkt zum Einsatz. Im vergangenen Jahr erzielte das Medikament unter dem Marktnamen Actilyse einen weltweiten Umsatz von 155 Millionen Mark.

Doch selbst diese Bilanz offenbart bei näherer Betrachtung einige Schönheitsfehler: So wurde der überwiegende Teil der Entwicklungsarbeiten von der kalifornischen Pionierfirma Genentech geleistet. In Biberach produziert man lediglich als Lizenznehmer der Amerikaner. Außerdem kam eine groß angelegte klinische Studie (ISIS-III) zu dem Schluß, das Konkurrenzpräparat Streptokinase, das seit 17 Jahren mit konventionellen Methoden aus Bakterien isoliert wird, sei genauso wirksam wie der menschliche Plasminogenaktivator (t-PA) und würde überdies seltener zu schweren Nebenwirkungen führen. Der für die Krankenkassen gewichtigste Unterschied aber ist der Preis: t-PA kostet zehnmal so viel wie Streptokinase.

Verständlich, daß sich Professor Rolf Werner bemüht, die ISIS-Studie auseinander zu nehmen. Schuld sei das „weniger wirksame“ t-PA des Konkurrenten Wellcome, welches zum Vergleich herangezogen wurde, sagte der Leiter der biotechnologischen Produktion. Neue Studien, die allerdings noch nicht abgeschlossen sind, sollen schon bald die Überlegenheit des menschlichen t-PA über die bakteriellen Billigeiweiße untermauern.

Weniger wirksam als erhofft sind ohne Zweifel die Interferone, welche bis vor wenigen Jahren als „Wundermittel gegen den Krebs“ gepriesen wurden. Die vielen Vertreter dieser Substanzklasse werden auf dem deutschen Markt unter anderem von Hoffmann-La Roche, Schering-Plough, Basotherm und Biogen verkauft, nicht jedoch von einheimischen Unternehmen. Obwohl auch die Interferone den überhöhten Erwartungen nicht gerecht werden konnten, kommen sie heute im Kampf gegen verschiedene Hepatitisviren und gegen Herpes-Infektionen des Auges zum Einsatz. Außerdem haben sie sich bei einer seltenen Art von Blutkrebs und bei einer besonders schweren Form der Arthritis bewährt.

Die verwandten Interleukine werden seit vier Jahren als Therapeutika eingesetzt bei so verschiedenen Krankheiten wie Aids, Krebs und rheumatoider Arthritis. Ein halbes Dutzend Anbieter teilen sich hier den Markt, zumindest vorerst ohne deutsche Beteiligung. Weltweit stecken derzeit nach Angaben von Professor Jürgen Drews rund 140 gentechnisch produzierte Medikamente in der klinischen Prüfung. Der Forschungs- und Entwicklungskoordinator bei Hoffmann-La Roche schätzt, daß etwa ein Drittel dieser Produkte die Tests überstehen und in etwa sechs Jahren zur Verfügung stehen werden.

Trotz ihrer geringen Zahl haben die heute zugelassenen Produkte aus dem Genlabor dem Gros der „normalen“ Pillen und homöopathischen Mittelchen einiges voraus: Sie haben äußerst strenge Prüfverfahren hinter sich gebracht. Nur jedes fünfte in Deutschland erhältliche Medikament kann dies für sich in Anspruch nehmen. Der Rest wurde noch vor Inkrafttreten des Arzneimittelgesetzes 1978 auf den Markt geworfen und konnte wegen chronischer Überlastung der obersten Gesundheitswärter noch immer nicht auf Herz und Nieren geprüft werden.

(erschienen in den VDI-Nachrichten am 18. Juni 1993)

D2-Mission: Eigenlob und Fremdkritik

Eine erste Bilanz der zweiten deutschen Spacelab-Mission D-2 zogen der Programmwissenschaftler Peter Sahm und Projektwissenschaftler Manfred Keller im deutschen Kontrollzentrum Oberpfaffenhofen bei München unmittelbar nach der Landung der Raumfähre Columbia in der vergangenen Woche. Dabei hatten die beiden Forscher nur Positives zu vermelden. Die D-2-Mission sei mit ihren 88 Experimenten die komplexeste und qualifizierteste Spacelab-Mission gewesen, die es je gegeben habe.

Außerhalb des Kreises der unmittelbar Beteiligten wurde die Bedeutung des elftägigen Raumfluges dagegen eher skeptisch beurteilt. Wieviel Neues die knapp 900 Mio. DM teure D-2 Mission wirklich erbracht hat und welche Ergebnisse von praktischem Nutzen sein werden, ist derzeit noch schwer abzusehen. Die intensive Auswertung der gespeicherten Daten wird bis zu einem Jahr in Anspruch nehmen, verlautbarte das DLR aus Oberpfaffenhofen.

Ein Novum für die kommende Weltraumfahrt war der Einsatz eines interaktiven Kommunikationssystems, bei dem Experimente an Bord des Spacelab vom Nutzerzentrum für Mikrogravitation (Muse) in Köln-Porz aus beeinflußt wurden. Die als „Telescience“ bezeichnete Methode erlaubt die Fernsteuerung und Neuprogrammierung von Versuchen anhand von Echtzeit-Daten. Per Telescience nutzten die bodenständigen Forscher in Köln unter anderem das Holografische Optiklabor Holop. Diese Experimentieranlage dient der Aufklärung von Wärme-Stofftransport und Erstarrungsvorgängen zum Beispiel in Salzschmelzen und Flüssigkeiten.

Hauptinteressenten der Holop-Experimente sind Metallurgen und Gießereiforscher. Letztlich dient die Telescience-Technologie auch dem Ziel, in Zukunft mit weniger Astronauten auszukommen. Erdgebundene Wissenschaftler, so die Vision der DLR, könnten dann zu Hause bleiben, während Experten des Muse die hochfliegenden Experimentieranlagen betreuen.

Angesichts der wachsenden Kritik am Kosten-Nutzen-Verhältnis der bemannten Raumfahrt dürften Roboter in Zukunft immer häufiger die Aufgaben „echter“ Astronauten übernehmen. Zumindest eines der 88 Experimente der D-2 Mission wurde denn auch von einem Robotergreifarm ausgeführt, der von einem Team um Gerhard Hirzinger am DLR-Institut für Robotik und Systemdynamik entwickelt wurde. Nachdem Rotex – so der Name des „achten Astronauten“ – einen freischwebenden Aluminiumwürfel im Weltraum wieder eingefangen hatte, konnte Hirzinger nicht mehr an sich halten: „Wir sind begeistert, unsere kühnsten Erwartungen sind in Erfüllung gegangen!“ Das Ergebnis sei „eine Weltsensation“, man habe sich damit in der Robotertechnik einen Spitzenplatz gesichert.

Für Astronomen interessant sind die über 100 Aufnahmen der Ultraweitwinkelkamera Gauss. Mit einem Gesichtsfeld von 145 Grad wurden wie geplant Bilder der gesamten Milchstraße in sechs Spektralbereichen angefertigt. Die Aufnahmen vorwiegend junger Sterne und der von ihnen aufgeheizten Gasmassen liefern den Astrophysikern die Grundlagen für ein besseres Verständnis der Spiralarmstruktur der Milchstraße. Zusätzlich brachte die Gauss-Kamera mehrere stereoskopische Aufnahmen der Erdatmosphäre mit nach Hause.

Als „einzigartig in der Weltraumforschung“ bezeichnet die Deutsche Agentur für Raumfahrtangelegenheiten (Dara) ein mit fünf Objektiven bestücktes elektronisches Kamerasystem. „Mit dem Modularen Optoelektronischen Multispektral-Stereo Scanner Moms-02 erreicht die Beobachtung der Erdoberfläche eine neue Dimension“, sagt Heinz Stoewer, Dara-Geschäftsführer Nutzung, in Köln.

Anfänglich hatte es Schwierigkeiten mit der Kalibrierung des Instruments gegeben, die jedoch durch die Bodenkontrolle in Oberpfaffenhofen gemildert werden konnten. Als Testgebiete dienten während der D-2 Mission die südlichen USA und Mexiko, Nordafrika und Arabien sowie Australien und Südamerika. Im Rahmen eines UNO-Auftrags wurden außerdem kartographische Aufnahmen von Kambodscha gemacht. Begeisterung unter den beteiligten Wissenschaftlern rief vor allem die hohe Auflösung von bis zu 4,5 m hervor.

Moms-02 erlaubt die Erstellung digitaler Geländemodelle und entsprechender Karten im Maßstab bis zu 1:25 000. Dabei können wegen der hohen spektralen Auflösung sowohl Farben als auch Formen der Erdoberfläche erfaßt werden. Für die Umweltforschung interessant dürfte die Kartierung von Wald- und Flurschäden sein. Auch die EG-weit verordneten Flächenstillegungen für die Landwirtschaft könnten im Prinzip mit der Spezialkamera überwacht werden. Schließlich sollen auch Entwicklungsländer bei der Erschließung von Rohstoffen und der Infrastrukturplanung von der Weltraumkamera profitieren, die vom Forschungsministerium und der Dara seit 1977 gefördert wurde.

In Köln erklärte Heinz Stoewer, man wolle keine Datenfriedhöfe produzieren. Die Verteilung der Moms-Daten wird deshalb von der Deutschen Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) unterstützt. Nach dem erfolgreichen Probelauf soll die Kamera ab Juni nächsten Jahres in deutsch-russischer Kooperation auf der Mir-Plattform Piroda zum Einsatz kommen. Im Gegensatz zur 11-tägigen D-2 Mission könnte Moms-02 Langzeitdaten liefern. Der Piroda-Einsatz ist auf bis zu 18 Monate ausgelegt.

Außerdem erreicht die russische Weltraumstation auf ihrer Umlaufbahn eine wesentlich höhere geographische Breite als die Raumfähre Columbia auf ihrer letzten Mission. Während Columbia nur Regionen zwischen 28,5 Grad südlicher und nördlicher Breite überflog – also etwa von Ägypten bis Südafrika – erreicht Mir 51,6 Grad, was der geographischen Breite von Berlin entspricht. Erst die Kooperation mit Rußland ermöglicht es also, die meisten interessanten Gebiete der Industrieund Entwicklungsländer zu beobachten.

Im Anthrorack, der fliegenden Miniklinik des Spacelab, untersuchten die deutschen Wissenschaftsastronauten Hans Schlegel und Ulrich Walter unter anderem das Herz-Kreislaufsystem, die Lunge und die Flüssigkeitsverteilung im Körper unter Schwerelosigkeit. Dabei wurde festgestellt, daß die Belüftung der Lunge entgegen der Lehrbuchmeinung nicht von der Schwerkraft abhängig ist.

Mit einem Akzelerometer, einem Meßgerät für Schwerefeldänderungen, wiesen die Astronauten nach, daß die Pumpleistung des Herzens im Prinzip auch ohne Eingriff gemessen werden kann. Ob aus dem spontan erdachten Versuch eine „wichtige und wegweisende medizinische Diagnostikmethode“ erwächst, bleibt abzuwarten; ebenso die Darstellung der DLR, wonach die Ergebnisse der D-2 Mission für die Aidsforschung von Bedeutung seien.

Unter Augenärzten umstritten ist die Behauptung, erst die D-1 Mission habe zur Entwicklung eines Selbsttonometers geführt. Das Tonometer ermöglicht die Messung des Augeninnendrucks, was die Diagnose des Grünen Stars erleichtert. Besonders umstritten sind die Versuche, an Bord des Spacelab Protein-Kristalle wachsen zu lassen.

Diese sollten größer und reiner sein als auf der Erde hergestellte Bio-Kristalle, so jedenfalls die Hoffnung von Professor Volker Erdmann vom Institut für Biochemie der Freien Universität Berlin, der sich mit seinem Team bereits an fünf unbemannten Missionen beteiligt hat und auch auf der D-2 Mission zwei Gestelle mit jeweils 24 Kristallisationskammern an Bord hatte. Diese Eigenschaften erleichtern eine Röntgenstrukturanalyse, mit der sich der Aufbau der hochkomplexen Biokatalysatoren bis in die kleinsten Details erfassen läßt. Die Röntgendaten wiederum fließen heute schon ein in die Entwicklung neuer, maßgeschneiderter Medikamente.

Die Mehrheit der bodenständigen Biochemiker glaubt allerdings nicht an „Medikamente aus dem AII“. So resümierten amerikanische Wissenschaftler kürzlich in der Zeitschritt „Nature“, die Mikrogravitationsforschung habe bisher keinen wesentlichen Beitrag zur Analyse irgendeines Eiweißkörpers geleistet. Auch der Nobelpreisträger Robert Huber vom Max-Planck-Institut für Biochemie in Martinsried bei München stellte die Erfolgsmeldungen aus dem All in Frage. „Es gibt keinen Grund, warum Proteinkristalle unter Schwerelosigkeit besser wachsen sollten als auf der Erde. Es gibt keinen einzigen Fall, bei dem Kristalle aus dem Weltraum für die Analyse besser geeignet waren als solche, die auf der Erde gezogen wurden“, sagte der Nobelpreisträger. „Diese Experimente verlaufen erwiesenermaßen seit über zehn Jahren erfolglos, die Finanzierung sollte eingestellt werden.“

Huber verwies darauf, daß die Kosten der D-2 Mission in etwa dem gesamten Jahresetat der Max-Planck-Gesellschaft entsprechen, und forderte dazu auf, den wissenschaftlichen Nutzen beider Unternehmungen unter diesem Aspekt zu vergleichen.

(erschienen in den VDI-Nachrichten am 14. Mai 1993)