Unser Körper besteht zu rund zwei Dritteln aus Wasser. Dazu kommen noch Kohlenstoff, Stickstoff und eine Vielzahl von selteneren Elementen. Aus dem komplexen Zusammenspiel dieser unbelebten Bausteine sind über Milliarden von Jahren hinweg die vielfältigsten Lebensformen entstanden, von den „primitiven“ Urbakterien bis hin zur „Krone der Schöpfung“, Homo sapiens – der vernunftbegabte Mensch – hat sich nicht nur die Erde untertan gemacht; wir sind auch als einzige Art in der Lage, über unsere Entstehung‘ nachzudenken.

Wie entsteht Ordnung aus Chaos, Leben aus toter Materie? Aristoteles, der die Entstehung von Fischen und Insekten aus Schlamm gelehrt hatte, irrte ebenso wie Johan Baptista van Helmont, der im Mittelalter ein Rezept für die „Erzeugung“ von Mäusen aus Getreide und schmutziger Wäsche entwickelte.

Stanley Miller im Jahr 1999. In seinen Experimenten zur Entstehung des Lebens erzeugte der Biochemiker aus einfachsten Zutaten die Bausteine des Lebens. (Quelle: NASA/Wikipedia)

Bereits in den fünfziger Jahren wurde nachgewiesen, wie aus den einfachen Gasen der Uratmosphäre so hochkomplizierte Moleküle des Lebens wie Eiweiße und Nukleinsäuren entstanden sein könnten. Stanley Miller, damals noch Chemiestudent in Chicago, erhitzte eine Mischung aus Kohlendioxid, Methan, Ammoniak und Wasserstoff mit Wasser. Die Gewitter der Uratmosphäre wurden durch elektrische Entladungen, das Sonnenlicht durch UV-Lampen ersetzt.

Zum großen Erstaunen der Fachwelt gelang es Miller, nicht nur Zucker und Fettsäuren, sondern auch Nukleotide und Aminosäuren herzustellen, die Bausteine der Nukleinsäuren und Eiweiße also. Schließlich produzierten die Wissenschaftler in ihren Glaskolben sogar kurze Nukleinsäuren und Eiweißketten.

Aus dem Zusammenwirken von einigen simplen Gasen konnten also Moleküle mit überraschenden neuen Eigenschaften entstehen; eins plus eins ist manchmal mehr als zwei. Eiweiße und Nukleinsäuren sind nämlich in der Lage, Informationen zu speichern und zu vermehren. Die Reihenfolge ihrer Bausteine liefert die Betriebsanleitung, nach der alle Lebewesen funktionieren.

Das Wechselspiel zwischen diesen beiden Molekülklassen macht Leben überhaupt erst möglich. Ein Naturgesetz – der zweite Hauptsatz der Thermodynamik – besagt nämlich, dass unser gesamtes Universum unaufhaltsam einem Zustand völliger Zufälligkeit und Unordnung zustrebt, den wir Wärmetod nennen. Nukleinsäuren und Eiweiße schaffen dagegen Inseln der Ordnung, Lebewesen also, indem sie die Unordnung im Universum durch ihren Stoffwechsel vergrößern.

Nachdem also die Entstehung der ersten primitiven Nukleinsäuren und Eiweiße geklärt scheint, bleibt die Frage nach dem Urahn aller Lebewesen. Irgendwann müssen die vorhandenen Bauteile sich selbständig zum ersten zellähnlichen Gebilde organisiert haben, von dem wir alle abstammen. Ein ganz unwahrscheinlicher Zufall soll nach Ansicht des Nobelpreisträgers Jacques Monod alle Bestandteile der „Urzelle“ zusammengeführt haben. Wenn Monod recht hat, wäre die Urzeugung ein mit Sicherheit einmaliger Vorgang. Die Erde als der einzige bewohnte Planet im Universum?

Thomas R. Cech fand Hinweise, wonach die einfache Nukleinsäure RNA gleichzeitig als Informationsträger funktioniert und biochemische Reaktionen ausführen kann. (Von Jane Gitschier [CC BY 2.5 (http://creativecommons.org/licenses/by/2.5)], via Wikimedia Commons)

Die Entdeckung eines anderen Nobelpreisträgers zeigt einen Ausweg aus dem Dilemma: Der Amerikaner Thomas Cech fand heraus, dass sich unter günstigen Umständen eine einzelsträngige Nukleinsäure (RNA) selbst verdoppeln kann, und dafür nicht auf Eiweiße angewiesen ist. Diese molekularen Vielzweckkünstler sind also gleichzeitig Träger von Information und Funktion; befehlendes und ausführendes Element in einem. Viele Experten glauben darum, dass RNA-Moleküle an der Schwelle zum Lebendigen stehen.

Diese Beobachtung kann allerdings nur die Entstehung relativ kurzer RNA-Moleküle erklären, denn die Verdoppelung der RNA ist sehr fehleranfällig, Auch die einfachsten Lebewesen tragen heute tausendmal längere Erbfaden mit sich, die aus einer zweisträngigen Nukleinsäure – der DNA – bestehen. Diese „Doppelhelix“ ist stabiler und bei der Verdoppelung weniger fehleranfällig als die RNA, dafür aber längst nicht so vielseitig.

Mit seinen Experimenten am Göttinger Max-Planck-Institut für Biophysikalische Chemie will ein dritter Nobelpreisträger diesen „Knackpunkt“ der Evolution erhellen. Professor Manfred Eigen hat mit seiner Arbeitsgruppe einen ganzen Maschinenpark entworfen, mit dem die Evolution der ersten RNA-Moleküle simuliert werden soll. Der 62jährige Physiker glaubt, dass verschiedene Typen von RNA-Molekülen sich zu Anfang gegenseitig bei der Vermehrung halfen. Diese Art von Teamwork – Eigen spricht von einem „Hyperzyklus“ – ist ein weiteres Beispiel dafür, wie aus der Kombination bekannter Bausteine neue Eigenschaften entstehen könnten.

Chaosforscher sprechen von „Nichtlinearität“, was besagt, dass neue Wechselwirkungen zwischen den Teilen des Systems auftreten, die nicht vorherzusehen sind. Der Physiker und Philosoph Dr. Bernd Olaf Küppers bringt diese Beobachtung auf den Punkt, indem er sagt: „Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile.“ Evolution läuft demnach gesetzmäßig ab, ist aber nicht voraussagbar.

„Evolution ist Chaos mit Rückkopplung“, meint der amerikanische Physiker Joseph Ford, einer der Pioniere der Chaosforschung. In den Versuchen am Göttinger Max-Planck-Institut besorgen Roboter diese Rückkopplung. Bei der Verdoppelung der verschiedenen RNA-Moleküle in ihren Reagenzgläsern schleichen sich Fehler ein. So entstehen Nachkommen mit veränderten Eigenschaften. Eigens Maschinen suchen nun automatisch diejenigen RNAs heraus, die sich am schnellsten vermehren und bieten diesen Molekülen die Möglichkeit zur weiteren Vermehrung. Innerhalb erstaunlich kurzer Zeit entstehen so RNA-Typen, die sich an ihre künstliche Umgebung optimal angepasst haben.

Vieles spricht dafür, dass sich vor rund vier Milliarden Jahren auf der Erde ein ähnlicher Prozess abgespielt hat. Mehrere erfolgreiche RNA-Moleküle bildeten vielleicht einen Hyperzyklus, zu dem später auch primitive Eiweiße hinzutraten.

Die Einzelheiten dieser Entwicklung werden sich wohl nie genau aufklären lassen. Es bleiben Lücken in unserer Vorstellung, die momentan noch mit recht diffusen Ideen verdeckt werden. So ist es beispielsweise immer noch unklar, wie sich ein erfolgreicher Hyperzyklus samt Eiweißen von seiner Umgebung abgrenzen und so die erste Zelle bilden konnte. Auch der Übergang von der RNA zur DNA als Träger der Erbinformation verschwimmt im Rückblick auf geschätzte 4000 Millionen Jahre Entwicklung.

(erschienen in der WELT am 20. August 1990. Letzte Aktualisierung am 19. März 2017)