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Krebspatienten oft schlecht ernährt

Etwa jeder dritte Krebspatient, der in einer Schwerpunktpraxis versorgt wird, ist unzureichend ernährt. Herausgefunden hat dies ein Team um Professor Hans Hauner, Leiter des Else Kröner-Fresenius-Zentrums für Ernährungsmedizin der Technischen Universität München.

Veröffentlicht wurden die Erkenntnisse jetzt in der Deutschen Medizinischen Wochenzeitschrift. Bisher gab es keine derartigen Untersuchungen zu ambulanten Patienten in Deutschland. Dies, obwohl Schätzungen nach Angaben der Forscher ergeben haben, dass etwa ein Viertel aller Tumorpatienten nicht an ihrer Grunderkrankung versterben, sondern an den Folgen einer damit verbundenen Mangelernährung. Die Therapie ist bei den geschwächten Patienten weniger erfolgreich, es kommt häufiger zu Komplikationen und natürlich verringert sich die Lebensqualität der Betroffenen.

Um herauszufinden, wie groß das Problem ist, haben Hauner und dessen Kollegen 44 Praxen im südbayerischen Raum angeschrieben und um Unterstützung gebeten. Leider haben nur 17 dieser Praxen mitgemacht, was die Genauigkeit der Ergebnisse schmälern dürfte. Vermutlich haben diejenigen, die wenig Interesse an dem Thema haben, auch seltener an der Umfrage teilgenommen. Die Daten spiegeln deshalb womöglich eher die Situation in Praxen, wo man sich des Problems bewusst ist. Heraus kam jedenfalls, dass unter 17 teilnehmenden Schwerpunktpraxen für Onkologie:

Nur eine Praxis beim ersten Kontakt systematisch nach einer Mangelernährung gesucht hat, nur drei Praxen allen Patienten eine vorbeugende Ernährungsberatung angeboten haben, in zehn Praxen eine Beratung nur dann erfolgte „wenn der Ernährungszustand dies erforderte“, und dass nicht einmal jeder dritte Patient nach der Diagnose eine Ernährungsberatung erhalten hatte.

Unter den 765 Patienten, die die Fragebögen ausgefüllt hatten, war die Mangelernährung weit verbreitet. Dies wurde mit zwei verschiedenen Skalen gemessen, der MUST (Malnutrition Universal Screening Tool) und dem NRS-2002 (Nutritional Risk-Screening-2002). Der MUST fand ein mittleres Risiko für eine Mangelernährung bei 15,4 Prozent der Teilnehmer, und ein hohes Risiko bei 19,5 Prozent. Laut NRS-2002 hatten 29,1 Prozent ein erhöhtes Risiko. Im Mittel hatten die Patienten in den drei bis sechs Monaten vor der Befragung 2,7 Kilogramm abgenommen, und etwa jeder siebte hatte sogar mehr als ein Zehntel seines Ausgangsgewichts verloren.

In einer begleitenden Pressemitteilung heißt es: “Der Ernährungsexperte sieht einen dringenden Handlungsbedarf, um vorhandene Versorgungslücken zu schließen. Ein Screening und eine darauf abgestimmte frühzeitige Ernährungsberatung sollten ein fester Bestandteil in der ambulanten Betreuung von Patienten mit einer Tumorerkrankung sein.”

(Was man aber auch erwähnen sollte ist ein potenzieller Interessenkonflikt Hauners, der natürlich die Bedeutung einer Ernährungsberatung betont, dabei neben seiner Position als Institutsleiter zugleich Buchautor und Mitglied im wissenschaftlichen Beirat von Danone Deutschland, Oviva Gmbh, Boehringer Ingelheim und Novo Nordisk ist. Gespannt warten wir hier deshalb auf weitere Studien die zeigen, wie die geforderten Interventionen sich auf die Lebensqualität und auf die Lebenserwartung der Patienten auswirken.)

Quellen:

Hauner H et al: Häufigkeit eines Risikos für Mangelernährung bei Patienten in onkologischen Schwerpunktpraxen – eine Querschnittserhebung. Dtsch Med Wochenschr. 2020;145(1):e1–e9. doi:10.1055/a-1008-5702.

Pressemitteilung des Thieme-Verlages

Mammographie: Weniger Schmerzen durch „Selbstbedienung“

Aus Frankreich kommt eine Studie die helfen könnte, Frauen bei der Röntgen-Untersuchung der Brust (Mammographie) Schmerzen zu ersparen. Überraschend dabei ist, dass dies offenbar ohne Qualitätsverluste möglich ist. Ein Nachteil könnte sein, dass die Röntgenassistentinnen mehr Zeit für die Untersuchung benötigen.

Das Verfahren nennt sich „Selbst-Kompression“, was bedeutet, dass die Frauen bei einer Mammographie selbst mitwirken, wenn die Brust für die Röntgenaufnahme zwischen zwei Platten eingeklemmt wird. Hier ist ein hoher Druck nötig, um ein möglichst scharfes Bild zu bekommen. Die Einstellungen, die in der Regel von einer Röntgenassistentin vorgenommen werden, sind aber für viele Frauen schmerzhaft, und manche verzichten deshalb sogar auf die Kontrolltermine.

Für ihre Studie (Interest of Self-compression Technique on Tolerance of Mammography) haben französische Röntgenärzte um Philippe Henrot am Institut de Cancérologie de Lorraine 549 Frauen zwischen 50 und 75 Jahren nach dem Zufallsprinzip in zwei Gruppen aufgeteilt. Während die Frauen in der einen Gruppe wie üblich untersucht wurden, durften die Frauen der anderen Gruppe unter Anleitung der Assistenten selbst bestimmen, mit wie viel Druck die Brust für die Röntgenaufnahme zusammengepresst wurde.

Die Forscher verglichen dann als Maß für den Druck, auf welche Dicke die Brust im Durchschnitt zusammengepresst wurde – und fanden in beiden Gruppen ziemlich genau 5,2 Zentimeter. Die Andruckstärke wurde ebenfalls bestimmt. Sie war bei den Frauen, die an der Untersuchung mitwirken durften, im Durchschnitt fast ein Kilogramm höher. Die Schmerzen dagegen waren auf einer Skala von 1 bis 10 für die Selbst-Kompression mit median 2 Punkten eindeutig geringer als beim assistierten Verfahren (median 3 Punkte) . Diese Verbesserung ging nicht zu Lasten der Bildqualität: In beiden Gruppen musste etwa jede sechste Aufnahme wiederholt werden, was für die Mammographie einen normalen Wert darstellt.

Der einzige Nachteil, den die Selbst-Kompression in dieser Studie mit sich brachte, war, dass die Untersuchung länger dauerte. Etwa in jedem dritten Fall mussten nämlich die Röntgenassistentinnen einschreiten und weitere Anweisungen geben, wobei sie die Frauen meist ermutigten. In einer nachträglichen Befragung beklagten annähernd 70 Prozent der Assistentinnen den höheren Zeitbedarf. Mehr als die Hälfte antwortete mit „unentschlossen“ ob sie die Technik der Selbst-Kompression routinemäßig einsetzen würden. Ob das Verfahren eines Tages routinemäßig angeboten wird, dürfte jedoch vor allem an den Röntgenärzten liegen – und ob die Krankenkassen bereit wären, den erhöhten Aufwand zu bezahlen.

Henrot P et al.: Self-compression Technique vs Standard Compression in Mammography: A Randomized Clinical Trial. JAMA Intern Med. 2019 Feb 4. doi:10.1001/jamainternmed.2018.7169

Crowdfunding statt Krankenkasse?

Auf der Internetplattform GoFundMe werben schwerkranke Krebspatienten um Spender für Therapien, die Krankenkassen nicht bezahlen wollen. Eine Studie in der Fachzeitschrift Lancet Oncology fand heraus, dass mehr als 13000 Menschen bereit waren, dafür zu bezahlen – obwohl die Wirkung dieser Therapien nicht bewiesen ist, und sie möglicherweise sogar das Leben verkürzen.

Dass die Arbeiten von Philosophen in medizinischen Fachzeitschriften veröffentlicht werden, hat Seltenheitswert. Dass Professor Jeremy Snyder von der Simon Fraser University im kanadischen Burnaby es trotzdem geschafft hat, liegt an seinem Spezialgebiet: Wie Menschen die Hoffnungen anderer ausbeuten. Gemeinsam mit seinem Kollegen, dem Rechtsprofessor Timothy Caulfield von der Universität Alberta hat Snyder sich deshalb auch bei GoFundMe umgesehen, der mit Abstand größten Internetplattform für das sogenannte Crowdfunding – also die Finanzierung von Erfindungen, Projekten und Kampagnen aller Art durch eine große Anzahl Menschen.

Die beiden Forscher machten ihre Stichprobe auf der englischsprachigen Hauptseite von GoFundMe am 8. Juni 2018 und durchsuchten die Inhalte nach Worten wie „Krebs“ und „Homöopathie“, um Kampagnen für eindeutig unbewiesene Krebsbehandlungen zu finden. In ihrer Momentaufnahme fanden sie 220 Kampagnen, die von 13621 Geldgebern unterstützt wurden. Die weitaus meisten Antragsteller (85 Prozent) kamen aus den USA, mehrere aus Kanada und Großbritannien, und jeweils eine Person aus Deutschland, Irland und Spanien.

Die Treffer wurden unter anderem bezüglich des erbetenen und gespendeten Geldes, der Weiterverbreitung in sozialen Medien wie Facebook und demographischer Daten der Antragsteller ausgewertet. Dabei zeigte sich, dass die Antragsteller insgesamt etwas mehr als 5 Millionen Euro erbeten hatten ($ 5.795602). Dem standen 13621 Spender gegenüber, die sich verpflichtet hatten, mehr als 1,2 Millionen Euro zu zahlen ($ 1.413482) – also knapp ein Viertel der Gesamtsumme aller Anträge. Zusätzlich hatten die Besucher von GoFundMe die Kampagnen auf Facebook exakt 112353 Mal weiter verbreitet, indem sie diese teilten.

Bei 85 der 220 Patienten ruhten die Hoffnungen auf organischen Nahrungsmitteln und dem „Juicing“, also kalt gepressten Obst- und Gemüsesäften. 68 gaben an, sich mit dem Geld Nahrungsergänzungsmittel, Vitamine und Kräuter kaufen zu wollen, 30 hofften auf Infusionen von Vitamin C. Andere glaubten an Sauerstoff- und Ozonkuren, an die Akupunktur, Cannabis, Naturheilkunde, nicht zugelassene Immuntherapien, „Entgiftungen“, Geistheilungen, die chinesische Medizin, Misteln, Yoga, „Magnettherapie“ und zahlreiche weitere Verfahren, die von den Autoren allesamt als Krebsbehandlungen ohne Wirkungsnachweis betrachtet werden.

Der größte Teil der Antragsteller (38 Prozent) wollte ihre alternativen Therapien zusätzlich zur Schulmedizin anwenden. Fast ein Drittel (29 Prozent) lehnten die Schulmedizin jedoch generell ab. Sie hatten Angst vor den Folgen und/oder bezweifelten deren Wirkung. Ebenfalls fast ein Drittel lobte die Alternativmedizin mit falschen Behauptungen wie „Es ist bewiesen, dass die Homöopathie/Naturmedizin außergewöhnliche Heilungen erzielt und dass zahlreiche Patienten ihr das Leben verdanken.“

Tatsächlich hatte eine Studie erst vor kurzem gezeigt, dass krebskranke Anhänger der Alternativmedizin geringere Überlebensraten haben und ein höheres Risiko, zu versterben. Die Verzweiflung unter den Antragsstellern war offenbar groß, und viele sehr krank. Dies hatten die Forscher anhand der Informationen der Webseite festgestellt, aber auch durch die Auswertung von Sterberegistern, wo die genannten Namen auftauchten. So fanden sie heraus, dass mindestens 28 Prozent – also mehr als ein Viertel – der Patienten bereits verstorben waren.

Dieses Bild hat ein leeres Alt-Attribut. Der Dateiname ist 96-book@2x.png   Quelle
  • Snyder J, Caulfield T. Patients‘ crowdfunding campaigns for alternative cancer treatments. Lancet Oncol. 2019 Jan;20(1):28-29. doi: 10.1016/S1470-2045(18)30950-1.

Selumetinib – wirksam gegen Neurofibrome, aber nicht verfügbar

Eine seltene Erbkrankheit, die bei Kindern Nerventumore verursacht, kann offenbar mit dem Wirkstoff Selumetinib erfolgreich bekämpft werden, zeigt eine kleine Studie mit 24 Teilnehmern. Das als Neurofibromatose Typ 1 (NF1) bekannte Leiden verursacht häufig Geschulste, die nicht operiert werden können. Diese inoperablen plexiformen Neurofibrome wurden jedoch bei allen 24 Kindern in der Studie gebremst, und bei 17 von ihnen schrumpften sie sogar um 20 bis 50 Prozent.

Dr. Widemann vom US-Krebsforschungszentrum NCI leitet mehrere Studien zum Neurofibrom (Foto: NCI)

Den größten Erfolg erzielten die Wissenschaftler um Dr. Brigitte C. Widemann, Leiterin des Pediatric Oncology Branch am National Cancer Institute der USA bei einem Mädchen, das wegen sehr großer Neurofibrome an Hüfte und Unterleib ständig unter Schmerzen litt und an den Rollstuhl gefesselt war. Durch die Behandlung verringerte sich die Tumormasse fast um die Hälfte; sie musste auch keine Schmerzmedikamente mehr einnehmen und war wieder in der Lage, längere Strecken zu laufen. Wie der Webseite von Widemann zu entnehmen ist, sind nun gleich mehrere Folgestudien geplant, die den Nutzen von Selumetinib bei Kindern wie auch Erwachsenen beweisen sollen.

Die auch nach ihrem Entdecker Morbus Recklinghausen benannte Krankheit betrifft etwa jedes 3000ste Neugeborene, davon entwickeln ein Fünftel bis zur Hälfte die hier behandelten plexiformen Neurofibrome. Sie können, je nach Lage, zu Schmerzen und Entstellungen führen, zu Blindheit, geschwächten Gliedmaßen, oder auch zu Darm- und Blasenschwäche. Vielen kann durch eine Operationen geholfen werden, bei einem Viertel ist dies allerdings nicht möglich.

Prof. Victor-Felix Mautner, Leiter der Neurofibromatose-Ambulanz am Universitätsklinikum Eppendorf sprach von einer „bedeutsamen Arbeit“ für Menschen, die durch NF-1 entstellt werden. Trotz dieses Erfolges wird Selumetinib aber in Deutschland wohl auf längere Zeit nicht verfügbar sein. Die Firma AstraZeneca, die den Wirkstoff ursprünglich gegen Lungenkrebs entwickeln wollte, ist damit nämlich in einer großen Studie gescheitert. Die Folge ist, dass Selumetinib von den Behörden für die Behandlung nicht zugelassen wurde, und auch nicht für „individuelle Heilversuche“ zur Verfügung steht. „Und dies wird auch nicht so schnell passieren“, befürchtet Mautner.

(eine ausführliche Fachversion dieser Nachricht ist erschienen am 6. Januar 2017 bei Medscape)

Quelle:

Dombi E, et al.: Activity of Selumetinib in Neurofibromatosis Type 1-Related Plexiform Neurofibromas. N Engl J Med. 2016 Dec 29;375(26):2550-2560. doi: 10.1056/NEJMoa1605943.

Balance-Akt der Hormone

Die Liste der Beschwerden ist lang: Hit­zewallungen und Herzklopfen, Schweiß­ausbrüche und Schlafstörungen, Kopf­schmerzen und Reizbarkeit zählen noch zu den harmloseren Problemen. Doch damit nicht genug. Wie eine schlecht gelaunte Di­va scheint die Natur ihre schützende Hand zurückzuziehen, kaum daß die weibliche Hälfte der Menschheit ihren Beitrag zur Arterhaltung geleistet hat: Knochenschwund und ein erhöhtes Risiko für Herz-Kreislauferkrankungen begleiten die radikale Umstellung des Hormon­haushaltes, die sich hinter dem Wörtchen „Menopause“ ver­birgt.

„Das ist ein riesengroßes Gesundheits­problem“, erklärt Dr. Ursula-Friederike Habenicht. Ein Problem, mit dem sich die Reproduktionsbiologin nicht ein­fach abfinden will. „Ich empfände es als verantwortungslos, untätig zu bleiben, wenn ich Leiden verhindern kann“,  lautet ihre Kampfansage. Für diejenigen, die beispielsweise wegen einer Osteoporose einen Oberschenkel­halsbruch oder eine Wirbelfraktur mit all ihren Folgen erdulden müssen sei der Hinweis auf den „natürlichen Lauf der Dinge“ wenig trostreich. In der Forschungsabteilung Fertilitätskontrolle und Hormontherapie der Schering AG leistet Dr. Habenicht deshalb in dop­peltem Sinne Knochenarbeit.

An den nur scheinbar toten Knochen nämlich hinterläßt der mit der Meno­pause verbundene Rückgang an Sexualhormonen deutliche Spuren. Nach dieser letzten, vom Eierstock gesteuerten, Regelblutung wird die Produktion von Östrogen eingestellt. Dadurch beschleunigt sich der Abbau der Knochen­substanz, der schon nach dem 30 Lebensjahr einsetzt: „Jede vierte Frau jen­seits der Wechseljahre leidet unter Osteopo­rose. Mir kommt es vor allem darauf an, diesen Frauen eine Therapie anzubieten“, betont der Dr. Matthias Bräutigam. Die Suche nach neuen Ansätzen im Kampf gegen den Knochen­schwund hat für den Abteilungsleiter deshalb höchste Priorität.

Zwar läßt sich der Abbauprozeß durch die tägliche Einnahme östrogenhaltiger Arzneimittel verlangsamen, doch wächst bei alleiniger Gabe des Hormons das Risiko für eine Krebserkrankung der Gebärmutterschleim­haut. Ein zweites Hormon aus der Familie der Gestagene sorgt daher in modernen Präparaten für den Schutz der gefährdeten Zellen und macht das zweischneidige Schwert Östrogen zu einer potenten Waffe gegen den Knochenabbau. Doch auch die bisher gebräuchlichen Kombinationen aus Östrogen und Gestagenen bieten keine per­fekte Lösung: Über Jahre hinweg kann es zu monatlichen „Entzugsblutungen“ kom­men, die von vielen Frauen nicht akzeptiert werden. Wenn sich auch diese Nebenwir­kung noch durch die Aus­wahl und ge­schickte Kombination verschie­dener Bo­tenstoffe vermeiden ließe, wäre das größte Hindernis für eine breite An­wendung der Hormoner­satztherapie über­wunden.

Doch bis dahin ist es noch ein langer Weg. „Selbst bei den ´klassischen´ Hormo­nen, den Östrogenen, weiß man bis heute nicht genau, wo sie am Knochen angreifen, was sie da tun und wie sie das Zusammen­spiel der Zellen beeinflußen“, stellt Dr. Ha­benicht nüchtern fest. Neu ins Spiel kom­men jetzt zusätzlich die Gestagene. Hier gibt es Hinweise, daß sie den Knochen womöglich auch alleine schützen können. Die verwirrende Vielfalt dieser Substanz­klasse erschwert die Suche der zehnköpfi­gen Arbeitsgruppe in der Berliner Zentrale der Schering AG allerdings beträchtlich. „Knochenversuche bedeuten Knochenarbeit und man muß viel Geduld mitbringen.“

Dr. Habenicht weiß, wovon sie redet, denn kaum ein Experiment in ihrem Labor nimmt weniger als drei Monate in An­spruch. An weiblichen Ratten muß zunächst die Zufuhr an schützenden Geschlechts­hormonen unterbro­chen und so ein Verlust der Knochenmasse eingeleitet werden. Dies geschieht durch die operative Entfernung der Gebärmutter. Anschließend werden den Tieren verschiedene Testsubstanzen gespritzt – je nach Versuch meist eines der vielen Gesta­gene mit oder ohne Östrogen, wobei zu­sätzlich noch die Konzentrationen der Hormone variiert werden.

Erste Anhaltspunkte, daß mit dem Kno­chen überhaupt etwas passiert, finden sich auch mit den modernsten Untersuchungs­methoden frühestens nach 14 Tagen. Nach zwei weiteren Wochen sind die Verände­rungen zwar ausreichend für eine erste vor­sichtige Bewertung, sichtbar werden sie aber erst nach einer aufwendigen „Zubereitung“ des Knochens. Erneut ver­streicht ein Monat, bis unter dem Einfluß von Farbstoffen und Fixiermitteln die Hauptdarsteller ihre Masken fallen lassen: Osteoblasten, verantwortlich für den Auf­bau des Knochens, heben sich jetzt deutlich von ihren Gegenspielern, den Osteoklasten ab. Wie auf dem Luftbild einer Großstadt kann das Auge des Experten Neubaugebiete von Abrißregionen unterscheiden, wenn der präparierte Knochen erst einmal in hauch­dünnen Scheibchen unter dem Mikroskop liegt.

Doch damit nicht genug. Um aus den bunten Bildern harte Daten zu extra­hieren, muß das Gesehene auch noch genau ver­messen werden. Erst wenn  – ein Vierteljahr nach Beginn des Experimentes – die nackten Zahlenkolonnen vorliegen, wird klar, ob die geteste Hormonkombination wirklich einen Vor­teil gegenüber den bekannten Mi­schung­en verspricht.

Ergänzt werden die histologischen Arbei­ten seit kurzem auch durch moleku­larbiolo­gische Methoden und Beobachtungen an Zellkulturen. So weiß man, daß die Östro­gene ihrerseits bestimmte Botenstoffe wie Interleukin-1 kontrollieren können, mögli­cherweise auch den Tumor Nekrose Faktor TNF-. Das aus Biologen, Medizinern und Pharmakologen zusammengesetzte Sche­ring-Team ist dieser Spur nachgegangen und hat versucht, die Effekte der Östrogene durch Antikörper und Rezeptorenblocker nachzuahmen. „Es ist uns gelungen, weiter hinten in der Befehlskaskade einzugreifen“, vermeldet Bräutigam. Der Pharmakologe ist allerdings skeptisch, ob sich aus diesem Fortschritt eine Therapie entwickeln läßt, denn eine langjährige Behandlung mit den getesteten Molekülen würde sich vermutlich auch auf das menschliche Immunsystem auswirken.

Immer wieder tun sich vor den Wissen­schaftlern Abgründe der Ahnungslo­sigkeit auf. „Ein Knochen ist ein enorm kompli­zier­tes Organ. Wir sind dabei, kleine Stein­chen des Mosaiks zu sammeln, aber wir ha­ben das komplette Bild noch nicht zu­sam­men“, lautet die bescheidene Bilanz von Dr. Habenicht, die neben ihrer Laborarbeit als Privatdozentin an der Freien Universität Berlin tätig ist.

Glücklicherweise helfen die meisten Arz­neimittel auch ohne detailierte Kenntnisse über deren Wirkungsmechanismus. Der Gynäkologe Dr. Vladimir Hanes kann dies aus eigener Erfahrung bestätigen. „Es ist überhaupt keine Frage: Östrogen beugt der Osteoporose vor, egal wie es verabreicht wird, sobald eine Konzentration von 30-40 Pikogramm pro Milliliter Serum erreicht wird.“ Als wissenschaftlicher Mitarbeiter der Klinischen Entwick­lung Fertilitätskontrolle und Hormonthera­pie will Hanes diesen handfesten Vorteil ei­ner möglichst großen Anzahl von Frauen zugänglich machen.

Neben all den Schmerzen, die durch vor­beugende Maßnahmen vermieden werden könnten, nennt der gebürtige Slowake auch wirtschaftliche Gründe, die für einen Ersatz der fehlenden Hormone sprechen. So zäh­len Oberschen­kelhals- und Unterarmbrüche, Hüft- und Wirbelfrakturen besonders bei älteren Menschen zu den häufigsten Folgen der Osteoporose. Nach oft wochenlangem Krankenhausaufenthalt wird ein großer Teil dieser Patienten pflegebedürftig – die Ko­sten dafür schlagen weltweit mit jährlich sieben Milliarden Dollar zu Buche. Die Tendenz ist weiter steigend, denn der Anteil an über Sechzigjährigen unter der Gesamt­bevölke­rung wird von gegenwärtig zehn Prozent bis zum Jahr 2020 auf ein Viertel anwachsen.

„Das wichtigste aber ist die Erkenntnis, daß man mit Östradiol und anderen Östro­genen nach der Menopause nicht nur der Osteoporose vorbeugen, sondern auch das Risiko von Herz-Kreislauferkankungen senken kann“, lenkt Hanes das Augenmerk auf eine Reihe großer epidemiologischer Studien. Vor die­ser häufigsten Todesursache überhaupt sind Frauen bis zu den Wechsel­jahren verhält­nismäßig gut geschützt – Infarkte und Schlaganfälle werden weitaus seltener re­gistriert als unter der männlichen Bevölke­rung. Nach der Menopause aber holen die Frauen die Männer ein oder überholen sie sogar.

Und wieder spielen fehlende Östrogene die entscheidende Rolle: Die weiblichen Geschlechtshormone können nämlich die „bösen“ Bluttfette Cholesterol und LDL re­duzieren, den Gehalt an „gutem“ HDL da­gegen erhöhen. Darüber hinaus deuten neueren Untersuchngen auf einen direkten schützenden Effekt der Östrogene auf die Blutgefäße hin. Das Resultat: Frauen, die über mehrere Jahre Östrogene einnehmen, haben um 50 Prozent weniger Infarkte und Schlaganfälle. Auch die Sterb­lichkeit ist gegenüber der Normalbevölke­rung fast um die Hälfte reduziert. „Das ist wirklich toll“ begeistert sich Hanes.

Dennoch gibt es auch Probleme. Die größte Sorge lau­tet, daß die langjäh­rige Einnahme von Östrogen das Brustkrebs-Risiko erhöhen könnte. Aller­dings widersprechen sich die vorliegenden Studien in ihren Aussagen. Gera­dezu paradox scheint das Ergebnis der neuesten und sorgfältigsten Untersu­chungen: Demnach wird Brustkrebs zwar etwas häufiger diagnostiziert bei Frauen die Östrogen erhalten; diese Patientinnen haben aber eine bessere Prognose als ihre Lei­densgenossinen, die kein Östrogen ein­nahmen. Dies mag damit zusammenhängen, daß sich der Brustkrebs bei den östrogenbe­handelten Frauen fast immer als gutartig erweist. Möglicherweise läßt sich das überraschende Resultat aber auch damit erklären, daß die ärztliche Überwa­chung während einer Hormonersatztherapie engmaschiger ist als bei unbe­handelten Frauen – der Brustkrebs würde also gar nicht häufiger auftreten, sondern nur seltener übersehen.

„Unter dem Strich ist der Nutzen einer Hormonersatztherapie so groß, daß man dies fast jeder Frau empfehlen kann“, versi­chert Hanes. Diese Erkennt­nis hat sich je­doch längst noch nicht überall durchgesetzt: Selbst in den Vereinigten Staaten, wo offener über die Wechseljahre und ihre Folgen gespro­chen wird, als in den meisten anderen Län­dern, nehmen lediglich 15 Prozent der me­nopausalen Frauen den Schutz der Hormo­ne in Anspruch. Im Vor­dergrund steht da­bei die kurzfristige Be­handlung klimakteri­scher Symptome wie Hitzewallungen und Reizbarkeit mit Östrogenen.

Noch weitaus seltener verschreiben euro­päische Ärzte ihren Patientinnen eine Hor­monersatztherapie. In südlichen Ländern oder auch in Japan werden Klimakteriums­beschwerden kaum als behandlungsbedürf­tig angesehen. Wer unter diesen Umständen einer langjährigen Prävention durch die täg­liche Einnahme eines Hormonpräparates das Wort reden will, muß schon eine be­sondere Überzeugungskraft mitbringen. Oder ein Medikament ohne Nebenwir­kungen.

Langsam tastet man sich bei Schering an dieses Ziel heran. Von seinem Büro im 9. Stock der Berliner Zentrale bewahrt Hanes den dafür nötigen Überblick. Der ständige Strom der Daten aus den unter ihm liegen­den Labo­ratorien soll schließlich möglichst vielen Frauen zugute kommen. Klinische Prüfungen in Zusammenarbeit mit deutschen und britischen Universitäten werden von hier aus geplant und koordiniert.

Die Fortschritte sind beachtlich. Präparate wie das auf dem deutschen Markt erhältli­che „Climen“ bie­ten schon heute Schutz vor Knochenabbau, Herzinfarkt und Schlaganfall und verhin­dern dabei gleichzeitig Wucherungen der Gebärmutterschleimhaut. Erreicht wird dies durch die feine Balance zwischen einem Östrogen (Estradiolvalerat) und einem Ges­tagen (Cyproteronacetat). Bei die­ser „sequentiellen“ Darreichungsform ent­halten die Pillen in den ersten elf  Tagen des Monats ausschließlich Östrogen; für zehn weitere Tage kommt dann noch das Gestagen hinzu; schließlich folgt eine einwöchige Pause.

Als störend werden jedoch besonders von älteren Frauen die monatlichen Entzugsblu­tungen empfunden, mit denen unter dieser Behandlung in vier von fünf Fällen gerechnet werden muß. Dies mag gegenüber dem beträchtlichen Nutzen der Hormonsubstitution als geringfügiges Manko erscheinen, zeigt aber gleichzeitig den Weg für weitere Verbesserungen. Neuere Untersuchungen weisen darauf hin, daß die als lästig empfundenen Blutungen in etwa 75 Prozent aller Fälle gänzlich vermieden werden könnten, wenn die Einnahme der Hormone in einen anderen „Rhythmus“ erfolgt. Im Gespräch ist deshalb die „kontinuierlich-kombinierte“ Einnahme, bei der Östrogen und eine minimale Menge Gestagen täglich in einer Pille geschluckt werden.

Doch selbst damit will Hanes sich nicht zufrieden geben: „Erst wenn wir ein Präpa­rat haben, das die Blutungen bei gleicher Wirksamkeit und Sicherheit 100-prozentig verhindert, ist das Optimum erreicht.“ Zu einem neuen Hoffnungsträger scheinen sich die Anti-Gestagene zu entwicklen. Die von findigen Chemikern synthetisierten Sub­stanzen konkurrieren mit ihren natür­lichen Verwandten – den Gestagenen – nicht nur um die gleichen Bindungs­stellen auf der Zelloberfläche. Sie scheinen außerdem auch selbst in die Rolle eines Rezeptors schlüpfen zu können. Die Erfindung der Anti-Gesta­gene habe „eine wahre Revolution auf dem Ge­biet der Endokrinologie“ ausgelöst, be­geistert sich Hanes. Ständig werden neue Wirkungen dieser Laborprodukte auf das komplizierte Geflecht hormoneller Befehls­ketten entdeckt. Erprobt werden die Anti-Gestagene derzeit gegen den Brustkrebs und gegen die als Myome bekannten, gutar­tigen Geschwülste der Gebärmutter, die be­vor­zugt um die Menopause eintreten. Weil Substanzen wie das bei Schering entwic­kelte Onapriston auch den Gebärmutterhals erweitern können, besteht außer­dem eine gute Chance, die Komplikationsrate bei schwierigen Gebur­ten zu senken und gleichzeitig die Schmer­zen werdender Mütter ohne Angst vor Nebenwirkungen zu lindern. Prinzipiell können Anti-Gestagene aber auch dazu genutzt werden, einen früh­zeitigen Schwangerschaftsabbruch herbei­zu­führen. Hanes legt deshalb großen Wert auf die Feststellung, daß Schering diese Forschungsrichtung nicht unterstützt.

Statt dessen geht man lieber der Frage nach, wie sich jener Ba­lanceakt der Hor­mone noch perfekter gestalten läßt, von dem die Lebensqualität postme­nopausaler Frauen in entscheidender Weise beeinflußt wird. In vier bis fünf Jahren, so rechnet Hanes, wird sich zeigen, ob das Zusammen­spiel der vielversprechen­den Newcomer mit den altbewährten Östrogenen endlich den ersehnten Durch­bruch bringt. Für Frauen jenseits der Wech­seljahre bestünde dann die Möglichkeit, den Launen der Natur ein Schnippchen zu schlagen. Unter dem Schutz einer Hormonersatztherapie ohne Nebenwirkungen hätten sie einen Grund mehr, auch das Lebensdrittel nach der Me­nopause in vollen Zügen zu genießen.

(Entwurf für einen Beitrag, der in redigierter Form im Schering Forschungsmagazin 1994 erschienen ist.)

Krebsvorsorge auf dem Prüfstand

Der Kampf gegen den Krebs ist meist auch ein Kampf gegen die Zeit. Je früher ein bösartiges Geschwür entdeckt wird, desto größer sollten deshalb die Chancen auf Heilung sein. Ob aber die verschiede­nen Früherkennungsverfahren, die heute angeboten werden, alle sinnvoll sind, ist wissenschaftlich keinesfalls gesichert. Das Nationale Krebsforschungsinstitut der Vereinigten Staaten (NCI) hat deshalb den Startschuß für einen Großversuch mit 148000 Freiwilligen im Alter zwi­schen 60 und 74 Jahren gegeben.

Dabei steht die Frage im Vordergrund, ob Vorsorgetests die Zahl der Krebstoten wirklich verringern können. Um dies herauszufinden, werden die Probanden per Losentscheid auf zwei Gruppen verteilt, von denen eine die normale medizinische Betreuung erfährt. Die andere wird zusätzlich innerhalb von drei Jahren viermal mit sieben verschiedenen Früherkennungsmethoden auf Krebs des Magen-Darm-Traktes, der Lunge, der Vorsteherdrüse (Prostata) und der Eierstöcke (Ovarien) hin untersucht. Insgesamt zehn Jahre lang geben die Teilnehmer der knapp 150 Millionen Mark teuren PLCO-Studie (engl.: Prostate, Lung, Colorectal, and Ovarian Cancer Screening Trial) Auskunft über ihren Gesundheitszustand.

Nach Schätzungen des Bundesgesund­heitsamtes entfallen in Deutschland mehr als die Hälfte aller Krebsfälle auf die genannten Organe. Im Jahr 1990 waren das allein für die alten Bundesländer über 150000 Neuerkrankungen. Besonders häufig sind ältere Menschen betroffen, was die Beschränkung der amerikani­schen Untersuchung auf vergleichsweise betagte Freiwillige erklärt.

(erschienen in der Süddeutschen Zeitung am 9. Dezember 1993. Ein Überblick zu den Ergebnissen dieser wichtigen Studie aus dem Jahr 2015 findet sich hier.)

Parvoviren – Verbündete gegen Krebs?

Die Verbündeten von Jörg Schlehofer sind alles andere als groß. Rund fünf Millionen Parvoviren müßte man aneinanderreihen, um auf eine Strecke von nur einem Zentimeter zu kommen. Selbst unter dem Elektronenmikroskop sind die Winzlinge nur als kleine graue Pünktchen zu erkennen.

Dennoch hoffen Schlehofer und sein belgischer Kollege Jean Rommelaere darauf, Parvoviren als hochpräzise Werkzeuge für die Krebstherapie zu nutzen. Immerhin schädigen die Parasiten unter den hunderten verschiedener Zelltypen des Menschen fast ausschließlich jene Irrläufer, die in Form von Tumoren und Metastasen das Leben der Patienten bedrohen.

In gesunden Zellen können sich die Zellpiraten dagegen nicht vermehren. Mit Tierversuchen an Hamstern und Nacktmäusen konnten die Wissenschaftler am Forschungsschwerpunkt Angewandte Tumorvirologie außerdem zeigen, daß Tumorzellen gegenüber einer Bestrahlung empfindlicher reagieren, wenn sie zuvor mit Parvoviren infiziert wurden.

„Das interessiert natürlich die Strahlentherapeuten sehr“, sagt Schlehofer, für den Internationale Zusammenarbeit mehr ist als nur ein Schlagwort: Die zurückliegenden Monate hat der DKFZ-Angestellte größtenteils am Pasteur-Institut im französischen Lille verbracht. Gleichzeitig pflegt er die Verbindungen zur Radiologischen Universitätsklinik Heidelberg, wo das Konzept schon bald auch an den ersten Krebspatienten erprobt werden soll.

Zuvor gilt es allerdings, mögliche Risiken auszuschließen. „Kann das Virus, mit dem wir hier arbeiten, wirklich keine Krankheiten beim Menschen auslösen?“, lautet die Frage, die für Schlehofer im Mittelpunkt steht. Außerdem wird überprüft, ob Parvoviren vielleicht sogar gesunde Menschen vor Krebs schützen können. Beim Gebärmutterhalskrebs deutet jedenfalls alles darauf hin, „daß die Patientinnen sich seltener mit dem Virus auseinandergesetzt haben, als die Normalbevölkerung“.

Weltweit beginnt man zu erkennen, daß Viren mehr sind als Krankheitserreger und lästige Parasiten. Als Lastenträger für Therapiegene könnten sie in jene Winkel des Körpers vordringen, die für das Skalpell des Chirurgen unerreichbar sind. Selbst Tumoren des Gehirns haben amerikanische Forscher mit Hilfe solcher Gen-Taxis schon attackiert. Auch wenn der Ausgang dieses Experiments noch ungewiß ist, stehen die Chancen gut, daß den Ärzten schon bald ein neues „Instrument“ zur Verfügung steht, an dessen Einsatz noch vor zehn Jahren allenfalls Science-Fiction Autoren zu denken wagten.

(erschienen in Ausgabe 3/4 1993 des „einblick“, der Zeitschrift des Deutschen Krebsforschungszentrums)

Antisense-RNS: Blockade mit System

Manchmal zahlt es sich aus, der Herde nicht zu folgen: Als Georg Sczakiel vor sieben Jahren von den ersten Versuchen erfuhr, Gene mit „Gegen-Genen“ zu hemmen, wurden Forschungen auf diesem Gebiet noch als „sehr riskant für den persönlichen Werdegang“ eingestuft.

Heute ist Sczakiel Leiter einer sechsköpfigen Arbeitsgruppe am Zentrum für angewandte Tumorvirologie des DKFZ. Er zählt zur einer schnell wachsenden Schar von Wissenschaftlern, die daran arbeiten, einzelne Erbanlagen mit bisher unerreichter Präzision zu blockieren.

Der gelernte Chemiker macht sich dabei eine wesentliche Eigenschaft des fadenförmigen Erbmoleküls DNS zunutze, welches eigentlich aus zwei „zusammengeklebten“ Hälften besteht: Alle Informationen sind in der Regel nur auf einem Strang verschlüsselt. Dessen spiegelbildliches Gegenstück dient lediglich zur Stabilisierung, verdeckt dabei aber die eigentliche molekulare Botschaft. Erst wenn die anhänglichen Partner durch ein ganzes Arsenal von Biomolekülen für Sekundenbruchteile voneinander gelöst werden, kann die Zelle eine Kopie des molekularen Bauplans erstellen. Diese Boten-RNS dient dann außerhalb des Zellkerns als Vorlage für die Produktion eines Biokatalysators.

Hier aber kann Sczakiel mit seinen „molekularen Bremsklötzen“ einen Riegel vorschieben. Es handelt sich dabei um Antisense-RNS, ein mit gentechnischen Methoden hergestelltes Spiegelbild der Boten-RNS. Beide Moleküle schmiegen sich aneinander und verknäulen dabei zum unlesbaren Doppelstrang, ganz ähnlich dem DNS-„Muttermolekül“. Der Clou der Methode besteht darin, daß es für jedes Gen nur einen RNS-Typ gibt, der sich mit einer maßgeschneiderten Antisense-RNS lahmlegen läßt.

Daß Sczakiel mit dieser Technik ausgerechnet am Krebsforschungszentrum versucht, die Vermehrung des Aids-Virus zu blockieren versucht, mag zunächst verblüffen. DKFZ-Chef Harald zur Hausen läßt den Nachwuchswissenschaftler trotzdem gewähren, denn das Prinzip der Genhemmung durch Antisense-Moleküle ist universell anwendbar. Dank der weltweiten Bemühungen zur Entschlüsselung der menschlichen Erbanlagen sind inzwischen eine ganze Reihe von Genen bekannt, deren Überaktivität das Krebswachstum begünstigt. In den Vereinigten Staaten wurden die ersten Kandidaten bereits ins Visier genommen.

(erschienen in Ausgabe 3/4 1993 des „einblick“, der Zeitschrift des Deutschen Krebsforschungszentrums)

Neue Medikamente in der Onkologie

Ein neuer Kunde bot mir die Chance, die neuesten Entwicklungen in der Krebsmedizin ausführlich zu recherchieren und auf relativ breitem Raum darzustellen. So entstand 1993 im Kontakt mit annähernd 30 Gesprächspartnern diese Momentaufnahme zu einigen Wirkstoffen, die mittlerweile Therapiestandard sind – aber auch von mehreren Kandidaten, die letztendlich erfolglos blieben.

„Wir haben nichts in der Pipeline“, gesteht Hoechst-Pressesprecher Joachim Pietzsch ebenso freimütig wie seine Kollegin Christina Sehnert von der Bayer AG. Auch bei den Marburger Behringwerken hat man kein Pillen gegen den Krebs vorzuweisen; setzt stattdessen eher auf das boomende Feld der Immuntherapien.

Angesichts der Datenlage scheint Vorsicht angebracht, wenn von „Durchbrüchen in der Krebstherapie“ die Rede ist. Obwohl viele seltenere Krebsformen in den letzten 20 Jahren behandelbar wurden, blieb die Sterblichkeit bei den „großen Killern“ Magen-, Darm- Lungen- und Brustkrebs seit 1960 fast konstant.

Erst bei näherer Betrachtung hellt das düstere Bild sich auf. Nach langer Stagnation zeichnen sich zum Ende der neunziger Jahre endlich auch auf diesem Gebiet deutliche Verbesserungen ab. Die vielleicht wichtigste Neuentdeckung ist dabei das aus Eiben gewonnene Zytostatikum Taxol und dessen Derivat Taxotere.

Bei der Zellteilung bewirken sie die komplette Verknüpfung aller Tubulinmoleküle zu fadenförmigen Röhren, den Mikrotubuli. Das innere „Skelett“ der Zelle wird dadurch praktisch eingefroren. Nach der Verdopplung der Chromosomen können diese dann nicht mehr auf die Tochterzellen verteilt werden, da hierfür die Neubildung einer komplizierten Struktur aus Mikrotubuli erforderlich ist.

Wie wirksam Taxoide auch im Vergleich zu herkömmlichen Zytostatika sind, wurde auf dem diesjährigen Treffen der Amerikanischen Gesellschaft für Klinische Onkologie in Orlando, Florida, belegt. Dort präsentierte man  eine ganze Reihe von Studien der klinischen Phase II, wonach sowohl beim Nicht-kleinzelligen Lungenkrebs als auch beim Ovarialkarzinom ein teilweises Ansprechen in jedem dritten Fall verzeichnet wurde und zwar auch bei Patienten, bei denen das Standardchemotherapeutikum Cisplatin keine Wirkung zeigte.

„Sehr beeindruckende Zahlen“ gab es vor allem für die Therapie des Brustkrebses zu vermelden, sagte Dr. Ulrich Erfort, Produktmanager für Taxotere bei Rhone-Poulenc Rorer. „Die Remissionsraten sind teilweise sehr sehr gut, auch beim fortgeschrittenem Mammakarzinom liegen sie in manchen Studien bei 60 bis 70 Prozent“, unterstrich Erfort.

Einen weiterer Schritt vorwärts bei der Bekämpfung dieser zweithäufigsten Todesursache für Frauen überhaupt bedeutet der routinemäßige Einsatz des Hormonblockers Tamoxifen. Bereits vor zwei Jahren hatte eine Arbeitsgruppe um den Epidemiologen Richard Peto an der Universität Oxford 133 Studien an 75000 Patientinnen auf einen gemeinsamen Nenner gebracht. Mit einem hochkomplexen und ungewöhnlichen statistischen Verfahren, der sogenannten Metaanalyse, gelang der Nachweis, daß die Zehn-Jahres-Überlebensrate von 71 auf 75 Prozent steigt, wenn die Behandlung in einem frühen klinischen Stadium gegonnen wird. Außerdem verhindert Tamoxifen bei vergleichsweise geringen Nebenwirkungen das Übergreifen des Krebses auf die gesunde Brust in 40 Prozent aller Patientinnen.

Die Blockade der Östrogene, die beim Tumorwachstum offensichtlich eine große Rolle spielen, wird durch diese Studie zu einem heißen Forschungsgebiet. Gegenüber der Chemotherapie ist die Hormonblockade nicht nur für die Patientinnen wesentlich schonender, die Erfolgsaussichten für eine solche Behandlung können auch durch den Nachweis der entsprechenden Hormonrezeptoren in der Brust besser eingeschätzt werden.

Sogar bei der Krebsvorbeugung könnten Hormone bald eine wichtige Rolle spielen: Eine große Untersuchung mit 16000 Teilnehmerinnen, die im vergangenen Jahr in den USA angelaufen ist, soll die Frage klären, ob Tamoxifen das Brustkrebsrisiko besonders gefährdeter Frauen senken kann.

Einen Schritt weiter geht die sogenannte Differenzierungstherapie, mit der Tumorzellen nicht abgetötet sondern „resozialisiert“ werden sollen. Auch hier spielen Hormone eine Rolle. So konnten Martin R. Schneider und Horst Michna von der Berliner Schering AG zusammen mit Wolfgang Kühnel und Yokishige Nishino vom Anatomischen Institut der Medizinischen Universität Lübeck zeigen, daß die Progesteronantagonisten Onapriston und ZK 112.993 bei experimentellen Mammakarzinomas den Tumorzellen auf die Sprünge helfen: Diese entwickelten sich im Tierversuch bei Ratten und Mäusen teilweise zu sekretorischen Zellen oder starben den „induzierten Zelltod“.

Auch klinische Studien liegen bereits vor. Bei mehreren hundert Patienten mit akuter Promyelozytenleukämie (APL) genügte die Gabe des Vitamin-A-Derivates All-trans-Retinsäure, um die Zellen zu „überreden“, sich zu funktionsfähigen Granulozyten weiter zu entwickeln. Laut dem „Interpharma Forum“ konnten mit dieser Therapie in 85 Prozent der Patienten komplette Remissionen erreicht werden. Dr. Werner Bollag, der seit etwa fünf Jahren bei Hoffman-La Roche das Konzept einer „physiologischeren“ Krebstherapie verfolgt, hofft, daß durch diese Resultate „allmählich das Tor zu einer neuen, lang gesuchten Zukunft der Krebstherapie“ aufgehen könnte.

Ähnliches hatte man sich allerdings vor zehn Jahren auch von den Interferonen oder dem Tumor Nekrose Faktor erhofft, ohne daß sich die kühnen Prognosen bis heute bewahrheitet hätten. Beide Substanzen gehören zu der Gruppe der Zytokine, die als Botenstoffe des Immunsystems das komplexe Zusammenspiel dutzender verschiedener Typen von Abwehrzellen koordinieren. Eben diese Komplexität macht den Forschern zu schaffen. Durch die Gabe eines Zytokins wird oft eine ganze Kaskade weiterer Faktoren ausgelöst. Nicht nur die Abwehrzellen selbst, sondern auch das Zentrale Nervensystem und verschiedene innere Organe können dadurch in Mitleidenschaft gezogen werden. In vielen Fällen besteht überdies keine direkte Beziehung mehr zwischen Dosis und Wirkung einzelner Substanzen.

Trotz dieser Probleme haben sich manche Zytokine einen Platz bei der Therapie – meist seltener – Krebsformen erkämpft. In klinischen Studien werden derzeit verschiedener Vertreter dieser Substanzgruppe untereinander oder mit der konventionellen Chemotherapie kombiniert. Eine „exponentielle Zunahme des Wissens“ über die Wirkung von Zytokinen im Reagenzglas sieht jedenfalls Professor Karl Welte von der Abteilung für Pädiatrische Hämatologie und Onkologie der Medizinischen Hochschule Hannover. In der Praxis aber haben die Erfolge der jüngsten Zeit, etwa beim Nierenkarzinom oder beim schwarzen Hautkrebs, den Prozentsatz der Remissionen nur geringfügig erhöhen können.

Wesentlich überzeugender ist da schon der Einsatz einiger anderer Familienmitglieder der Zytokine, der haematopoetischen Wachstumsfaktoren. Sie können einen wichtigen Beitrag leisten, um die oft lebensbedrohlichen Nebenwirkungen einer Chemotherapie in den Griff zu bekommen. Bereits zugelassen sind der Granulozyten-Kolonien stimulierenden Faktors (G-CSF) und des Granulozyten-Makrophagen-Kolonien stimulierenden Faktors (GM-CSF). Sie kurbeln die Produktion jener weißer Blutzellen an, die bei der Abwehr bakterieller Infektionen eine entscheidende Rolle spielen.

Professor Roland Mertelsmann hat die Behandlung mit den Bluthormonen G-CSF, GM-CSF und Interleukin-3 an der Universitätsklinik Freiburg weiter verbessert. Die Dauer der Abwehrschwäche konnte dadurch von etwa elf auf sechs Tage fast halbiert werden. Von neun auf drei Tage verkürzt wurde gar die Periode erhöhter Blutungsgefahr nach der Chemotherapie. Prinzipiell sollte es dank der Linderung der Nebenwirkungen auch möglich sein, die Dosierung bei der Chemotherapie zu erhöhen und somit die Heilungschancen der Patienten zu verbessern.

Auch die oberste Kommandeebene der Zellen, die DNA, wird mittlerweile ins Visier genommen. Einen indirekter Angriff auf die Struktur der Erbsubstanz ermöglicht die seit den sechziger Jahren bekannte Substanz Camptothecin (CPT). Sie hemmt die Topoisomerase I, ein Enzym, welches den DNA-Doppelstrang während des Ablesens der genetischen Information an einer Stelle auftrennt und anschließend wieder zusammenheftet. In Karzinomen des Darms, der Eierstöcke und der Speiseröhre sowie bei Lymphomen wurden erhöhte Topo-I Konzentrationen festgestellt, der Einsatz von CPT scheiterte jedoch zunächst an der enormen Toxizität des Naturstoffes.

Wie so oft könnten im Chemielabor entwickelte Analoga dieses Hindernis überwinden: Topodecan (TPT) und CPT-11 heißen die Kandidaten, die in Japan, den Vereinigten Staaten und Europa intensiv getestet werden. In klinischen Versuchen der Phase II zeigten sich ermutigende Ergebnisse unter anderem beim Lungenkrebs, wo 30 Prozent von 72 Patienten mit der nicht-kleinzelligen Form der Krankheit auf die Behandlung ansprachen. Beim kleinzelligen Lungenkrebs waren es sogar rund 40 Prozent in der Gruppe zuvor behandelter Patienten.

Die verwirrende Vielfalt neuer Arzneimittelkandidaten ruft bei Vertretern der Pharmaindustrie und bei Klinikern indes höchst unterschiedliche Reaktionen hervor. Während erstere meist eine Vielzahl von Gründen parat haben, warum gerade ihr Produkt besonders vielversprechend ist, wollen letztere sich nur höchst ungern festlegen. Die Tatsache, daß von einem guten Dutzend namhafter Onkologen kein einziger bereit war, gegenüber der Physis die Chancen einzelner Substanzen zu diskutieren, mag mit der kaum noch überschaubaren Zahl klinischer Studien und logisch erscheinender Ansätze zu tun haben. Das Zögern derjenigen, die jeden Tag Visite gehen, könnte aber auch ein deutlicher Hinweis darauf sein, daß schon zu viele todkranke Patienten in ihrer Hoffnung auf den großen Durchbruch im Kampf gegen den Krebs bitter enttäuscht wurden.

(Originalmanuskript eines Artikels für „Physis – Medizin und Naturwissenschaften“, erschienen in der Novemberausgabe 1993)

Genanalysen – Chancen und Risiken

Fluch und Segen zugleich birgt die Möglichkeit einer Gendiagnose, wie der Amerikaner Henry T. Lynch aus eigener Erfahrung zu berichten weiß. Der grauhaarige Wissenschaftler von der Creighton Universität im Bundesstaat Nebraska hat seine ganze Karriere der Untersuchung erblicher Krebserkrankungen gewidmet – eine besonders bösartige Form des Darmkrebses, das Lynch-Syndrom, trägt sogar seinen Namen.

Auf einem Fachkongreß in Bonn schilderte der Mediziner kürzlich die enormen Belastungen, unter denen die weiblichen Mitglieder einer Großfamilie aus Omaha zu leiden haben. Bei dieser Familie tritt eine aggressive, erbliche Krebsform seit Generationen mit erschreckender Häufigkeit auf. Jede zweite Frau in dieser Familie muß damit rechnen, daß sich in der Brust- oder in den Eierstöcken lebensbedrohliche Geschwüre bilden.

Ein molekularbiologisches Verfahren, das erst in den letzten Jahren entwickelt wurde, erlaubt es seit kurzem, die Frauen anhand ihrer Gene in zwei gleichgroße Gruppen zu trennen: Mitglieder der einen Gruppe werden von ihrer Angst erlöst; ihr Krebsrisiko ist nicht höher als das in der normalen Bevölkerung. Die Frauen der anderen Gruppe tragen dagegen mit 98-prozentiger Wahrscheinlichkeit ein defektes Gen. „Im Prinzip können wir das zum Zeitpunkt der Geburt feststellen“, sagt Lynch, der selbst einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung der Methode geleistet hat.

Für Frauen in der zweiten Gruppe ist das  Risiko drastisch erhöht, schon in mittlerem Alter an dem erblichen Brust-Ovariar Krebs-Syndrom (HBOC) zu erkranken. Auch durch halbjährliche Untersuchungen der bedrohten Organe und selbst die vorsorgliche operative Entfernung der Eierstöcke kann die Gefahr lediglich verringert werden. Nachdem Lynch die Frauen in ihrer vertrauten Umgebung in persönlichen Gesprächen über ihre Lage aufgeklärt hatte, stellte er eine Frage, die mit zunehmender Verbreitung genanalytischer Verfahren auf immer mehr Menschen zukommen wird: „Wollen Sie wirklich wissen, ob Sie in 15, 20 oder 40 Jahren damit rechnen müssen, an einer möglicherweise unheilbaren, tödlichen Krankheit zu leiden?“

Nach einer dreiwöchigen Bedenkzeit und eingehender Beratung entschieden sich die meisten Frauen schließlich für den Gentest. Menschliche Dramen hätten sich abgespielt, als die Resultate bekannt gegeben wurden, erinnert sich Lynch. Dramatisch auch ein weiteres Ergebnis: Unter den Frauen, bei denen ein defektes Gen gefunden wurde, verlangte die Hälfte, sämtliche Eintragungen in den Krankenakten zu löschen.

„Die Versicherungen sind ganz wild auf diese Daten, weil sie die Menschen mit erhöhtem Risiko am liebsten ausschließen würden“, erläutert Lynch. Um ähnliche Machenschaften in Deutschland bereits im Keim zu ersticken, streben Mitglieder aller im Bundestag vertretenen Fraktionen eine Ergänzung des Grundgesetzes an. Dort soll, gemäß einem Vorschlag der Verfassungskommission, in Artikel 74 die künstliche Befruchtung beim Menschen sowie die Untersuchung und die künstliche Veränderung von Erbinformationen aufgenommen werden. Ein Gesetz zur Genomanalyse würde damit auch der Zustimmung des Bundesrates bedürfen und hätte dann – im Gegensatz zu anderen gesundheitsrechtlichen Gesetzen – über die Ländergrenzen hinaus Gültigkeit.

Von einer bundeseinheitlichen Regelung erwartet die forschungspolitische Sprecherin der SPD, Edelgard Bulmahn zum Beispiel eine Garantie der „informationellen Selbstbestimmung“. Genetische Daten müßten demnach im Patienten-Arzt-Verhältnis verbleiben und dürften nicht an Dritte weitergegeben werden.

Nach Meinung von Kritikern wird es für solch eine Regelung höchste Zeit: Das „Human Genome Projekt“, mit dem in weltweiter Kooperation alle Erbanlagen des Menschen entschlüsselt werden sollen, schreitet schneller voran, als selbst Optimisten zu hoffen wagten. Schon Ende des nächsten Jahres könnten sämtliche geschätzt 75000 Gene des Homo sapiens kartiert sein (Anmerkung: Die Schätzung war viel zu hoch; derzeit geht man von ca. 21000 menschlichen Genen aus).

Die Versuchung, aufgrund der dann vorliegenden Daten, ungeborene Kinder, Ehepaare, Arbeitssuchende und Versicherungsnehmer anhand ihrer genetischen Daten zu beurteilen, wird auch unter Wissenschaftlern als ernsthafte Bedrohung empfunden. So befanden sich der amerikanische Gentherapie-Pionier French Anderson und sein Landsmann, der Gentechnik-Kritiker Jeremy Rifkin schon vor drei Jahren in seltener Übereinstimmung mit ihrer Forderung nach umfassendem Schutz für die genetischen Daten des Einzelnen.

Fundamentale ethische und soziale Probleme sieht auch der renommierte Molekularbiologe Benno Müller-Hill auf die Gesellschaft zukommen. In einem Beitrag für die britische Fachzeitschrift „Nature“ wagte der am Institut für Genetik der Universität zu Köln arbeitende Professor kürzlich einen Ausblick auf die nächsten dreißig Jahre. Er geht davon aus, daß Fortschritte in der Erkennung genetischer Eigenschaften am Anfang stehen, die Behandlung von Krankheiten dagegen möglicherweise um Jahrzehnte hinterher hinken wird.

Müller-Hill, der seine Kollegen neben der Arbeit als Grundlagenforscher auch mit Enthüllung über medizinische Verbrechen während des Dritten Reiches konfrontierte, lehnt Gentests keinesfalls grundsätzlich ab. „Wenn eine Person einen Gentest wünscht, dann soll sie den auch haben.“ Praktische Tests seinen aber sinnvoller. So wäre ein einfacher Rechentest bei der Aufnahme an der mathematischen Fakultät einer Universität sicherlich nützlicher als eine – derzeit noch nicht machbare – Genomanalyse. „Auch wenn es um den Arbeitsschutz geht, bin ich gegen erzwungene Gentests“, sagte Müller-Hill gegenüber den VDI-Nachrichten.  Allerdings räumt der Gen-Ethiker ein, daß Menschen, die ihrem Arbeitgeber oder der Versicherung freiwillig Daten präsentieren, welche auf ein geringes Risiko hinweisen, trotzdem im Vorteil wären.

Die Zuverlässigkeit derartiger Risikoanalysen wäre ohnehin begrenzt. Denn auch wenn ein Labortechniker in zehn Jahren möglicherweise in der Lage sein sollte, mit einem einfachen Test festzustellen, ob ein Embryo bereits eine Veranlagung für Krebs, Herzkrankheiten oder Fettleibigkeit hat – Zeitpunkt und Schweregrad der Erkrankung werden sich bestimmt nicht auf einer Farbskala ablesen lassen. Ein Großteil der menschlichen Eigenschaften scheint zudem von mehreren Genen gleichzeitig beeinflußt zu sein. Das, den Bundestag beratende Büro für Technikfolgen-Abschätzung weist darauf hin, daß die Wahrscheinlichkeit des Ausbruchs einer Krankheit trotz einer „genetischen Veranlagung“ häufig nur 10 bis 20 Prozent beträgt. Die pränatale Diagnose solch schwer zu quantifizierender Eigenschaften wie Intelligenz und Toleranz muß deshalb nicht prinzipiell unmöglich sein. Derzeit werden bereits Untersuchungen an verschiedenen Hunderassen durchgeführt mit dem Ziel, den Einfluß der Erbsubstanz auf die Charaktereigenschaften der Tiere zu ermitteln.

Auch ohne derartige Forschungsprojekte werden die sozialen Spannungen zunehmen, glaubt Müller-Hill. „Man kann sich vorstellen, daß es zu Protestbewegungen derjenigen kommt, die beschlossen haben, ihre genetische Identität nicht preiszugeben. Es wird auch Fundamentalisten geben, die sich niemals testen lassen, weil sie selbst die Resultate nicht wissen wollen. All diese Gruppen werden schwere soziale Nachteile in Kauf nehmen müssen.“

Die Wende werde erst kommen, prophezeit der Genetiker, wenn die obersten Gerichte entscheiden, daß die „genetische Ungerechtigkeit“ ungeheure Ausmaße annommen hat. Dann werde man es Angestellten und Versicherungsnehmern erlauben, falsche Daten zu präsentieren, ohne sie dafür gesetzlich zu belangen. Ein ganz ähnliches Urteil fällte übrigens im Frühjahr das Bundesverfassungsgericht: Schwangere Frauen dürfen beim Einstellungsgespräch über ihren Zustand lügen, befanden Deutschlands oberste Richter.

Der „Schatten genetischer Ungerechtigkeit“ wird nach der Prognose Müller-Hills vor allem auf diejenigen fallen, die von einem der zahlreichen Leiden des zentralen Nervensystems befallen sind. Erbanlagen, die für Schizophrenie, manische Depression oder niedrige Intelligenz verantwortlich sein können, vermutet er in Europa und den Vereinigten Staaten bei mindestens zehn Prozent der Bevölkerung. „Es wird nun behauptet, diese Eigenschaften seien vererbt. Tatsächlich ist aber sowohl der Einfluß der Familie als auch die Beitrag von Umweltfaktoren noch unklar.“

Eine Öffentlichkeit, die davon überzeugt ist, daß etwa eine bestimmte Geisteskrankheit ausschließlich auf defekte Gene zurückzuführen ist, wird die Erforschung und Beseitigung möglicher anderer Ursachen daher vernachlässigen, befürchtet der Molekularbiologe. „Es ist so viel einfacher, eine Pille zu verschreiben, als die sozialen Zustände zu ändern, die für die Schwere der Symptome verantwortlich sind.“

Den Schluß, daß man auf das Wissen über „gute“ und „schlechte“ Gene verzichten könne, hält Müller-Hill aber für falsch. Die neuen Kenntnisse würden seiner Meinung nach lediglich die Realität sichtbar machen und dadurch die Ungerechtigkeit in der Welt betonen. Dadurch würden dann Gesetze erforderlich, um die genetisch Benachteiligten zu schützen. „Soziale Gerechtigkeit muß genetische Ungerechtigkeit kompensieren.“

(Originalfassung eines Artikels für die VDI-Nachrichten, erschienen am 8. Oktober 1993)

Weitere Infos / Quellen:

  1. Müller-Hill B. The shadow of genetic injustice. Nature. 1993 Apr 8;362(6420):491-2. doi: 10.1038/362491a0.
  2. Hennen, Leo; Petermann, Thomas; Schmitt, J.-J.: TA-Projekt „Genomanalyse“: Chancen und Risiken genetischer Diagnostik. Endbericht (kostenlos abrufbar hier).