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James Watson im Interview

Vorweg ein Bekenntnis, oder auch die Erklärung eines Interessenkonfliktes: James Watson war es, der mich mit seinem Buch „Die Doppelhelix“ maßgeblich dazu inspiriert hat, Biologie zu studieren. Ich halte ihn nach wie vor für einen der größten Wissenschaftler des 20. Jahrhunderts. Als ich 1991 die erste längere Dienstreise für meinen damaligen Arbeitgeber „DIE WELT“ planen durfte, war Watson auf meiner Liste ganz oben.

Ankündigung des Interviews auf Seite 1

Während unseres Gesprächs ist meine Bewunderung eher noch gewachsen, und ich gewann den Eindruck, dass er die Genforschung im Allgemeinen und das „Human Genome Project“ im Besonderen auch deshalb vorangetrieben hat, weil er das Leben der Menschen verbessern wollte. Natürlich bin ich nicht naiv und ich weiß von der unrühmlichen Art, wie Watson zusammen mit seinem Partner Francis Crick alleine die Lorbeeren eingeheimst hat für die Entdeckung der Struktur des Erbmaterials, obwohl doch auch deren Kollegin Rosalind Franklin daran einen erheblichen Anteil hatte. Gelinde gesagt ziemlich ungeschickt fand ich Watsons Äußerungen in einem Interview mit der Londoner „Sunday Times“ im Jahr 2007.  Er sehe die Zukunft Afrikas äußerst pessimistisch, denn „all unsere Sozialpolitik basiert auf der Annahme, dass ihre Intelligenz dieselbe ist wie unsere – obwohl alle Tests sagen, dass dies nicht wirklich so ist“. Watson war damals fast 80 Jahre alt und wurde prompt all seiner Ämter enthoben. Später, als er sich nochmals ähnlich äußerte, verlor er auch noch seine Ehrentitel, geriet offenbar in Geldnot und sah sich gezwungen, die Medaille zu versteigern, die er 1962 mit dem Nobelpreis für Medizin erhalten hatte. Ich habe mich entschlossen, in dieser Sache nicht den Richter zu spielen. Journalisten sollten berichten, was ist, und die Meinungsbildung ihren Lesern überlassen. In diesem Sinne hier nun das vollständige Interview aus dem Jahr 1991: 

James Watson: Warum diese Angst vor der Genforschung?

WELT: Am 25. April 1953 veröffentlichten Sie zusammen mit Francis Crick Ihren bahnbrechenden Artikel über die Struktur des Erbmaterials. Heute hat man gelernt, die Einheiten der Erbinformation – die Gene – zwischen den verschiedensten Organismen auszutauschen. Viele neue Medikamente werden jetzt gentechnisch hergestellt; in den USA hat man sogar damit begonnen, bisher unheilbare Krankheiten mittels Gentherapie zu behandeln. Hätten Sie 1953 diese explosionsartige Entwicklung der modernen Biologie für möglich gehalten?

Watson: Nein, ich denke, daß niemand in die Zukunft sehen kann. Als wir damals die Struktur des Erbmaterials – die bekannte Doppelhelix – erkannt hatten, haben wir uns sofort dem Problem zugewandt, wie diese Information benutzt wird, um Eiweißstoffe zu produzieren, jene Moleküle also, die letztendlich für die chemischen Reaktionen innerhalb einer Zelle verantwortlich sind. Als wir darauf eine Antwort gefunden hatten, hatte dies zunächst keine praktischen Konsequenzen. Zu dieser Zeit – das war 1966 – dachte noch niemand daran, daß diese Entdeckungen einmal unser Alltagsleben beeinflußen würden. Dieser Gedanke kam uns erst, als es gelang, einzelne Gene zu isolieren; ich denke, daß uns die außergewöhnlichen Möglichkeiten der neuen Techniken erst gegen 1980 bewußt wurden.

WELT: In den USA wurden die Kartierung und Sequenzierung des gesamten menschlichen Erbguts als nationale Aufgabe definiert. Als Direktor des „Human Genome Project“ koordinieren Sie dieses gewaltige Unternehmen. Worin liegt das Ziel dieses Projektes, dessen Bedeutung manchmal mit der Mondlandung verglichen wird?

Watson: Die Entschlüsselung der in Form von DNA-Molekülen festgelegten Erbinformation liefert Informationen über das chemische Grundgerüst des menschlichen Lebens. Wir werden damit nicht nur die Kenntnisse über die exakte Funktionsweise des gesunden menschlichen Organismus erweitern, diese Forschung wird auch das Verständnis von Erbkrankheiten fördern, die das Leben von Millionen von Menschen beeinflussen. Man hat bereits damit begonnen, die vermutlich 100.000 Gene des Menschen zu entschlüsseln. Die komplette Erbinformation für das Bakterium Escherichia coli wird bereits in drei Jahren vorliegen. Wir beginnen schon heute, die gesamte Maschinerie zu überblicken, welche für die Funktion einer einzelnen Zelle gebraucht wird.

Manche Kritiker meinen, es würde genügen, wenn weiterhin gezielt nur diejenigen Gene erforscht werden, an denen ein fundamentales Interesse besteht. Aber es ist ein Irrtum zu sagen: „Alles was wir von dem menschlichen Genomprojekt haben werden, ist ein Berg von Sequenzdaten.“ Es wird wesentlich mehr an Erkenntnissen abfallen und diejenigen Länder, die meinen, wir brauchen diese Art von Forschung nicht, weil es genügt, sich um einzelne interessante Erbanlagen zu kümmern, werden einen Großteil der Aufregung verpassen, weil sich aus dem kompletten Satz der Erbanlagen – dem Genom – eine wesentlich breitere Perspektive ergibt. Die Freude wird allenfalls etwas getrübt dadurch, daß so viele neue Entdeckungen gemacht werden, daß man kaum noch Schritt halten kann.

WELT: Wie rechtfertigen Sie die enormen Summen – Ihr Kollege Walter Gilbert sprach von drei Milliarden Dollar – die das Projekt verschlingen wird? Handelt es sich hier um reine Grundlagenforschung oder wird auch der Mann auf der Straße davon profitieren?

Watson: Der wesentliche Grund dafür, daß wir überhaupt öffentliche Gelder zur Verfügung gestellt bekommen, liegt darin, daß diese Forschung darauf ausgerichtet ist, die erblichen Grundlagen von Krankheiten zu entdecken. Die Öffentlichkeit will das Gen, welches für manische Depressionen verantwortlich ist und das ist nur natürlich. Ebenso die verschiedenen Gene, die zur Alzheimer´schen Krankheit führen. Einzelne Forschungsprojekte, die sich auf die jeweiligen Krankheiten spezialisieren, wissen oftmals nicht, wonach sie in der Fülle des Erbmaterials suchen sollen. In der Krebsforschung war das ähnlich. Erst als man die Onkogene und die Anti-Onkogene entdeckt hatte, konnte man die Mechanismen verstehen, die zur Entstehung dieser Krankheit führen.

Ich kann nicht verstehen, wie man gegen die Genforschung sein kann, wenn man wirklich etwas über Erbkrankheiten herausfinden will. Man darf diese Forschung nicht aufhalten, weil Gene hinter so vielen menschlichen Leiden stecken. Man wird ohne Genforschung die Ursache der Schizophrenie oder der manischen Depression nicht finden; das ist einfach unmöglich. Mein Leben wurde geprägt von der Erfahrung, daß der genetische Ansatz erfolgreich ist. Wenn man fragt, ob die Entwicklung eines Lebewesens zu verstehen wäre, ohne die verantwortlichen Gene zu kennen, dann muß die Antwort „nein“ lauten.

WELT: Im Gegensatz zu den USA ist die Öffentlichkeit in Deutschland gegenüber der Genforschung sehr kritisch eingestellt. Wie erklären Sie sich dieses Phänomen?

Watson: Ich glaube, das läßt sich auf zweierlei Arten begründen. Zum einen hat der Gebrauch pseudogenetischer Argumente durch die Nazis, haben Ausdrücke wie „Herrenrasse“ und ähnliches ihre Spuren hinterlassen. Zum anderen gibt es in Deutschland nur wenige Wissenschaftler, die sich öffentlich zur Erforschung der menschlichen Gene bekennen. Wenn ich dem Kölner Genetiker Benno Müller-Hill glaube, kommt das zum Teil daher, daß keiner der an den Kriegsverbrechen beteiligten Wissenschaftler gefeuert oder gar vor ein Gericht gestellt wurde. Alle diese stillen Konspirateure haben ihre Stellungen behalten, dadurch wurden die Lehrstühle zu einem guten Teil bis zum Ende der sechziger Jahre von diesen Leuten besetzt. Es gab also eine Gruppe von Menschen, die ihre Vergangenheit geheim hielten, aus Angst ihre Stellung zu verlieren.

Auch als Ihre Regierung vor kurzem versuchte, die Erforschung des menschlichen Genoms unter dem Namen „prädikative Medizin“ zu verkaufen, war das natürlich blödsinnig. Sie hatten wohl Angst, das Wort Genetik in den Mund zu nehmen, dann gebrauchten sie diesen Ausdruck „prädikative Medizin“ und haben dadurch die Situation noch verschlimmert. Ein weiterer Fehler war es, bei der Ankündigung des Programmes keinerlei Geld bereitzustellen, um die ethischen Aspekte zu untersuchen. Als ich 1988 zum Direktor des „Human Genome Project“ berufen wurde, war es eine meiner ersten Handlungen, Geld einzufordern, um eine Ethikkommission zu finanzieren.

WELT: Dennoch gibt es auch in den USA Befürchtungen, daß die genetischen Daten der Menschen mißbraucht werden könnten, um Arbeitsschutzmaßnahmen zu unterlaufen, Betroffenen den Versicherungsschutz zu verweigern oder ganz allgemein Personen mit mehr oder weniger ernsthaften Erbkrankheiten zu diskriminieren. Jeremy Rifkin und seine Organisation „Foundation on Economic Trends“ haben auf diese Probleme hingewiesen.

Watson: Jeremy Rifkin hat mir gesagt, er wäre nicht gegen das „Human Genome Project“, wenn die Vertraulichkeit der genetischen Daten gewahrt bleibt. Auch für mich ist das ein sehr wichtiges Problem: Niemand sollte das Recht haben, die DNA eines anderen Menschen anzusehen. Auch darf niemand gezwungen werden, seine genetischen Daten offenzulegen, wenn beispielsweise daraus hervorgeht, daß er ein hohes Risiko hat, an Diabetes zu erkranken. Es wäre schrecklich, wenn es einmal soweit kommen sollte.

WELT: Wäre es nicht nötig, jetzt schon Gesetze zu erlassen, die den Mißbrauch genetischer Daten unter Strafe stellen?

Watson: Wir haben zu diesen Fragen bereits einige Analysen in Auftrag gegeben und sind derzeit dabei, Arbeitsgruppen aufzustellen. Momentan brauchen wir noch keine Gesetze aber in zehn Jahren wird es wohl soweit sein, Eine Gefahr sehe ich darin, daß Öffentlichkeit und Staat häufig erst dann auf Lücken in der Gesetzgebung reagieren, nachdem etwas passiert ist. In der Regel sieht die Legislative ja leider auch keine Veranlassung, Gesetze zu erlassen, bevor Mißstände wirklich offen zu Tage treten. Ich gehe daher davon aus, daß wir schon bald etwa fünf Prozent unseres Etats darauf verwenden werden, ethische Lösungen für anstehende Probleme zu finden.

Es ist leider nicht sehr einfach alle ethischen Fragen vorherzusehen, die durch die Sequenzierung des Genoms aufgeworfen werden. Beispielsweise wurde vor kurzem ein weiterer Erfolg bei der Erforschung der Alzheimer´schen Krankheit vermeldet. Nehmen wir ‚mal an, das verantwortliche Gen für diese verheerende Form des geistigen Zerfalls würde gefunden und man könnte daraus ablesen ob und wann diese Krankheit zum Ausbruch kommt. Dann wollten Sie bestimmt nicht, daß der Arbeitgeber davon erfährt, oder die Versicherung.

WELT: Haben Sie keine Angst davor, daß Wissenschaftler eines Tages versuchen könnten, einen Menschen zu klonieren, also identische Kopien von ihm zu züchten?

Watson: Vor 15 Jahren, als wir eine erste Ahnung davon bekamen, was mit den neuen Werkzeugen der Molekularen Biologie möglich sein würde, hatte auch ich diese Sorge. Ich schrieb einen Artikel – der mir heute eher peinlich ist -, und wies auf diese vermeintliche Gefahr hin. Ich wollte ein Gesetz haben, welches diese Anwendung verbietet. Heute allerdings kann man noch nicht einmal eine Maus klonieren. Wenn Sie nämlich eine Zelle aus einem erwachsenen Tier entnehmen, dann hat diese Zelle bereits eine Entwicklung durchgemacht, die nicht mehr rückgängig gemacht werden kann; sie hat sich bereits spezialisiert darauf, beispielsweise eine Haut-, Muskel-, oder Nervenzelle zu sein. Das heißt, diese Zelle kann nicht mehr benutzt werden, um einen kompletten Organismus entstehen zu lassen. Natürlich will das niemand hören, aber wir sind wahrscheinlich durch unsere Gene darauf programmiert, zu sterben.

Dennoch bin ich der Meinung: Wenn es gelingen sollte, eine Maus zu klonieren, müßte man ein Gesetz erlassen, das die Anwendung dieser Technik am Menschen verbietet. Nun könnte man ja sagen: „O.k., laßt uns auch die Versuche an der Maus verbieten damit die Technik gar nicht erst entwickelt werden kann.“ Solch ein Gesetz aber würde es unmöglich machen, die Regeln zu verstehen, nach denen sich ein vollständiger Organismus aus einer befruchteten Eizelle entwickelt.

WELT: Schon heute ist es möglich, vor der Geburt eines Kindes vorherzusagen, ob mit einer Behinderung oder gar einer unheilbaren, tödlichen Krankheit gerechnet werden muss. Wenn schon in wenigen Jahren die gesamte Erbinformation des Menschen vorliegt, wird man in der Lage sein, auch harmlose Krankheiten oder sogar Körpermerkmale wie Haar- und Augenfarbe vorherzusehen. Birgt das nicht die Gefahr in sich, daß Eltern unter den Zwang der Gesellschaft geraten, nur noch „perfekte“ Kinder in die Welt zu setzen? Ist es überhaupt möglich, hier noch eine Grenze ziehen?

Watson: Es wäre sehr schwer, eine Grenze zu ziehen zwischen solchen Erbkrankheiten, bei denen der Gesetzgeber eine Abtreibung erlauben sollte und anderen Schäden, mit denen Kind und Eltern leben können. Manche Menschen würden beispielsweise sagen: „Ja, ich kann und will ein Kind haben und aufziehen, auch wenn es unter Down Syndrom (Mongolismus) leiden wird,“ von anderen Menschen wäre das vielleicht zu viel verlangt. Die Schwierigkeit liegt darin daß es 100.000 Gene gibt, die sowohl für die verschiedensten Formen von Krankheiten verantwortlich sein können, oder auch für Dinge, die viele als „Ungerechtigkeiten“ empfinden. Viele Ungerechtigkeiten sind eben genetisch bedingt. Man muß sich das einmal vorstellen: Jemand bekommt ein Gen vererbt und hat unter Umständen nur deshalb sein ganzes Leben lang Nachteile in Kauf zu nehmen. All das geschieht, weil zufällig bei der Weitergabe des Erbmaterials ein winziger Fehler passiert ist. Diese Fehler bei der Vermehrung der DNA sind aber zwangsläufig, weil die Natur nun einmal so funktioniert. Es gibt keine Möglichkeit, diese Fehler zu verhindern.

WELT: Mit einer gewissen Fehlerrate muß man also leben?

Watson: Bisher war das auch gut so, weil dieser Mechanismus Variationen im Erbmaterial hervorbringt. In einem Wechselspiel mit der Umwelt wurden dann diejenigen Lebewesen begünstigt, die sich ihrer natürlichen Umgebung am besten angepaßt hatten. Durch Mutation und Selektion sind so die heutigen Organismen entstanden. Es gibt also eine gewisse Fehlerrate, die dafür sorgt, daß ständig neue Varianten erzeugt werden. Manche dieser Mutationen sind nützlich, andere nicht; aber ohne diesen Mechanismus gäbe es keine Evolution. Für unsere Gesellschaft bedeutet das: Einige Menschen haben von Geburt an bessere Chancen als andere und daran wird sich nichts ändern. Diese „genetischen Ungerechtigkeiten“ wird es immer geben. Die Frage ist dann, wie die Gesellschaft mit dieser Tatsache umgeht.

Die Sowjets haben lange Zeit einfach so getan, als ob es diese erblichen Unterschiede zwischen den Menschen nicht geben würde. Aber es ist einfach nicht wahr, daß alle Menschen gleich sind. Mein Gehirn beispielsweise ist nicht so verkabelt, daß ich ein guter Mathematiker geworden wäre oder ein Maler. Auch bin ich wohl nicht dazu bestimmt, in einem Orchester die erste Geige zu spielen. Dafür habe ich aber einige Bücher geschrieben, ich habe also nicht nur schlechte Karten gezogen. Die Gesellschaft muß erkennen, daß viele Menschen einfach nur schlechte Karten bekommen haben. Wir müssen lernen, auf verständnisvolle Weise mit dieser Tatsache umzugehen. Unser Ethikprogramm soll dazu einen Beitrag leisten. Wir können uns keine „genetische Unterklasse“ leisten und ich glaube, daß viele Menschen vor solch einer Entwicklung Angst haben. Darum brauchen wir auch Gesetze, um die Vertraulichkeit genetischer Daten zu gewährleisten. Niemand darf wegen genetischer Defekte zum Aussätzigen gestempelt werden.

WELT: Warum haben so viele Menschen Angst vor der Gentechnik?

Watson: Ich denke, daß das Verständnis für diese Probleme völlig unterentwickelt ist. Eine umfassende Information ist sehr wichtig, um der Angst vor der Gentechnik zu begegnen, die in weiten Kreisen der Gesellschaft herrscht. Solange die Menschen nicht wirklich verstehen, was Gene sind, wird es auch unmöglich sein, der Öffentlichkeit zu erklären, warum wir das „Human Genome Project“ für gut und unvermeidlich halten.

In Deutschland kommt zu dem Unverständnis noch ein Mißtrauen gegenüber den Wissenschaftlern, vielleicht ebenfalls ein Überbleibsel aus der Naziherrschaft. Während dieser Zeit sah es so aus, als würden die Forscher für den Staat arbeiten. Auch war es in Deutschland schon immer sehr bedeutsam, einen Professorentitel zu tragen. Das gibt den Wissenschaftlern einen sozialen Status, der Neid hervorruft. Amerikanische Professoren haben diesen Status nicht.

Doch auch in den Vereinigten Staaten haben wir Probleme mit der Akzeptanz der Gentechnik. Schuld daran ist zu einem guten Teil die Art und Weise, wie man hier mit der Kernkraft umgegangen ist. Weil man glaubte, auf dem militärischen Sektor eine führende Rolle spielen zu müssen, hat das federführende Ministerium sich unehrlich verhalten. Menschen wurden radioaktiver Strahlung ausgesetzt, an der sie später verstorben sind. Die Daten wurden über lange Zeit geheim gehalten. Ich glaube, daß dem Ansehen der Wissenschaftler in diesem Lande damit großer Schaden zugefügt wurde. Die Regierung war nicht ehrlich, was das Atom angeht. Die Menschen saßen da draußen auf ihren Farmen, wurden der Strahlung ausgesetzt und haben nichts von der Gefahr gewußt, das ist schrecklich. Ich bin überzeugt davon, daß die Verhältnisse in der Sowjetunion noch weitaus schlimmer waren. Bei vielen Menschen hat dieses Verhalten zu der Überzeugung geführt, daß der Staat unredliche Ziele verfolgt. Wegen dieser Unehrlichkeit hat die zivile Nutzung der Kernenergie heute in den USA keine Zukunft mehr; selbst dann, wenn sie vom wissenschaftlichen Standpunkt aus wünschenswert wäre. In dieser Hinsicht mögen zwischen Atomen und Genen Parallelen bestehen.

Die Genetik hat in Deutschland ein schlechtes Image, weil die Nazis sich pseudogenetische Argumente zu eigen gemacht haben. Juden und Zigeuner wurden als „Untermenschen“ diskriminiert, Geisteskranke von Ärzten umgebracht; diese Ereignisse haben ihre Spuren hinterlassen. Deutschland hat sich in vieler Hinsicht gut erholt von den Auswirkungen der Hitler-Ära, nicht aber auf dem Gebiet der Wissenschaft – und das, obwohl in Ihrem Land hervorragende Forschung betrieben wird. Heute verbringe ich den größten Teil meiner Zeit damit, um Verständnis und Vertrauen für die genetische Forschung zu werben.

Ich glaube, es ist unvermeidlich, daß Deutschland sich an der Genforschung beteiligt. Auch in Ostdeutschland wurde meines Erachtens zum Teil sehr gute Arbeit geleistet, etwa am Ostberliner Zentrum für Molekulare Biologie. Allerdings war das System völlig korrumpiert und aufgebläht. Die meisten Forscher haben wohl keine besonders gute Arbeit gemacht, so daß der östliche Teil Deutschlands wahrscheinlich noch zehn Jahre darunter leiden wird.

WELT: Wie weit ist man mit dem „Human Genome Project“ fortgeschritten, wann wird das Ziel erreicht?

Watson: Das längste zusammenhängende Stück Erbinformation, das bisher sequenziert wurde, ist das Genom des Cytomegalovirus mit 250000 Bausteinen – dies nur zum Vergleich. Das menschliche Genom hat rund 3 Milliarden dieser Bausteine, ist also 12000 Mal so lang. Wir vergeben momentan Geld an Leute, die Bruchstücke menschlicher Erbsubstanz mit einer Länge von einer Million Bausteinen sequenzieren sollen. Innerhalb der nächsten Jahre wird es wahrscheinlich zehn Gruppen geben, die derartig große Stücke untersuchen. Wir bemühen uns derzeit vor allem, neue Techniken zu entwickeln, mit denen die Kosten pro Baustein auf einen halben Dollar gedrückt werden können. Sehr gute Arbeit auf dem Gebiet der Automatisierung leistet Wilhelm Ansorge am Europäischen Laboratorium für Molekularbiologie in Heidelberg; auch an anderer Stelle wird die Entwicklung neuer und schneller Maschinen vorangetrieben, die uns einen Teil der Arbeit abnehmen könnten.

Ich denke, wir haben gute Gründe zu glauben, daß wir erfolgreich sein werden. Wenn die Technik steht – schätzungsweise in fünf oder sieben Jahren – und wir dann genug Geld zur Verfügung haben, werden wir mit der Sequenzierung im großem Maßstab beginnen. Diese Vorgehensweise spart Geld und auch wenn es zwei Jahre länger dauert, ist das kein Beinbruch. Derzeit sind die USA auf diesem Gebiet noch fast alleine, weil wir lange Zeit auf dem Gebiet der Molekularbiologie eine führende Rolle spielten. Ich kann mir aber nicht vorstellen, daß das so bleiben wird; dafür ist das Unternehmen einfach zu interessant.

WELT: Der Nobelpreisträger Walter Gilbert hat vorgeschlagen, eine Art „Copyright für Gene“ einzuführen. Derjenige, der ein bestimmtes Gen entdeckt und dessen Erbinformation entschlüsselt, sollte dann Nutzungsgebühren erheben können, wenn diese Information beispielsweise durch Pharmafirmen genutzt wird. Was halten Sie von diesem Vorschlag?

Watson: Ich glaube, derartige Dinge sollten von der Regierung bezahlt werden. Hintergrund des Vorschlages war auch die Befürchtung, daß wichtige Daten über Gene zurückgehalten werden, um sich einen Vorsprung bei der Vermarktung dieser Erkenntnisse zu verschaffen. Auch für uns wäre es leichter, die Ergebnisse unserer Arbeit schnell zu veröffentlichen, wenn andere Länder sich bereiterklärten, dies ebenfalls zu tun. Leider sind die Anstrengungen hier sehr ungleich verteilt.

In Frankreich gibt es zwar einige sehr gute Arbeitsgruppen, aber keinerlei ernsthafte Sequenzierarbeit. Im englischen Cambridge und in Gilberts Labor sieht das ganz anders aus. In Deutschland gibt es eine große Anzahl von Wissenschaftlern, die es gerne tun würden, aber sie trauen sich nicht, das auch öffentlich zu sagen. Es gibt auch keine starke Vereinigung, die sich für die Humangenetik ausspricht. Dabei ist das Unternehmen sogar in wirtschaftlicher Hinsicht lohnend: Es wird sehr viel Geld ausgegeben, um bestimmte Krankheiten wie die manische Depression zu verstehen, aber ohne Genforschung wird man da nicht weiterkommen. Langfristig liegt es in Deutschlands eigenem Interesse, ein starkes Programm zur Förderung der Humangenetik aufzulegen.

(erschienen in „DIE WELT“ am 6. Mai 1991)

Chaos und Evolution: Die Anfänge des Lebens

Unser Körper besteht zu rund zwei Dritteln aus Wasser. Dazu kommen noch Kohlenstoff, Stickstoff und eine Vielzahl von selteneren Elementen. Aus dem komplexen Zusammenspiel dieser unbelebten Bausteine sind über Milliarden von Jahren hinweg die vielfältigsten Lebensformen entstanden, von den „primitiven“ Urbakterien bis hin zur „Krone der Schöpfung“, Homo sapiens – der vernunftbegabte Mensch – hat sich nicht nur die Erde untertan gemacht; wir sind auch als einzige Art in der Lage, über unsere Entstehung‘ nachzudenken.

Wie entsteht Ordnung aus Chaos, Leben aus toter Materie? Aristoteles, der die Entstehung von Fischen und Insekten aus Schlamm gelehrt hatte, irrte ebenso wie Johan Baptista van Helmont, der im Mittelalter ein Rezept für die „Erzeugung“ von Mäusen aus Getreide und schmutziger Wäsche entwickelte.

Stanley Miller im Jahr 1999. In seinen Experimenten zur Entstehung des Lebens erzeugte der Biochemiker aus einfachsten Zutaten die Bausteine des Lebens. (Quelle: NASA/Wikipedia)

Bereits in den fünfziger Jahren wurde nachgewiesen, wie aus den einfachen Gasen der Uratmosphäre so hochkomplizierte Moleküle des Lebens wie Eiweiße und Nukleinsäuren entstanden sein könnten. Stanley Miller, damals noch Chemiestudent in Chicago, erhitzte eine Mischung aus Kohlendioxid, Methan, Ammoniak und Wasserstoff mit Wasser. Die Gewitter der Uratmosphäre wurden durch elektrische Entladungen, das Sonnenlicht durch UV-Lampen ersetzt.

Zum großen Erstaunen der Fachwelt gelang es Miller, nicht nur Zucker und Fettsäuren, sondern auch Nukleotide und Aminosäuren herzustellen, die Bausteine der Nukleinsäuren und Eiweiße also. Schließlich produzierten die Wissenschaftler in ihren Glaskolben sogar kurze Nukleinsäuren und Eiweißketten.

Aus dem Zusammenwirken von einigen simplen Gasen konnten also Moleküle mit überraschenden neuen Eigenschaften entstehen; eins plus eins ist manchmal mehr als zwei. Eiweiße und Nukleinsäuren sind nämlich in der Lage, Informationen zu speichern und zu vermehren. Die Reihenfolge ihrer Bausteine liefert die Betriebsanleitung, nach der alle Lebewesen funktionieren.

Das Wechselspiel zwischen diesen beiden Molekülklassen macht Leben überhaupt erst möglich. Ein Naturgesetz – der zweite Hauptsatz der Thermodynamik – besagt nämlich, dass unser gesamtes Universum unaufhaltsam einem Zustand völliger Zufälligkeit und Unordnung zustrebt, den wir Wärmetod nennen. Nukleinsäuren und Eiweiße schaffen dagegen Inseln der Ordnung, Lebewesen also, indem sie die Unordnung im Universum durch ihren Stoffwechsel vergrößern.

Nachdem also die Entstehung der ersten primitiven Nukleinsäuren und Eiweiße geklärt scheint, bleibt die Frage nach dem Urahn aller Lebewesen. Irgendwann müssen die vorhandenen Bauteile sich selbständig zum ersten zellähnlichen Gebilde organisiert haben, von dem wir alle abstammen. Ein ganz unwahrscheinlicher Zufall soll nach Ansicht des Nobelpreisträgers Jacques Monod alle Bestandteile der „Urzelle“ zusammengeführt haben. Wenn Monod recht hat, wäre die Urzeugung ein mit Sicherheit einmaliger Vorgang. Die Erde als der einzige bewohnte Planet im Universum?

Thomas R. Cech fand Hinweise, wonach die einfache Nukleinsäure RNA gleichzeitig als Informationsträger funktioniert und biochemische Reaktionen ausführen kann. (Von Jane Gitschier [CC BY 2.5 (http://creativecommons.org/licenses/by/2.5)], via Wikimedia Commons)

Die Entdeckung eines anderen Nobelpreisträgers zeigt einen Ausweg aus dem Dilemma: Der Amerikaner Thomas Cech fand heraus, dass sich unter günstigen Umständen eine einzelsträngige Nukleinsäure (RNA) selbst verdoppeln kann, und dafür nicht auf Eiweiße angewiesen ist. Diese molekularen Vielzweckkünstler sind also gleichzeitig Träger von Information und Funktion; befehlendes und ausführendes Element in einem. Viele Experten glauben darum, dass RNA-Moleküle an der Schwelle zum Lebendigen stehen.

Diese Beobachtung kann allerdings nur die Entstehung relativ kurzer RNA-Moleküle erklären, denn die Verdoppelung der RNA ist sehr fehleranfällig, Auch die einfachsten Lebewesen tragen heute tausendmal längere Erbfaden mit sich, die aus einer zweisträngigen Nukleinsäure – der DNA – bestehen. Diese „Doppelhelix“ ist stabiler und bei der Verdoppelung weniger fehleranfällig als die RNA, dafür aber längst nicht so vielseitig.

Mit seinen Experimenten am Göttinger Max-Planck-Institut für Biophysikalische Chemie will ein dritter Nobelpreisträger diesen „Knackpunkt“ der Evolution erhellen. Professor Manfred Eigen hat mit seiner Arbeitsgruppe einen ganzen Maschinenpark entworfen, mit dem die Evolution der ersten RNA-Moleküle simuliert werden soll. Der 62jährige Physiker glaubt, dass verschiedene Typen von RNA-Molekülen sich zu Anfang gegenseitig bei der Vermehrung halfen. Diese Art von Teamwork – Eigen spricht von einem „Hyperzyklus“ – ist ein weiteres Beispiel dafür, wie aus der Kombination bekannter Bausteine neue Eigenschaften entstehen könnten.

Chaosforscher sprechen von „Nichtlinearität“, was besagt, dass neue Wechselwirkungen zwischen den Teilen des Systems auftreten, die nicht vorherzusehen sind. Der Physiker und Philosoph Dr. Bernd Olaf Küppers bringt diese Beobachtung auf den Punkt, indem er sagt: „Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile.“ Evolution läuft demnach gesetzmäßig ab, ist aber nicht voraussagbar.

„Evolution ist Chaos mit Rückkopplung“, meint der amerikanische Physiker Joseph Ford, einer der Pioniere der Chaosforschung. In den Versuchen am Göttinger Max-Planck-Institut besorgen Roboter diese Rückkopplung. Bei der Verdoppelung der verschiedenen RNA-Moleküle in ihren Reagenzgläsern schleichen sich Fehler ein. So entstehen Nachkommen mit veränderten Eigenschaften. Eigens Maschinen suchen nun automatisch diejenigen RNAs heraus, die sich am schnellsten vermehren und bieten diesen Molekülen die Möglichkeit zur weiteren Vermehrung. Innerhalb erstaunlich kurzer Zeit entstehen so RNA-Typen, die sich an ihre künstliche Umgebung optimal angepasst haben.

Vieles spricht dafür, dass sich vor rund vier Milliarden Jahren auf der Erde ein ähnlicher Prozess abgespielt hat. Mehrere erfolgreiche RNA-Moleküle bildeten vielleicht einen Hyperzyklus, zu dem später auch primitive Eiweiße hinzutraten.

Die Einzelheiten dieser Entwicklung werden sich wohl nie genau aufklären lassen. Es bleiben Lücken in unserer Vorstellung, die momentan noch mit recht diffusen Ideen verdeckt werden. So ist es beispielsweise immer noch unklar, wie sich ein erfolgreicher Hyperzyklus samt Eiweißen von seiner Umgebung abgrenzen und so die erste Zelle bilden konnte. Auch der Übergang von der RNA zur DNA als Träger der Erbinformation verschwimmt im Rückblick auf geschätzte 4000 Millionen Jahre Entwicklung.

(erschienen in der WELT am 20. August 1990. Letzte Aktualisierung am 19. März 2017)

Harald Varmus und Michael Bishop gewinnen den Nobelpreis für Medizin 1989

Harald E. Varmus (Quelle: Wikipedia Commons)

Harald E. Varmus (Quelle: Wikipedia Commons)

Ausgezeichnet werden in diesem Jahr die beiden amerikanischen Mediziner Harald E. Varmus und J. Michael Bishop. Varmus wurde am 18. Dezember 1939 in Oceanside im Staat New York geboren. Er besuchte das Amherst College in Massachusetts und studierte dann in Harvard. 1966 promovierte er an der Columbia-Universität. Michael Bishop wurde am 22. Februar 1936 in York im US-Staat Pennsylvania geboren. Er studierte in Gettysburg und Harvard und arbeitete danach an den National Institutes of Health bei Washington. Gemeinsam arbeiten die Preisträger an der Abteilung Mikrobiologie und Immunologie der Universität von Kalifornien in San Francisco

Michael Bishop und Harold Varmus wurden für ihre Entdeckung des „zellulären Ursprungs der retroviralen Onkogene“ ausgezeichnet. In der Begründung für die Vergabe des Medizin-Nobelpreises heißt es: „Die Entdeckung betrifft eine große Menge von Genen, die das normale Wachstum und die Teilung der Zellen kontrollieren. Störungen in einem oder einigen dieser Gene verwandeln sie in Onkogene (Griechisch: onkos – Geschwulst, Tumor). Dies kann dazu führen, dass eine normale Zelle in eine Tumorzelle verwandelt wird und eine Krebsgeschwulst veranlasst.“

Bestimmte Viren können die normalen Gene in ihre Erbsubstanz aufnehmen. Dabei können diese in Onkogene umgewandelt werden. Bei der Vermehrung der Viren werden die veränderten Gene wieder in das menschliche Erbgut eingebaut.

Schon um die Jahrhundertwende wurde erstmals der Verdacht geäußert, dass Viren Krebs verursachen können. Peyton Rous vom amerikanischen Rockefeller Institut gelang es 1910, Tumoren zwischen Hühnern zu übertragen. Rous benutzte dazu einen Extrakt aus den Zellen befallener Tiere. Er äußerte damals die Vermutung, dass hier Viren im Spiel seien, stieß damit aber bei seinen Kollegen auf taube Ohren.

Erst Jahrzehnte später – das Elektronenmikroskop war in der Zwischenzeit erfunden worden – konnte das Virus zweifelsfrei nachgewiesen werden. Im Alter von 85 Jahren erhielt Rous mit dem Nobelpreis des Jahres 1966 eine späte Anerkennung seiner Arbeiten.

 J. Michael Bishop (Quelle: General Motors Cancer Research Foundation, via Wikipedia Commons)

J. Michael Bishop (Quelle: General Motors Cancer Research Foundation, via Wikipedia Commons)

Natürlich war man nicht damit zufrieden, nur zu wissen, dass Viren Tumoren hervorrufen können. Wie genau erreicht das Virus die drastischen Änderung in Form und Eigenschaften der befallenen Zellen? Die Beantwortung dieser Frage wurde erheblich erleichtert, als man fand, dass bestimmte Tumorviren, die sogenannten Retroviren, in Gewebekulturen Veränderungen an lebenden Zellen hervorrufen können, die denen in Tumorzellen ähneln. Als die moderne Biologie das Zerlegen der Erbsubstanz in kleinere Abschnitte ermöglichte, konnte man fragen, welcher Teil des Virus für die krebsartigen Veränderungen der Wirtszellen verantwortlich war.

Beim Rous-Sarkoma Virus entdeckte Steven Martin von der Universität Berkeley das erste „Krebsgen“. Viren bestehen im wesentlichen aus einigen wenigen Genen, verpackt in einer Hülle aus Eiweißen. Nach dem Eindringen in ihre Wirtszellen werden gemäß den Anweisungen der  retroviralen Gene Eiweißstoffe produziert, die das Virus zu seiner Vermehrung benötigt. Eine andere Vermehrungsmöglichkeit für diese „Parasiten der Zelle“ besteht darin, das Erbmaterial des Virus in das zelleigene Erbmaterial einzuschmuggeln. Mit jeder Zellteilung wird dann das Virus vermehrt und kann sogar, wenn es sich in einer Keimzelle einnistet, auf die nächste Generation übertragen werden.

Michael Bishop und Harald Varmus haben mit ihren Arbeiten herausgefunden, woher Retroviren wie das Rous-Sarkoma Virus ihre krebserregenden Gene haben. 1972 überprüften Bishop und Varmus mit Dominique Stehelin, die „Krebsgen-Hypothese“, die am Nationalen Krebsinstitut (NCI) aufgestellt worden war. Dort hatten Robert Huebner und George Todaro vermutet, dass die Krebsgene der untersuchten Viren zum genetischen „Gepäck“ aller Zellen gehören. Bei einer Virusinfektion, die weit in der Evolution zurückläge, hätten die Viren Kopien normaler zellulärer Gene „aufgepickt“.

Wenn diese Überlegung richtig ist, so dachten die Nobelpreisträger, müsste sich das „Krebsgen“ des Rous-Sarkoma Virus auch in normalen Zellen nachweisen lassen. Dieses Unternehmen allerdings glich der berühmten Suche nach der Stecknadel im Heuhaufen. Die Zellen von Wirbeltieren enthalten nämlich – anders als die untersuchten Viren – zehntausende verschiedener Gene. Stehelin war es, der eine Gen-Sonde herstellte, mit der sich das gesuchte Gen aus der großen Menge des restlichen Erbmaterials herausfischen ließ.

Er machte sich dabei die Tatsache zunutze, dass das Erbmaterial (DNA) in Form eines Doppelstranges vorliegt, dessen Hälften zueinander passen wie Schlüssel und Schloss. Nach dem Mischen der viralen Genkopie mit den Hälften des Doppelstranges findet das Krebsgen sein zelluläres Gegenstück und lagert sich an dieses an. Eine radioaktive Markierung der Gensonde erlaubte es den Forschern, diesen Vorgang zu beobachten. Der Beweis, das es in normalen Zellen Gene gab, die mit dem Krebsgen verwandt waren, war damit erbracht.101

1976 zogen dann Bishop, Varmus und Stehelin die Schlussfolgerung, dass das Onkogen im Virus kein wirkliches Virusgen ist, sondern ein normales Zellgen, welches das Virus in der Wirtszelle aufgegriffen und weitergeführt hat. Dies warf aber die Frage auf, warum dann nicht alle „normalen“ Zellen zu Tumorzellen werden. Hierauf fand man gleich zwei Antworten. Die viralen Krebsgene unterscheiden sich meistens nämlich doch von ihren zellulären Vorläufern, nur sind die Unterschiede so gering, dass sie erst nach einer sehr genauen Untersuchung des jeweiligen Erbmaterials zu Tage treten. Man kennt heute Dutzende von Onkogenen, zusammen mit den Eiweißstoffen (Proteine) die gemäß dieser Bauanleitungen in den Zellen gefertigt werden.

Bei den Hunderten von Bausteinen dieser Proteine kann ein einziger Austausch genügen, um die Eigenschaften des Proteins völlig zu verändern Die Kontrolle über Zellwachstum und Zellteilung geht verloren; ein Krebsgeschwür kann entstehen.

Als zweite Möglichkeit kann ein Virus, das Teile seines Erbmaterial in das „gesunde“ Erbmaterial einführt, auch die Regulation in der Zelle durcheinander bringen. Wird die Anzahl der gefertigten Moleküle dagegen von einem Virus bestimmt, kann es leicht zur Überproduktion mancher Stoffe kommen, ebenfalls mit fatalen Folgen.

Mittlerweile hat Stehelin die Auszeichnung seiner US-Kollegen als „sehr ungerecht“ verurteilt. „Ich habe die Arbeit ganz allein gemacht, von A bis Z“, äußerte der Franzose, der als Erstautor in dem Artikel geführt wird, mit dem die Ergebnisse des Teams 1976 erstmalig publik gemacht wurden.

(überarbeitete Fassung meines Artikel in der WELT vom 10. Oktober 1989)