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Richard Ernst: Nobelpreis für die NMR-Spektroskopie

Richard Ernst, der diesjährige Nobelpreisträger für Chemie, war unmittelbar nach der Bekanntgabe des schwedischen Karolinska-Instituts auch für die eifrigsten Pressevertreter nicht zu erreichen. Der Grund: der 58jährige Schweizer befand sich gerade in der Luft, irgendwo zwischen Moskau und New York. Ernst, der an der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich als Professor für Physikalische Chemie tätig ist, will in New York an der Columbia-Universität eine weitere Auszeichnung entgegennehmen.

In der Begründung des Nobelpreiskomitees heißt es, Ernst erhalte die Auszeichnung, die in diesem Jahr mit 1,65 Millionen Mark dotiert ist, für die Entwicklung der „kraftvollsten instrumentalen Meßmethode in der Chemie“. Gemeint ist damit die NMR-Spektroskopie, eine Methode, mit der die Lage einzelner Atomkerne innerhalb eines Moleküls bestimmt werden kann.

Die Kernspinresonanzspektroskopie– so der ungekürzte Name – erlaubt es auch, die Struktur von Molekülen in einer Lösung zu bestimmen. Dies ist deshalb von besonderer Bedeutung, weil viele der biologisch aktiven Substanzen, für die Mediziner und Biochemiker sich heute besonders interessieren, normalerweise in wässriger Lösung vorliegen.

Auch die Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Molekülarten und die Bewegung dieser winzigen Teilchen lassen sich mit Hilfe der NMR-Spektroskopie beobachten. Schließlich können die Chemiker aus den so gewonnen Daten Rückschlüsse ziehen, die es ihnen erlauben, die Geschwindigkeit chemischer Reaktionen abzuschätzen.

Ernst, der als letzter der diesjährigen Nobelpreisträger nominiert wurde, ist bereits der 22. Schweizer, der diese höchste aller wissenschaftlichen Auszeichnungen erhält. Sämtliche Nobelpreise in den Naturwissenschaften gehen damit in diesem Jahr an europäische Forscher, die sonst so dominanten Amerikaner gehen zum ersten Mal seit 1970 leer aus.

In Winterthur zeigte sich die Ehefrau des frischgekürten Preisträgers zwar überrascht, meinte allerdings auch, die Nobel-Vergabe kommen nicht ganz so unerwartet. Der Architektensohn Ernst hatte bereits seine Doktorarbeit an der renommierten Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) in Zürich über Kernresonanzspektroskopie geschrieben.

„Die Kernresonanzspektroskopie hat in den letzten 20 Jahren eine erstaunliche Entwicklung erlebt“, erläuterte der Physiker kürzlich vor Kollegen. In der Tat habe sie sich von einer recht nützlichen, beschränkt einsetzbaren analytischen Methode zu der wohl leistungsfähigsten molekularen Untersuchungsmethode überhaupt in den verschiedensten Disziplinen von der Physik bis hin zu der Medizin ausgeweitet.

Vor der Entwicklung der Kernspinresonanz war man darauf angewiesen, Kristalle derjenigen Moleküle herzustellen, die man untersuchen wollte, und diese Moleküle mit Röntgenstrahlen zu analysieren. Zum Leidwesen der Chemiker schließen sich aber nur verhältnismäßig einfache Moleküle zu den regelmäßigen Gittern eines Kristalls zusammen. Ein weiterer Nachteil dieser Röntgenstrukturanalyse besteht darin, daß gerade biologisch aktive Substanzen im Kristall oft nicht ihre „natürliche“ Form einnehmen. Aussagen über die Funktion dieser Stoffe etwa im menschlichen Körper waren daher nur in engen Grenzen möglich.

Auch als die beiden Amerikaner Felix Bloch und Edward Mills Purcell 1945 erstmals über erfolgreiche NMR-Experimente berichteten, war dies noch nicht möglich. Dennoch wurde auch die eigentliche Entdeckung, daß man mit Hilfe von Radiowellen Aufschluß über die Lage von Atomkernen bekommen kann, mit einem Nobelpreis ausgezeichnet.

Für die Anwendung auch in der Physik, der Biologie und der Medizin wurde die NMR-Spektroskopie aber erst interessant, nachdem Ernst 1966 einen mathematischen Trick fand, um die Empfindlichkeit der Methode zehn- bis hundertfach zu verbessern. Nur wenige Jahre später gelang es ihm, auch die Auflösung zu steigern. Immer feinere Details der Moleküle konnten jetzt analysiert werden. Damit nicht genug: Mitte der 70er Jahre schlug Ernst auch eine Methode für den Empfang NMR-tomographischer Bilder vor, die große Verbreitung fand. Sowohl zur Steigerung der Empfindlichkeit als auch der Auflösung hat Ernst „mehr beigetragen als jeder andere“ befand das Nobelpreiskomitee.

Wenn heute beispielsweise der Stoffwechsel im menschlichen Gehirn mittels eines Computers sichtbar gemacht werden kann, werden wohl die wenigsten Patienten an die Prinzipien der NMR-Spektroskopie denken. Und doch verdanken sie den bahnbrechenden Arbeiten des Schweizers eines der modernsten Diagnosegeräte, das heute zum Einsatz kommt.

(erschienen in „DIE WELT“ am 17. Oktober 1991 unter dem Titel „Eine Brille enthüllt tanzende Moleküle“)

Kommentar: Formel für den Erfolg

Gestern haben – wieder einmal – Wissenschaftler der deutschen Max-Planck-Gesellschaft einen Nobelpreis erhalten, diesmal den Preis für Medizin und Physiologie. Es handelt sich um die Professoren Bert Sakmann und Erwin Neher, Nummer 27 und 28 auf der langen Liste der Preisträger, die diese Organisation hervorgebracht hat. Es drängt sich die Frage auf, warum die Max-Planck-Gesellschaft so viele, die Großforschungseinrichtungen des Bundes mit ihren Heerscharen von Wissenschaftlern dagegen noch keinen einzigen Preisträger vorweisen können.

Mein Kommentar zum Medizin-Nobelpreis 1991 für Bert Sakmann und Erwin Neher. Kurz darauf sagte man mir, Forschungsminister Heinz Riesenhuber sei darüber „nicht erfreut“ gewesen.

Mehrere Direktoren der Gesellschaft geben auf diese Frage die gleiche Antwort: Die besondere Organisationsstruktur dieser Einrichtung macht Forschung zum Vergnügen. Valentin Braitenberg, Direktor des Institutes für Biokybernetik in Tübingen spricht gar von einer „Insel der Seeligen“, auf der Wissenschaftler verschiedener Fachrichtungen ihre Ideen austauschen können. Da lohnt es sich die Formel für den Erfolg etwas nähert anzuschauen, vielleicht sogar auf die eher ein wenig träge wirkenden Großforschungseinrichtungen zu übertragen, die manchmal eine verblüffende Ähnlichkeit mit Beamtenverwahrungsanstalten haben.

Gelder werden bei der MPG nur nach gründlicher Überprüfung verteilt, dann aber über einen längeren Zeitraum. Ohne Hast (und auch ohne Lehrverpflichtungen) können die Direktoren junge Nachwuchsforscher um sich scharen, ohne ständig ihre Energie auf das Schreiben neuer Anträge verschwenden zu müssen. Vielleicht würde es sich ja lohnen, einige Millionen aus prestigeträchtigen, aber wissenschaftlich eher zweifelhaften Großprojekten wie der bemannten Raumfahrt abzuziehen. Das eingesparte Geld könnte man dann in die Hände derjenigen legen, die bewiesen haben, daß sie damit meßbare Resultate zu erreichen vermögen.

Nobelpreis belohnt zwei Pioniere der Organtransplantation

Dem Fortschritt der Transplantationsmedizin verdanken tausende Patienten ein längeres oder lebenswerteres Dasein. Nierenkranke Menschen wurden von der Blutwäsche befreit; Patienten mit schweren Erkrankungen von Herz und Leber überlebten. Diese Entwicklung hat sich innerhalb der letzten 40 Jahre vollzogen. Das Nobel-Komitee hat jetzt zwei Forscher gewürdigt, die schon vor Jahrzehnten den Grundstein für den außerordentlichen Erfolg der Transplantations-Medizin gelegt haben: Der diesjährige Medizin-Nobelpreis wurde gestern den beiden amerikanischen Wissenschaftlern Joseph E. Murray und E. Donnall Thomas zuerkannt.

Copyright © The Nobel Foundation

Die Transplantations-Medizin hat in den letzten Jahrzehnten rasante Fortschritte gemacht: Waren vor 40 Jahren die Verpflanzung einer Niere oder gar von Herz oder Leber noch medizinische Utopie, so ist sie heute bereits zum Routineeingriff geworden. An diesem Fortschritt haben zahlreiche Wissenschaftler und Ärzte mitgewirkt.

Das schwedische Nobel-Komitee hat sich nun entschlossen, den diesjährigen Medizin-Nobelpreis an zwei Pioniere der Transplantationsmedizin zu vergeben: die amerikanischen Wissenschaftler Joseph E. Murray und E. Donnall Thomas. Damit ist der Medizin-Nobelpreis erstmals seit längerer Zeit wieder an zwei Forscher vergeben worden, die – als Chirurg und als Hämatologe – auch in der klinischen Medizin tätig waren. In den letzten Jahren wurden fast ausschließlich Entdeckungen von Grundlagenforschern gewürdigt, die mit Hilfe molekularbiologischer Methoden im Labor gemacht worden waren.

Wie das Karolinska-Institut in Stockholm gestern bekanntgab, wurden die beiden Forscher dafür ausgezeichnet, dass sie die Transplantation von Zellen und Organen als Behandlungsmethode eingeführt haben. Nach Ansicht des Nobel-Komitees waren die Entdeckungen der beiden Wissenschaftler „ausschlaggebend für zehntausende schwerkranker Menschen, die durch Transplantation entweder völlig geheilt wurden oder zu einem verhältnismäßig normalen Leben zurückkehren konnten, wo andere Methoden erfolglos waren“. Die Nobelpreise sind dieses Jahr mit jeweils 1,08 Millionen Mark dotiert.

Der einundsiebzigjährige Murray war bis zu seiner Pensionierung im Jahre 1985 am Medizinischen Zentrum für Kinderheilkunde in Boston tätig. Am 23. Dezember 1954 gelang es ihm erstmals, einem eineiigen Zwilling die Niere seines Zwillingsbruders zu übertragen. Die Transplantation war erfolgreich, da das genetisch identische Organ von der Immunabwehr des Empfängers nicht abgestoßen wurde.

Die dramatische Operation hatte damals großes Aufsehen erregt: Der 22jährige Patient litt nach einer Scharlach-Erkrankung an chronischem Nierenversagen, als sich das Ärzteteam um Murray entschloss, die erste Nierentransplantation zu wagen. Sechs Monate nach der Transplantation wurde der Patient nach Hause entlassen. Er begann bald wieder zu arbeiten und heiratete die Krankenschwester, die ihn gepflegt hatte.

Die Idee, Organe von einem Menschen auf den anderen zu übertragen, hatte man bereits in der Antike, erfolglose Transplantationsversuche wurden schon um die Jahrhundertwende unternommen. Alexis Carrel, Nobelpreisträger von 1912, postulierte eine „biologische Kraft“, welche die Organverpflanzung aussichtslos mache.

Nachdem Murray diese Theorie schon für genetisch identische Organe widerlegt hatte, wurde im April 1958 eine Methode bekannt, die zu einer wirksamen Unterdrückung der Abwehrkräfte führte und damit die Verpflanzung nicht identischer Organe in Aussicht stellte: Die Ganzkörperbestrahlung mit anschließender Injektion von Knochenmarkszellen, die bei dieser Bestrahlung zerstört wurden. Später kamen Medikamente wie 6-Mercaptopurin und Azathioprin und schließlich Cyclosporin, die die Immunabwehr unterdrückten. Mit ihrer Hilfe gelang es, auch genetisch unterschiedliche Nieren von Verstorbenen zu verpflanzen.

In der Bundesrepublik war es erst im Februar 1968 so weit: Die erste Patientin konnte die Heidelberger Rudolf-Krehl-Klinik wenige Wochen nach der Operation verlassen, nachdem ihr erstmals erfolgreich die Niere eines lebenden Spenders übertragen worden war. Die Transplantation von Nieren erwies sich als Organverpflanzung mit hoher Erfolgschance; sie ist, vor allem was die Lebensqualität anbelangt, der Blutwäsche, der sich die Nierenkranken unterziehen müssen, deutlich überlegen.

Mit der erfolgreichen Nierentransplantation war auch das Feld geöffnet für die Übertragung weiterer Organe wie Herz, Leber und Bauchspeicheldrüse und schließlich auch von Lungenflügeln. Das Hauptproblem bei der Verpflanzung von Organen besteht auch heute noch in den Abstoßungsreaktionen des Empfängers.

Mittlerweile weiß man auch mehr über die „biologische Kraft“ des Alexis Carrel. Die Zellen des menschlichen Körpers tragen nämlich auf ihrer Oberfläche Eiweißstrukturen – die sogenannten MHC-Antigene – die in hunderten verschiedener Varianten vorkommen. Das Immunsystem „lernt“ schon während seiner Entstehung, eigene von fremden Strukturen zu unterscheiden. Diese Fähigkeit unserer Abwehrzellen kann aber zum Verhängnis werden, wenn lebenswichtige Spenderorgane nicht toleriert werden, weil die Oberflächenstruktur der empfangenen Zellen sie als „feindlich“ ausweist.

Um die Immunabwehr gegen das fremde Organ zu unterdrücken, nutzten Murray und Thomas zwei medizinische Erkenntnisse: ionisierende Strahlung sowie Medikamente, die das Wachstum der Immunzellen hemmen, sind in der Lage, die Abstoßungsreaktionen des Körpers gegen fremdes Gewebe zu vermindern. Murray kombinierte eine Bestrahlung des ganzen Körpers mit der Einnahme des zellhemmenden Medikaments Azathioprin.

Thomas benutzte das Medikament Methotrexat, um auch die sogenannte Graft-versus-Host-Reaktion zu dämpfen. Bei dieser „GVH“-Reaktion sind es die Zellen des Spenders, welche die Gewebe des Empfängers angreifen. Im Transplantat finden sich nämlich immer eine Anzahl von T-Zellen, die in der fremden Umgebung des Empfängers großes Unheil anrichten können.

Thomas ist heute stellvertretender Direktor der Forschungsabteilung des Fred Hutchinson Krebsforschungszentrums in Seattle und hat auch in den letzten Jahren noch mit einer Vielzahl von Forschungsarbeiten geglänzt, die in verschiedenen Fachzeitschriften veröffentlicht wurden. Der 70-jährige beschäftigte sich auch in letzter Zeit vorwiegend mit der Transplantation von Knochenmarkzellen.

Die Übertragung dieser blutbildenden Zellen kann Blutkrebs (Leukämie), schwere Erbkrankheiten oder Störungen des Immunsystems heilen, erklärte das 50köpfige Nobelkomitee gestern in der Begründung der Preisverleihung.

Derzeit werden in den Vereinigten Staaten die ersten Versuche unternommen, gentechnisch veränderte Blutzellen zu verabreichen. An den National Institutes of Health in Bethesda setzen French Anderson, Michael Blaese und Kenneth Culver die Arbeit von Murray und Thomas fort. Im September behandelten sie ein vierjähriges Mädchen mit einer äußerst seltenen Erbkrankheit (ADA), der veränderte T-Zellen injiziert wurden. Idealerweise würde man statt T-Zellen Knochenmarkszellen benutzen, die sich im Mark des Empfängers etablieren und neue Blutzellen produzieren.

Auch diese Erkenntnis verdankt man den Arbeiten von Thomas. Darüber hinaus zeigte er, dass sich die Knochenmarkstransplantationen auch ohne chirurgischen Eingriff vornehmen lassen. Vor den entscheidenden Arbeiten von Thomas und seinen Mitarbeitern hatte man versucht, das fremde Knochenmark direkt in die Knochenhöhle einzuspritzen. Seine Technik, die heute in allen Behandlungs-Zentren angewendet wird, erwies sich als überraschend einfach: Das Knochenmark wird dazu meist aus dem Beckenknochen des Spenders gewonnen, ohne dass er stark beeinträchtigt wird oder Nebenwirkungen zu erleiden hat. Die entnommene Kochenmarkssuspension wird dann dem Empfänger in die Vene injiziert.

Die wichtigen Stammzellen aus denen alle Blutzellen entstehen, finden – dies konnte Thomas zeigen – selbständig ihren Weg in das Knochenmark. Schon nach zwei bis drei Wochen werden die ersten Blutzellen gebildet. Das kranke Knochenmark wird zuvor durch Ganzkörperbestrahlung und Medikamente abgetötet.

Thomas, der verheiratet ist und drei Kinder hat, wurde am 15. März 1920 in Mart (Texas) geboren. Murray wurde am 1. April 1919 in Milford (Massachusetts) geboren. Der Wissenschaftler, der als Hobbys Badminton und Tennis angibt, ist verheiratet und hat sechs Kinder.

(geschrieben mit meiner damaligen Kollegin Dr. Annette Tuffs, erschienen in der WELT am 9. Oktober 1990. Letzte Aktualisierung 14. April 2017)

Was ist daraus geworden? Beide Mediziner sind inzwischen verstorben, doch ihr Erbe wirkt fort. So wurden in 2014 – dem letzten Jahr, für das ich Zahlen finden konnte – weltweit fast 120000 Organe verpflanzt. Darunter waren ca. 80000 Nieren, 26000 Lebern, 6500 Herzen, 4700 Lungen und 2300 Bauchspeicheldrüsen. Der Bedarf ist allerdings nach Schätzungen noch immer etwa zehn mal so hoch. In Deutschland wird im internationalen Vergleich eher wenig transplantiert, obwohl mittlerweile jeder dritte einen Organspendeausweis trägt. Die Zahlen gehen seit 2010 zurück. Schuld sei die mangelnde Meldebereitschaft vieler Krankenhäuser, sagte Wolfgang Fleig, der Medizinische Vorstand des Universitätsklinikums in Leipzig, gegenüber dem Nachrichtenmagazin Focus.

Prionen geben Rätsel auf

Prionen sind Eiweißstoffe (Proteine), deren ungewöhnliche Eigenschaften die Biologen und Mediziner seit über 15 Jahren faszinieren. Offensichtlich sind Prionen die einzigen Eiweiße, die für ansteckende Krankheiten verantwortlich sind. Bis zur Entdeckung dieser ungewöhnlichen Partikel war man davon ausgegangen, dass alle Krankheitserreger auch Nukleinsäuren besitzen – jene fadenförmigen Moleküle, in denen die Erbinformation gespeichert wird.

Heute weiß man, dass mehrere Krankheiten des menschlichen Nervensystems, die durch geistigen Zerfall gekennzeichnet sind, auf das Konto der rätselhaften Prionen gehen. Zum Glück treten die langsamen, schleichenden Infektionen nur sehr selten auf: Etwa jeder millionste Mensch leidet unter der Creutzfeld- Jakob Krankheit (CJK), noch zehnmal seltener ist das Gerstmann-Sträussler-Syndrom.

Jahre, manchmal sogar Jahrzehnte können zwischen Infektion und Ausbruch der Krankheit vergehen; in dieser Zeit sind keinerlei Symptome festzustellen. Ist die Krankheit aber erst einmal ausgebrochen, verläuft sie unaufhaltsam und führt in der Regel zum Tod. Die Geschichte der Entdeckung der Prionen beginnt im Jahr 1956. Zwei amerikanische Forscher, Carleton Gajdusek und Vinzent Zigas, beobachten im Regenwald Neuguineas eine bis dahin unbekannte Seuche:

Kuru (aus der Sprache des Fore- Stammes für „zittern“) beginnt mit unkoordinierten, schüttelnden Bewegungen; es folgen Sprachverlust und Lähmungen, nach etwa einem Jahr tritt der Tod ein. Weit über tausend Patienten werden in den ersten Jahren untersucht. Für Gadjusek ist der Zusammenhang mit einer rituellen Form des Kannibalismus offensichtlich. Der Brauch, die toten Stammesangehörigen durch den Verzehr von Gehirnen zu ehren, ist mittlerweile erloschen. Speziell Frauen und Kinder nahmen an diesen Mahlzeiten teil, bei über 90 Prozent ist die Krankheit mittlerweile ausgebrochen. Wegen der langen Entwicklungszeit (diese kann über dreißig Jahre betragen) sind aber vereinzelt noch Fälle von Kuru zu beobachten.

Um die geheimnisvolle Krankheit besser untersuchen zu können, versuchten die Forscher jahrelang, den Erreger auf geeignete Versuchstiere zu übertragen. Als hilfreich erwies sich dabei eine Theorie von William Hadlow, der auf Gemeinsamkeiten zwischen Kuru und einer schon länger bekannten Tierseuche hinwies: Die Skrapie ist als Störung des Zentralen Nervensystems bei Schafen und Ziegen schon über 200 Jahre bekannt; das Krankheitsbild ähnelt sehr dem der Kuru.

Auch die "Rinderseuche" BSE wird von Prionen verursacht. Unter dem Mikroskop sieht man, dass die Infektion das Gehirn durchlöchert wie einen Schwamm. (Foto: Dr. Al Jenny via Wikimedia Commons)

Auch die „Rinderseuche“ BSE wird von Prionen verursacht. Unter dem Mikroskop sieht man, dass die Infektion das Gehirn durchlöchert wie einen Schwamm. (Foto: Dr. Al Jenny via Wikimedia Commons)

Man wusste lediglich, dass sich die Prionen durch das Spritzen von Gehirngewebe zwischen den Tieren übertragen ließen. Um Näheres zu erfahren, mussten Gewebeproben aus dem Hirn infizierter Tiere in Fraktionen unterteilt werden, die sich in ihren physikalischen oder chemikalischen Eigenschaften unterschieden. Dann galt es herausfinden, in welcher Fraktion der Erreger am häufigsten vorkam – eine ungemein zeitraubende Aufgabe.

Bei den ersten Experimenten, die an Schafen und Ziegen durchgeführt wurden, musste eine ganze Herde jahrelang beobachtet und schließlich geopfert werden, um auch nur eine einzige Probe zu beurteilen. Erst 1978 gelang es Stanley Prusiner und seinen Mitarbeitern, das aufwendige Verfahren drastisch zu verkürzen. Mittlerweile kann die Aktivität einer Fraktion innerhalb von zwei Monaten an vier Hamstern ermittelt werden.

Gajdusek und seine Kollegen hatten inzwischen die Kuru auf Menschenaffen übertragen. Bald gelang dies auch mit der Creutzfeld-Jakob-Krankheit und dem Gerstmann-Sträussler-Syndrom. Die klinischen Merkmale und typischen Gewebeänderungen, die an den Versuchstieren festgestellt wurden, ließen auf eine enge Verwandtschaft der drei Krankheiten schließen.

Was dann im Laufe von Jahren an Fakten über die Prionen zusammengetragen wurde, versetzte die Fachleute in Erstaunen: Bis heute ist es nämlich nicht gelungen, bei den Partikeln Nukleinsäuren nachzuweisen. Behandelt man eine infektiöse Fraktion mit Biomolekülen, die diese Erbfäden zerstören können, bleiben die Skrapie-Erreger intakt. Auch UV-Bestrahlung in enorm hohen Dosen, Zink-Ionen und andere Chemikalien, die Nukleinsäuren zerstören, zeigen keine Wirkung auf die Prionen.

Da aber alle Lebewesen und sogar die Viren auf Nukleinsäuren angewiesen sind, um sich zu vermehren, entstanden allerlei Spekulationen über die merkwürdigen Krankheitserreger. Zeitweise gab es mehr Hypothesen über die Natur der Prionen als Arbeitsgruppen, die sich damit beschäftigten.

Die Hinweise, dass die krankmachenden Eigenschaften der Erreger auf ein Protein zurückzuführen sein könnten, mehrten sich. Proteasen (das sind Biomoleküle, die In der Lage sind, Eiweiße zu zersetzen) konnten die Ansteckungsfähigkeit der Skrapie-Erreger vermindern. Das gleiche gilt für andere Stoffe, die Eiweiße beschädigen. 1982 verkündete Prusiner schließlich seine Überzeugung, bei den Prionen handele es sich um ansteckende Eiweiße, und löste damit bei seinen Kollegen hitzige Diskussionen aus, die bis heute nicht verstummt sind.

Obwohl die Prionen selbst offensichtlich kein Erbmaterial enthalten, weiß man heute, dass die Informationen, die zur Herstellung dieser Proteine benötigt werden, in den Genen des Menschen und vieler anderer Säugetiere zu finden sind. Verwandte Proteine finden sich sogar bei Amphibien, Insekten und Hefen. Vermutlich spielt das Prion-Protein (PrP) eine wichtige Rolle für die Zelle, sonst wäre es im Verlauf der Evolution längst wieder verloren gegangen.

Alles deutet darauf hin, dass es mehrere Formen des PrP gibt. Während die „gesunde“ Form reibungslos funktioniert und eine noch unbekannte – für die Zelle wichtige – Aufgabe erfüllt, können „bösartige“ Varianten schwere Krankheiten verursachen. Die defekten PrP’s lagern sich nämlich zu fadenförmigen Gebilden (Fibrillen) zusammen, die sich im Gehirn absetzen. Der gleiche Vorgang ist auch bei der Alzheimerschen Krankheit und beim Down Syndrom zu beobachten, allerdings sind hier andere Proteine beteiligt.

Für das Gerstmann-Sträussler- Syndrom (GSS) hat Prusiner jetzt den Unterschied zwischen dem „gesundem“ und einem „kranken“ PrP herausfinden können. Bei dieser – erblichen – Krankheit genügt eine winzige Veränderung im Gen für das Prion- Protein. Dies hat zur Folge, dass ein einziger Baustein im Eiweiß vertauscht wird. Bei anderen Prion- Krankheiten – so spekuliert man – werden die schon fertigen Eiweiße in der Zelle nochmals verändert.

Die Frage, warum die Prionen alleine in der Lage sind, Kuru, CJK und GSS auszulösen, ist damit aber immer noch nicht geklärt. Dienen sie vielleicht als „Kondensationskerne“, an denen die Fibrillen entstehen? Oder greifen sie in die Verarbeitung der Erbinformation sein, so dass aus „gesunden“ Genen schadhafte Proteine entstehen? Auch nach über 30 Jahren intensiver Prionen- Forschung bleiben viele Rätsel ungelöst.

(erschienen am 2. Dezember 1989 in der WELT).

Was ist daraus geworden? Stanley Prusiner und Carleton Gajdusek erhielten beide den Nobelpreis, Prusiner erst acht Jahre nach diesem Artikel (1997), Gajdusek bereits 1976. Letzterer machte außerdem Schlagzeilen, weil er mehrere von ihm adoptierte Jungen aus Neuguinea und Mikronesien sexuell missbraucht hatte, und dafür auch zu einer Haftstrafe verurteilt wurde. Insgesamt hatte Gajdusek mit Einverständnis der Eltern 56 Kinder aus der Südsee in die USA geholt, die bei ihm aufwuchsen. Die Prionen erlangten ebenfalls traurige Berühmtheit als Verursacher der BSE-Epidemie. Der „Rinderwahn“ war 1986 in Großbritannien ausgebrochen, wo man das Fleisch mit Scrapie infizierter Schafe an die Kühe verfüttert hatte. Auf dem Höhepunkt der Epidemie erkrankten 1992 in Großbritannien 36000 Rinder, aber auch in Deutschland und in der Schweiz wurden insgesamt mehrere Hundert Fälle entdeckt.

Harald Varmus und Michael Bishop gewinnen den Nobelpreis für Medizin 1989

Harald E. Varmus (Quelle: Wikipedia Commons)

Harald E. Varmus (Quelle: Wikipedia Commons)

Ausgezeichnet werden in diesem Jahr die beiden amerikanischen Mediziner Harald E. Varmus und J. Michael Bishop. Varmus wurde am 18. Dezember 1939 in Oceanside im Staat New York geboren. Er besuchte das Amherst College in Massachusetts und studierte dann in Harvard. 1966 promovierte er an der Columbia-Universität. Michael Bishop wurde am 22. Februar 1936 in York im US-Staat Pennsylvania geboren. Er studierte in Gettysburg und Harvard und arbeitete danach an den National Institutes of Health bei Washington. Gemeinsam arbeiten die Preisträger an der Abteilung Mikrobiologie und Immunologie der Universität von Kalifornien in San Francisco

Michael Bishop und Harold Varmus wurden für ihre Entdeckung des „zellulären Ursprungs der retroviralen Onkogene“ ausgezeichnet. In der Begründung für die Vergabe des Medizin-Nobelpreises heißt es: „Die Entdeckung betrifft eine große Menge von Genen, die das normale Wachstum und die Teilung der Zellen kontrollieren. Störungen in einem oder einigen dieser Gene verwandeln sie in Onkogene (Griechisch: onkos – Geschwulst, Tumor). Dies kann dazu führen, dass eine normale Zelle in eine Tumorzelle verwandelt wird und eine Krebsgeschwulst veranlasst.“

Bestimmte Viren können die normalen Gene in ihre Erbsubstanz aufnehmen. Dabei können diese in Onkogene umgewandelt werden. Bei der Vermehrung der Viren werden die veränderten Gene wieder in das menschliche Erbgut eingebaut.

Schon um die Jahrhundertwende wurde erstmals der Verdacht geäußert, dass Viren Krebs verursachen können. Peyton Rous vom amerikanischen Rockefeller Institut gelang es 1910, Tumoren zwischen Hühnern zu übertragen. Rous benutzte dazu einen Extrakt aus den Zellen befallener Tiere. Er äußerte damals die Vermutung, dass hier Viren im Spiel seien, stieß damit aber bei seinen Kollegen auf taube Ohren.

Erst Jahrzehnte später – das Elektronenmikroskop war in der Zwischenzeit erfunden worden – konnte das Virus zweifelsfrei nachgewiesen werden. Im Alter von 85 Jahren erhielt Rous mit dem Nobelpreis des Jahres 1966 eine späte Anerkennung seiner Arbeiten.

 J. Michael Bishop (Quelle: General Motors Cancer Research Foundation, via Wikipedia Commons)

J. Michael Bishop (Quelle: General Motors Cancer Research Foundation, via Wikipedia Commons)

Natürlich war man nicht damit zufrieden, nur zu wissen, dass Viren Tumoren hervorrufen können. Wie genau erreicht das Virus die drastischen Änderung in Form und Eigenschaften der befallenen Zellen? Die Beantwortung dieser Frage wurde erheblich erleichtert, als man fand, dass bestimmte Tumorviren, die sogenannten Retroviren, in Gewebekulturen Veränderungen an lebenden Zellen hervorrufen können, die denen in Tumorzellen ähneln. Als die moderne Biologie das Zerlegen der Erbsubstanz in kleinere Abschnitte ermöglichte, konnte man fragen, welcher Teil des Virus für die krebsartigen Veränderungen der Wirtszellen verantwortlich war.

Beim Rous-Sarkoma Virus entdeckte Steven Martin von der Universität Berkeley das erste „Krebsgen“. Viren bestehen im wesentlichen aus einigen wenigen Genen, verpackt in einer Hülle aus Eiweißen. Nach dem Eindringen in ihre Wirtszellen werden gemäß den Anweisungen der  retroviralen Gene Eiweißstoffe produziert, die das Virus zu seiner Vermehrung benötigt. Eine andere Vermehrungsmöglichkeit für diese „Parasiten der Zelle“ besteht darin, das Erbmaterial des Virus in das zelleigene Erbmaterial einzuschmuggeln. Mit jeder Zellteilung wird dann das Virus vermehrt und kann sogar, wenn es sich in einer Keimzelle einnistet, auf die nächste Generation übertragen werden.

Michael Bishop und Harald Varmus haben mit ihren Arbeiten herausgefunden, woher Retroviren wie das Rous-Sarkoma Virus ihre krebserregenden Gene haben. 1972 überprüften Bishop und Varmus mit Dominique Stehelin, die „Krebsgen-Hypothese“, die am Nationalen Krebsinstitut (NCI) aufgestellt worden war. Dort hatten Robert Huebner und George Todaro vermutet, dass die Krebsgene der untersuchten Viren zum genetischen „Gepäck“ aller Zellen gehören. Bei einer Virusinfektion, die weit in der Evolution zurückläge, hätten die Viren Kopien normaler zellulärer Gene „aufgepickt“.

Wenn diese Überlegung richtig ist, so dachten die Nobelpreisträger, müsste sich das „Krebsgen“ des Rous-Sarkoma Virus auch in normalen Zellen nachweisen lassen. Dieses Unternehmen allerdings glich der berühmten Suche nach der Stecknadel im Heuhaufen. Die Zellen von Wirbeltieren enthalten nämlich – anders als die untersuchten Viren – zehntausende verschiedener Gene. Stehelin war es, der eine Gen-Sonde herstellte, mit der sich das gesuchte Gen aus der großen Menge des restlichen Erbmaterials herausfischen ließ.

Er machte sich dabei die Tatsache zunutze, dass das Erbmaterial (DNA) in Form eines Doppelstranges vorliegt, dessen Hälften zueinander passen wie Schlüssel und Schloss. Nach dem Mischen der viralen Genkopie mit den Hälften des Doppelstranges findet das Krebsgen sein zelluläres Gegenstück und lagert sich an dieses an. Eine radioaktive Markierung der Gensonde erlaubte es den Forschern, diesen Vorgang zu beobachten. Der Beweis, das es in normalen Zellen Gene gab, die mit dem Krebsgen verwandt waren, war damit erbracht.101

1976 zogen dann Bishop, Varmus und Stehelin die Schlussfolgerung, dass das Onkogen im Virus kein wirkliches Virusgen ist, sondern ein normales Zellgen, welches das Virus in der Wirtszelle aufgegriffen und weitergeführt hat. Dies warf aber die Frage auf, warum dann nicht alle „normalen“ Zellen zu Tumorzellen werden. Hierauf fand man gleich zwei Antworten. Die viralen Krebsgene unterscheiden sich meistens nämlich doch von ihren zellulären Vorläufern, nur sind die Unterschiede so gering, dass sie erst nach einer sehr genauen Untersuchung des jeweiligen Erbmaterials zu Tage treten. Man kennt heute Dutzende von Onkogenen, zusammen mit den Eiweißstoffen (Proteine) die gemäß dieser Bauanleitungen in den Zellen gefertigt werden.

Bei den Hunderten von Bausteinen dieser Proteine kann ein einziger Austausch genügen, um die Eigenschaften des Proteins völlig zu verändern Die Kontrolle über Zellwachstum und Zellteilung geht verloren; ein Krebsgeschwür kann entstehen.

Als zweite Möglichkeit kann ein Virus, das Teile seines Erbmaterial in das „gesunde“ Erbmaterial einführt, auch die Regulation in der Zelle durcheinander bringen. Wird die Anzahl der gefertigten Moleküle dagegen von einem Virus bestimmt, kann es leicht zur Überproduktion mancher Stoffe kommen, ebenfalls mit fatalen Folgen.

Mittlerweile hat Stehelin die Auszeichnung seiner US-Kollegen als „sehr ungerecht“ verurteilt. „Ich habe die Arbeit ganz allein gemacht, von A bis Z“, äußerte der Franzose, der als Erstautor in dem Artikel geführt wird, mit dem die Ergebnisse des Teams 1976 erstmalig publik gemacht wurden.

(überarbeitete Fassung meines Artikel in der WELT vom 10. Oktober 1989)