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USA: Pharmawerbung nimmt Patienten ins Visier

Umgerechnet 8,5 Milliarden Euro haben Pharmafirmen, Gerätehersteller und Verbände im Jahr 2016 in den USA ausgegeben, um direkt bei kranken Menschen und anderen „Verbrauchern“ für ihre Produkte zu werben. Die Ausgaben für diese sogenannte „Direct-to-Consumer (DCT)“-Werbung haben sich damit in nur 20 Jahren mehr als vervierfacht. Insgesamt wurden rund 30 Milliarden Dollar ausgegeben – das entspricht 26 Milliarden Euro.

Dies ist das Ergebnis einer Analyse der Gesundheitsforscher Lisa M. Schwartz und Steven Woloshin, die im Fachblatt JAMA des US-amerikanischen Ärzteverbandes veröffentlicht wurde. Während es in Deutschland und fast allen anderen Ländern verboten ist, rezeptpflichtige Medikamente direkt beim Verbraucher zu bewerben, ist dies in den USA erlaubt. Alleine für diesen Bereich wurden im Jahr 2016 insgesamt 4,6 Millionen Anzeigen geschaltet, davon 663.000 im Fernsehen. Der Trend, so berichten Schwartz und Woloshin, geht dabei immer mehr zu besonders teuren Behandlungen wie Immuntherapien gegen Krebs und biotechnologisch hergestellten Medikamenten.

Mit 20 Milliarden Dollar waren die Werbemaßnahmen für medizinische Fachkräfte zuletzt zwar etwa doppelt so hoch wie für die DTC-Werbung. Deren Anteil ist aber von ursprünglich 12 Prozent auf 32 Prozent gewachsen. Bei den Kampagnen geht es nicht nur darum, Ärzte und Patienten vom Nutzen bestimmter Pillen, Untersuchungen oder Labortests zu überzeugen. Teilweise zielen sie auch darauf ab, die Definition bestimmter Krankheiten zu verändern, sodass mehr Personen für eine Behandlung in Frage kommen.

Unter allen Ländern der Welt haben die USA im Verhältnis zum Bruttosozialprodukt mit 16,8 Prozent die zweithöchsten Gesundheitskosten. In Deutschland sind es 11,2 Prozent.

Gekaufte Patienten?

Habe mir gerade eine Reportage von Klaus Balzer in der ARD angesehen, zur der ich unbedingt meinen Senf geben möchte. Das Ganze hatte den Titel: Der gekaufte Patient? – Wie Pharmakonzerne Verbände benutzen und lief unter dem Etikett „Die Story“. Nun ja, Geschichten erzählen ist das Eine, Journalismus – investigativer zumal – ist eine andere Sache. Warum geht´s?

Die Firma Roche - hier der Hauptsitz in Basel - unterstützt wie viele andere Pharmaunternehmen Patientenorganisationen. (Foto Wladyslaw Sojka www.soyka.photo, Lizenz Freie Kunst 1.3)

Die Firma Roche – hier der Hauptsitz in Basel – unterstützt wie viele andere Pharmaunternehmen Patientenorganisationen. (Foto Wladyslaw Sojka, Lizenz Freie Kunst 1.3)

In Selbsthilfegruppen sollen Patienten Patienten beraten, sagt der Sprecher- „und zwar unabhängig“. Dies mache die Selbsthilfegruppen so attraktiv für die Pharmaindustrie. Vorgestellt wird zunächst die „Frauenselbsthilfe nach Krebs“, die etwa 40000 Patienten erreicht. Deren (damalige) Vorsitzende Hilde Schulze mache Lobbyarbeit für bessere Krebsmedikamente. Dafür bekomme sie von den Krankenkassen und aus anderen öffentlichen Töpfen wenig Geld. Das reiche aber nicht, um zum Beispiel Kongresse mit unabhängigen Experten zu finanzieren.

Einer Patientin wurde aus der Klinik heraus die Teilnahme an einer klinischen Studie mit dem neuen, aber auch sehr teuren Wirkstoff Letrozol (Handelsname Femara) nahegelegt und sie wurde von dort an mamazone – Frauen und Forschung gegen Brustkrebs, verwiesen. „Was nicht in der Broschüre steht: mamazone erhält auch Spenden von der Pharmaindustrie.“

Man filmt auf einem Kongress von mamazone, wo binnen drei Tagen „Diplompatientinnen“ ausgebildet werden. Die Vorsitzende Ursula Goldmann-Posch räumt ein, dass Diplompatientinnen teurer sind für das gesamt Gesundheitswesen, weil sie mehr einfordern. „Gewinner dieses Drucks ist die Pharmaindustrie.“

Die Unternehmen zahlen auf der Veranstaltung Standgebühren an mamazone. Goldmann-Posch spricht von der Kooperation mit dem Pharmakonzern Roche, „eine gute Möglichkeit, unsere Stimme in einen Konzern einzubringen.“ Dafür habe mamazone in 2014 von Roche 100000 Euro bekommen, sagt der Reporter – knapp die Hälfte aller Einnahmen. In der Bilanz seien aber nur 1600 Euro direkte Spenden von der Pharmaindustrie ausgewiesen.

Sowohl die Firma Roche als auch der Verband forschender Arzneimittelhersteller (VfA), dessen Mitgieder insgesamt 5,6 Millionen Euro pro Jahr an Patientenorganisationen spenden, wollen dazu nicht vor laufender Kamera Stellung nehmen.

Spätestens ab hier verlässt die Reportage meines Erachtens den Boden einer soliden Berichterstattung zugunsten einer Vorabverurteilung. Kritisiert wird beispielsweise, dass die Patienten auf der VfA-Webseite „vor allem auf Arzneimittelstudien verwiesen werden, die ausschließlich von der Industrie finanziert werden“. Man „vergisst“ aber zu erwähnen, dass aus öffentlichen Mitteln fast keine derartige Studien bezahlt werden, und dass es den Krankenkassen nur in Ausnahmen erlaubt ist, solche Studien zu unternehmen.

Statt nun aber die Politik zu kritisieren, die mit ihren Weichenstellungen diese vermeintliche Schieflage erst geschaffen hat, geht es munter weiter mit dem Pharma-Bashing: 70000 Patienteninitiativen gibt es in Deutschland, hat Reporter Klaus Balzer herausgefunden und fragt: „machen diese sich abhängig?“. Das scheint mir ziemlich unwahrscheinlich, zumal eine einfache Rechnung ergibt, dass jede dieser Initiativen im Durchschnitt gerade einmal 80 Euro pro Jahr erhält (5,6 Millionen durch 70000).

Am Institut für Qualitätssicherung im Gesundheitswesen (IQWiG) in Köln spricht man mit Klaus Koch, den ich als früheren Kollegen schätze und der sich seit Jahren mit der Problematik beschäftigt. Ja, dies sei gängige Praxis und Teil des Marketings, bestätigt er. Zitiert wird eine Untersuchung des IQWiG, wonach neue Medikamente zu 60 % „keine neue Wirksamkeit gegenüber Alten hätten“. Wir lernen, dass die Pharmakonzerne sich schon sehr früh Gedanken machen, wie sie ihre Produkte vermarkten und zu welchen Gruppen sie dafür Kontakt aufnehmen müssen.

Dr. Jutta Scheiderbauer begründet für die Selbsthilfegruppe TIMS (Trierer Informationsstelle Multiple Sklerose), warum man keine Kooperationen mit der Pharmaindustrie betreibt: „man sollte sich nicht in Verdacht bringen.“ Eine direkte Bestechung sieht sie nicht, befürchtet aber einen Gewöhnungseffekt.

Befragt wird auch die Bundesgeschäftsführerin der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft (DMSG) die ihre Zusammenarbeit verteidigt und auf die hauseigenen Leitlinien verweist: Unterstützung wird angenommen, ein Mitspracherecht gibt es aber nicht. Der Anteil der Unterstützung am Gesamtbudget der Gesellschaft liegt demnach bei 1 – 1,8 Prozent für die Jahre 2012- 2014.

Auch ein Patient mit Myasthenie dient zur Illustration des Verdachts: Hans Rohn von der Deutschen Myasthenie Gesellschaft (DMG). Aus eigener Erfahrung spricht er über die Nebenwirkungen der vielen Medikamente, die er einnehmen muss. Jetzt lautet der Vorwurf, die Pharmaindustre entwickle zu wenige Medikamente gegen Krankheiten wie die Myasthenie, weil nur wenige Menschen daran leiden und damit kein Geld zu verdienen wäre. Auf den Veranstaltungen der DMG liegen auch Informationsmaterialen über neue bzw. (noch) nicht zugelassen Medikamente aus und solche, die über klinische Studien informieren.

Bin ich der Einzige, dem diese Aneinandereihung widersprüchlich erscheint? Jedenfalls hat die DMG ein Konzept erstellt, wonach ihre Patienten ohne Einfluss der Industrie in Zusammenarbeit mit ausgewählten Kliniken an Studien mitwirken sollen – und ich bin gespannt, zu welchem Ergebnis diese Initiative führen wird.

Am Schluss steht das Fazit: „Geld von der Industrie zu nehmen macht es schwer, unabhängig zu bleiben.“ Die Frauenselbsthilfe nach Krebs unter Hilde Schulte hat deshalb die Zusammenarbeit mit der Pharmaindustrie aufgekündigt. Deren Dachverband, die Deutsche Krebshilfe, lehnt derartige Kooperationen ohnehin an.

Europaweit könnte der Trend jedoch in eine andere Richtung gehen. Die European Patients´ Academy on Therapeutic Innovation (EUPATI) mit Sitz in Bern wird nur etwa zur Hälfte aus Steuern finanziert, die andere Hälfte – nämlich 5 Millionen Euro kommen wiederum von der Industrie. Und das ist gut so, befindet David Hans-U. Haerry. Der ist nicht nur Mitglied eines Verbandes von AIDS-Betroffenen, sondern wird auch noch von EUPATI bezahlt, stellt der Sprecher fest.

Haerry erklärt, dass die Pharmaindustrie nunmal diejenigen seien, die einen Wirkstoff am schnellsten zum marktreifen Medikament entwickeln könnten. Auch dass diese Zusammenarbeit es den Patienten erleichtert, in klinische Studien aufgenommen zu werden, sei absolut richtig.

Ja aber… kommt es erneut aus dem Off: Auch neue, zugelassene Medikamente seien in zwei Drittel aller Fälle nicht besser, als schon vorhandene. Das ist bedauerlich, denke ich mir. Solange man aber nicht im Voraus weiß, welches Drittel der Arzneien nicht nur neu und teuer ist, sondern auch noch besser als der Standard, ist der Einwurf wenig hilfreich.

Fast schon im Abspann höre ich: „Forschung ist ja nicht grundsätzlich schlecht für den Patienten. Es geht auch nicht um eine pauschale Verurteilung.“ Eine Selbstverpflichtung, die Zahlungen offenzulegen sei aber nicht genug, moralisiert der Sprecher noch aus dem Off, und dann sind sie vorbei die 45 Minuten Reportage, von der ich mir neue Erkenntnisse erhofft hatte. Vergeblich.

Denn immer wieder schoß mir bei dieser Reportage die Frage durch den Kopf: „Ja und?“. Warum sollten Pharmafirmen denn nicht mit den Patienten reden? Wer hat denn die aktuellsten Informationen über die neusten Medikamente? Und welchen konkreten Beweis gibt es dafür, dass irgendjemand bestochen wurde oder durch den Informationsaustausch zu Schaden gekommen wäre?

Nein, liebe Kollegen, kritisieren alleine genügt mir nicht. Es fehlen mir Ideen, wie man das System besser machen kann und ich würde mir wünschen, dass ihr mit meinen Zwangsgebühren einen ganz alltäglichen Interessenkonflikt nicht ohne harte Beweise zu einem Skandal hochstilisiert. Das Ganze lief ja unter dem Etikett „Die Story im Ersten“ und das war leider ein ganz schön dünne Story. Eurer Forderung im letzten Satz des Films stimme ich dennoch zu: „Das Mindeste wäre es, dass jeder Patient in einer Initiative erfährt, wer sie mitfinanziert.“

Balance-Akt der Hormone

Die Liste der Beschwerden ist lang: Hit­zewallungen und Herzklopfen, Schweiß­ausbrüche und Schlafstörungen, Kopf­schmerzen und Reizbarkeit zählen noch zu den harmloseren Problemen. Doch damit nicht genug. Wie eine schlecht gelaunte Di­va scheint die Natur ihre schützende Hand zurückzuziehen, kaum daß die weibliche Hälfte der Menschheit ihren Beitrag zur Arterhaltung geleistet hat: Knochenschwund und ein erhöhtes Risiko für Herz-Kreislauferkrankungen begleiten die radikale Umstellung des Hormon­haushaltes, die sich hinter dem Wörtchen „Menopause“ ver­birgt.

„Das ist ein riesengroßes Gesundheits­problem“, erklärt Dr. Ursula-Friederike Habenicht. Ein Problem, mit dem sich die Reproduktionsbiologin nicht ein­fach abfinden will. „Ich empfände es als verantwortungslos, untätig zu bleiben, wenn ich Leiden verhindern kann“,  lautet ihre Kampfansage. Für diejenigen, die beispielsweise wegen einer Osteoporose einen Oberschenkel­halsbruch oder eine Wirbelfraktur mit all ihren Folgen erdulden müssen sei der Hinweis auf den „natürlichen Lauf der Dinge“ wenig trostreich. In der Forschungsabteilung Fertilitätskontrolle und Hormontherapie der Schering AG leistet Dr. Habenicht deshalb in dop­peltem Sinne Knochenarbeit.

An den nur scheinbar toten Knochen nämlich hinterläßt der mit der Meno­pause verbundene Rückgang an Sexualhormonen deutliche Spuren. Nach dieser letzten, vom Eierstock gesteuerten, Regelblutung wird die Produktion von Östrogen eingestellt. Dadurch beschleunigt sich der Abbau der Knochen­substanz, der schon nach dem 30 Lebensjahr einsetzt: „Jede vierte Frau jen­seits der Wechseljahre leidet unter Osteopo­rose. Mir kommt es vor allem darauf an, diesen Frauen eine Therapie anzubieten“, betont der Dr. Matthias Bräutigam. Die Suche nach neuen Ansätzen im Kampf gegen den Knochen­schwund hat für den Abteilungsleiter deshalb höchste Priorität.

Zwar läßt sich der Abbauprozeß durch die tägliche Einnahme östrogenhaltiger Arzneimittel verlangsamen, doch wächst bei alleiniger Gabe des Hormons das Risiko für eine Krebserkrankung der Gebärmutterschleim­haut. Ein zweites Hormon aus der Familie der Gestagene sorgt daher in modernen Präparaten für den Schutz der gefährdeten Zellen und macht das zweischneidige Schwert Östrogen zu einer potenten Waffe gegen den Knochenabbau. Doch auch die bisher gebräuchlichen Kombinationen aus Östrogen und Gestagenen bieten keine per­fekte Lösung: Über Jahre hinweg kann es zu monatlichen „Entzugsblutungen“ kom­men, die von vielen Frauen nicht akzeptiert werden. Wenn sich auch diese Nebenwir­kung noch durch die Aus­wahl und ge­schickte Kombination verschie­dener Bo­tenstoffe vermeiden ließe, wäre das größte Hindernis für eine breite An­wendung der Hormoner­satztherapie über­wunden.

Doch bis dahin ist es noch ein langer Weg. „Selbst bei den ´klassischen´ Hormo­nen, den Östrogenen, weiß man bis heute nicht genau, wo sie am Knochen angreifen, was sie da tun und wie sie das Zusammen­spiel der Zellen beeinflußen“, stellt Dr. Ha­benicht nüchtern fest. Neu ins Spiel kom­men jetzt zusätzlich die Gestagene. Hier gibt es Hinweise, daß sie den Knochen womöglich auch alleine schützen können. Die verwirrende Vielfalt dieser Substanz­klasse erschwert die Suche der zehnköpfi­gen Arbeitsgruppe in der Berliner Zentrale der Schering AG allerdings beträchtlich. „Knochenversuche bedeuten Knochenarbeit und man muß viel Geduld mitbringen.“

Dr. Habenicht weiß, wovon sie redet, denn kaum ein Experiment in ihrem Labor nimmt weniger als drei Monate in An­spruch. An weiblichen Ratten muß zunächst die Zufuhr an schützenden Geschlechts­hormonen unterbro­chen und so ein Verlust der Knochenmasse eingeleitet werden. Dies geschieht durch die operative Entfernung der Gebärmutter. Anschließend werden den Tieren verschiedene Testsubstanzen gespritzt – je nach Versuch meist eines der vielen Gesta­gene mit oder ohne Östrogen, wobei zu­sätzlich noch die Konzentrationen der Hormone variiert werden.

Erste Anhaltspunkte, daß mit dem Kno­chen überhaupt etwas passiert, finden sich auch mit den modernsten Untersuchungs­methoden frühestens nach 14 Tagen. Nach zwei weiteren Wochen sind die Verände­rungen zwar ausreichend für eine erste vor­sichtige Bewertung, sichtbar werden sie aber erst nach einer aufwendigen „Zubereitung“ des Knochens. Erneut ver­streicht ein Monat, bis unter dem Einfluß von Farbstoffen und Fixiermitteln die Hauptdarsteller ihre Masken fallen lassen: Osteoblasten, verantwortlich für den Auf­bau des Knochens, heben sich jetzt deutlich von ihren Gegenspielern, den Osteoklasten ab. Wie auf dem Luftbild einer Großstadt kann das Auge des Experten Neubaugebiete von Abrißregionen unterscheiden, wenn der präparierte Knochen erst einmal in hauch­dünnen Scheibchen unter dem Mikroskop liegt.

Doch damit nicht genug. Um aus den bunten Bildern harte Daten zu extra­hieren, muß das Gesehene auch noch genau ver­messen werden. Erst wenn  – ein Vierteljahr nach Beginn des Experimentes – die nackten Zahlenkolonnen vorliegen, wird klar, ob die geteste Hormonkombination wirklich einen Vor­teil gegenüber den bekannten Mi­schung­en verspricht.

Ergänzt werden die histologischen Arbei­ten seit kurzem auch durch moleku­larbiolo­gische Methoden und Beobachtungen an Zellkulturen. So weiß man, daß die Östro­gene ihrerseits bestimmte Botenstoffe wie Interleukin-1 kontrollieren können, mögli­cherweise auch den Tumor Nekrose Faktor TNF-. Das aus Biologen, Medizinern und Pharmakologen zusammengesetzte Sche­ring-Team ist dieser Spur nachgegangen und hat versucht, die Effekte der Östrogene durch Antikörper und Rezeptorenblocker nachzuahmen. „Es ist uns gelungen, weiter hinten in der Befehlskaskade einzugreifen“, vermeldet Bräutigam. Der Pharmakologe ist allerdings skeptisch, ob sich aus diesem Fortschritt eine Therapie entwickeln läßt, denn eine langjährige Behandlung mit den getesteten Molekülen würde sich vermutlich auch auf das menschliche Immunsystem auswirken.

Immer wieder tun sich vor den Wissen­schaftlern Abgründe der Ahnungslo­sigkeit auf. „Ein Knochen ist ein enorm kompli­zier­tes Organ. Wir sind dabei, kleine Stein­chen des Mosaiks zu sammeln, aber wir ha­ben das komplette Bild noch nicht zu­sam­men“, lautet die bescheidene Bilanz von Dr. Habenicht, die neben ihrer Laborarbeit als Privatdozentin an der Freien Universität Berlin tätig ist.

Glücklicherweise helfen die meisten Arz­neimittel auch ohne detailierte Kenntnisse über deren Wirkungsmechanismus. Der Gynäkologe Dr. Vladimir Hanes kann dies aus eigener Erfahrung bestätigen. „Es ist überhaupt keine Frage: Östrogen beugt der Osteoporose vor, egal wie es verabreicht wird, sobald eine Konzentration von 30-40 Pikogramm pro Milliliter Serum erreicht wird.“ Als wissenschaftlicher Mitarbeiter der Klinischen Entwick­lung Fertilitätskontrolle und Hormonthera­pie will Hanes diesen handfesten Vorteil ei­ner möglichst großen Anzahl von Frauen zugänglich machen.

Neben all den Schmerzen, die durch vor­beugende Maßnahmen vermieden werden könnten, nennt der gebürtige Slowake auch wirtschaftliche Gründe, die für einen Ersatz der fehlenden Hormone sprechen. So zäh­len Oberschen­kelhals- und Unterarmbrüche, Hüft- und Wirbelfrakturen besonders bei älteren Menschen zu den häufigsten Folgen der Osteoporose. Nach oft wochenlangem Krankenhausaufenthalt wird ein großer Teil dieser Patienten pflegebedürftig – die Ko­sten dafür schlagen weltweit mit jährlich sieben Milliarden Dollar zu Buche. Die Tendenz ist weiter steigend, denn der Anteil an über Sechzigjährigen unter der Gesamt­bevölke­rung wird von gegenwärtig zehn Prozent bis zum Jahr 2020 auf ein Viertel anwachsen.

„Das wichtigste aber ist die Erkenntnis, daß man mit Östradiol und anderen Östro­genen nach der Menopause nicht nur der Osteoporose vorbeugen, sondern auch das Risiko von Herz-Kreislauferkankungen senken kann“, lenkt Hanes das Augenmerk auf eine Reihe großer epidemiologischer Studien. Vor die­ser häufigsten Todesursache überhaupt sind Frauen bis zu den Wechsel­jahren verhält­nismäßig gut geschützt – Infarkte und Schlaganfälle werden weitaus seltener re­gistriert als unter der männlichen Bevölke­rung. Nach der Menopause aber holen die Frauen die Männer ein oder überholen sie sogar.

Und wieder spielen fehlende Östrogene die entscheidende Rolle: Die weiblichen Geschlechtshormone können nämlich die „bösen“ Bluttfette Cholesterol und LDL re­duzieren, den Gehalt an „gutem“ HDL da­gegen erhöhen. Darüber hinaus deuten neueren Untersuchngen auf einen direkten schützenden Effekt der Östrogene auf die Blutgefäße hin. Das Resultat: Frauen, die über mehrere Jahre Östrogene einnehmen, haben um 50 Prozent weniger Infarkte und Schlaganfälle. Auch die Sterb­lichkeit ist gegenüber der Normalbevölke­rung fast um die Hälfte reduziert. „Das ist wirklich toll“ begeistert sich Hanes.

Dennoch gibt es auch Probleme. Die größte Sorge lau­tet, daß die langjäh­rige Einnahme von Östrogen das Brustkrebs-Risiko erhöhen könnte. Aller­dings widersprechen sich die vorliegenden Studien in ihren Aussagen. Gera­dezu paradox scheint das Ergebnis der neuesten und sorgfältigsten Untersu­chungen: Demnach wird Brustkrebs zwar etwas häufiger diagnostiziert bei Frauen die Östrogen erhalten; diese Patientinnen haben aber eine bessere Prognose als ihre Lei­densgenossinen, die kein Östrogen ein­nahmen. Dies mag damit zusammenhängen, daß sich der Brustkrebs bei den östrogenbe­handelten Frauen fast immer als gutartig erweist. Möglicherweise läßt sich das überraschende Resultat aber auch damit erklären, daß die ärztliche Überwa­chung während einer Hormonersatztherapie engmaschiger ist als bei unbe­handelten Frauen – der Brustkrebs würde also gar nicht häufiger auftreten, sondern nur seltener übersehen.

„Unter dem Strich ist der Nutzen einer Hormonersatztherapie so groß, daß man dies fast jeder Frau empfehlen kann“, versi­chert Hanes. Diese Erkennt­nis hat sich je­doch längst noch nicht überall durchgesetzt: Selbst in den Vereinigten Staaten, wo offener über die Wechseljahre und ihre Folgen gespro­chen wird, als in den meisten anderen Län­dern, nehmen lediglich 15 Prozent der me­nopausalen Frauen den Schutz der Hormo­ne in Anspruch. Im Vor­dergrund steht da­bei die kurzfristige Be­handlung klimakteri­scher Symptome wie Hitzewallungen und Reizbarkeit mit Östrogenen.

Noch weitaus seltener verschreiben euro­päische Ärzte ihren Patientinnen eine Hor­monersatztherapie. In südlichen Ländern oder auch in Japan werden Klimakteriums­beschwerden kaum als behandlungsbedürf­tig angesehen. Wer unter diesen Umständen einer langjährigen Prävention durch die täg­liche Einnahme eines Hormonpräparates das Wort reden will, muß schon eine be­sondere Überzeugungskraft mitbringen. Oder ein Medikament ohne Nebenwir­kungen.

Langsam tastet man sich bei Schering an dieses Ziel heran. Von seinem Büro im 9. Stock der Berliner Zentrale bewahrt Hanes den dafür nötigen Überblick. Der ständige Strom der Daten aus den unter ihm liegen­den Labo­ratorien soll schließlich möglichst vielen Frauen zugute kommen. Klinische Prüfungen in Zusammenarbeit mit deutschen und britischen Universitäten werden von hier aus geplant und koordiniert.

Die Fortschritte sind beachtlich. Präparate wie das auf dem deutschen Markt erhältli­che „Climen“ bie­ten schon heute Schutz vor Knochenabbau, Herzinfarkt und Schlaganfall und verhin­dern dabei gleichzeitig Wucherungen der Gebärmutterschleimhaut. Erreicht wird dies durch die feine Balance zwischen einem Östrogen (Estradiolvalerat) und einem Ges­tagen (Cyproteronacetat). Bei die­ser „sequentiellen“ Darreichungsform ent­halten die Pillen in den ersten elf  Tagen des Monats ausschließlich Östrogen; für zehn weitere Tage kommt dann noch das Gestagen hinzu; schließlich folgt eine einwöchige Pause.

Als störend werden jedoch besonders von älteren Frauen die monatlichen Entzugsblu­tungen empfunden, mit denen unter dieser Behandlung in vier von fünf Fällen gerechnet werden muß. Dies mag gegenüber dem beträchtlichen Nutzen der Hormonsubstitution als geringfügiges Manko erscheinen, zeigt aber gleichzeitig den Weg für weitere Verbesserungen. Neuere Untersuchungen weisen darauf hin, daß die als lästig empfundenen Blutungen in etwa 75 Prozent aller Fälle gänzlich vermieden werden könnten, wenn die Einnahme der Hormone in einen anderen „Rhythmus“ erfolgt. Im Gespräch ist deshalb die „kontinuierlich-kombinierte“ Einnahme, bei der Östrogen und eine minimale Menge Gestagen täglich in einer Pille geschluckt werden.

Doch selbst damit will Hanes sich nicht zufrieden geben: „Erst wenn wir ein Präpa­rat haben, das die Blutungen bei gleicher Wirksamkeit und Sicherheit 100-prozentig verhindert, ist das Optimum erreicht.“ Zu einem neuen Hoffnungsträger scheinen sich die Anti-Gestagene zu entwicklen. Die von findigen Chemikern synthetisierten Sub­stanzen konkurrieren mit ihren natür­lichen Verwandten – den Gestagenen – nicht nur um die gleichen Bindungs­stellen auf der Zelloberfläche. Sie scheinen außerdem auch selbst in die Rolle eines Rezeptors schlüpfen zu können. Die Erfindung der Anti-Gesta­gene habe „eine wahre Revolution auf dem Ge­biet der Endokrinologie“ ausgelöst, be­geistert sich Hanes. Ständig werden neue Wirkungen dieser Laborprodukte auf das komplizierte Geflecht hormoneller Befehls­ketten entdeckt. Erprobt werden die Anti-Gestagene derzeit gegen den Brustkrebs und gegen die als Myome bekannten, gutar­tigen Geschwülste der Gebärmutter, die be­vor­zugt um die Menopause eintreten. Weil Substanzen wie das bei Schering entwic­kelte Onapriston auch den Gebärmutterhals erweitern können, besteht außer­dem eine gute Chance, die Komplikationsrate bei schwierigen Gebur­ten zu senken und gleichzeitig die Schmer­zen werdender Mütter ohne Angst vor Nebenwirkungen zu lindern. Prinzipiell können Anti-Gestagene aber auch dazu genutzt werden, einen früh­zeitigen Schwangerschaftsabbruch herbei­zu­führen. Hanes legt deshalb großen Wert auf die Feststellung, daß Schering diese Forschungsrichtung nicht unterstützt.

Statt dessen geht man lieber der Frage nach, wie sich jener Ba­lanceakt der Hor­mone noch perfekter gestalten läßt, von dem die Lebensqualität postme­nopausaler Frauen in entscheidender Weise beeinflußt wird. In vier bis fünf Jahren, so rechnet Hanes, wird sich zeigen, ob das Zusammen­spiel der vielversprechen­den Newcomer mit den altbewährten Östrogenen endlich den ersehnten Durch­bruch bringt. Für Frauen jenseits der Wech­seljahre bestünde dann die Möglichkeit, den Launen der Natur ein Schnippchen zu schlagen. Unter dem Schutz einer Hormonersatztherapie ohne Nebenwirkungen hätten sie einen Grund mehr, auch das Lebensdrittel nach der Me­nopause in vollen Zügen zu genießen.

(Entwurf für einen Beitrag, der in redigierter Form im Schering Forschungsmagazin 1994 erschienen ist.)

Neues vom „Aids-Skandal“

Im Skandal um den Vertrieb von nicht ausreichend auf HIV getestetem Blutplasma sind in den vergangenen Tagen neue Details bekannt geworden. Im Falle der Koblenzer Firma UB Plasma wurden jeweils zwei bis vier Proben von verschiedenen Einzelspendern zusammen getestet, sagte der leitende Oberstaatsanwalt Norbert Weise. Durch dieses Vorgehen sei die Sensitivität des Antikörpertests vermindert worden. „Wir vermuten, daß bei dieser Methode das diagnostische Fenster um etwa sechs Wochen verlängert wird.“

Eine weitere gravierende Verletzung der Vorschriften war das sogenannte „visuelle Testen“, bei dem eine mögliche Verfärbung der Teströhrchen zunächst nur mit dem bloßen Auge abgeschätzt wurde. „Wenn eine Verfärbung sichtbar war, hat man den kompletten Test gemacht; wenn nicht ging man davon aus, daß die Proben HIV-negativ seien“, erklärte Weise. Vorgeschrieben ist dagegen eine exakte maschinelle Bestimmung der optischen Dichte.

Bei den drei bekannt gewordenen Infektionen, die mit Spender Nummer 2505 in Verbindung gebracht wurden, hätten zwei womöglich vermieden werden können, wenn entsprechend den Vorschriften getestet worden wäre, mutmaßte Weise. Das Plasma eines weiteren HIV-positiven Spenders ist vermutlich nie in den Verkehr gelangt. Eine Niederlassung der Koblenzer Firma im rumänischen Bukarest hatte die zugehörige Blutprobe zum Testen nach Deutschland eingeschickt, wobei die Infektion erkannt wurde. Hinweise darauf, daß Plasma dieses Spenders vertrieben wurde, gibt es laut Schmidt bisher nicht.

Mittlerweile wurden von den 24000 sichergestellten Rückstellproben, die eine Überprüfung der ursprünglichen Testergebnisse gestatten, an der Universitätsklinik Mainz gut 10000 untersucht und mit den Eintragungen in den sichergestellten Laborbüchern verglichen. „Bis jetzt stimmen alle Ergebnisse mit denjenigen der Firma überein“, sagte Dr. Franz-Josef Schmidt, leitender Regierungsdirektor im Bezirk Koblenz gegenüber dem Deutschen Ärzteblatt.

Auch dem Testlabor der Firma Haemoplas im niedersächsischen Osterrode wird vorgeworfen, die einschlägigen Vorschriften verletzt zu haben. Laut dem Sprecher im Gesundheitsministerium, Thomas Steg, sind in diesem Fall jedoch keine Rückstellproben vorhanden, die einen Vergleich der Testergebnisse ermöglichen würden. Die „Aufwandsentschädigungen“ in Höhe von etwa 50 Mark pro Spende, die sowohl von UB Plasma als auch von Haemoplas gezahlt wurden, bringen nach Meinung von DRK-Sprecher Fritz Duppe ein erhöhtes Infektionsrisiko mit sich und sollte deshalb abgeschafft werden. Duppe zitierte eine Studie, wonach in Deutschland etwa jeder Hundertausendste unbezahlte Spender HIV-infiziert ist. Bei den bezahlten Spendern seien Infektionen dagegen acht Mal häufiger anzutreffen.

(erschienen im Deutschen Ärzteblatt am 3. Dezember 1993)

Medikamente aus Schweden für die ganze Welt

Schwedens Arzneimittelhersteller haben Weltruf. Die Arzneimittelexporte lagen 1988 bei 1,8 Milliarden Mark, die Zuwachsrate gegenüber 1987 erreichte 23 Prozent. Zusammen mit der Biotechnologie gehören pharmazeutische Präparate damit zu den expansivsten Teilgebieten innerhalb der Chemiebranche. Die Gewinne werden bemerkenswerterweise zum größten Teil außerhalb Schwedens erwirtschaftet. Vor allem die Bundesrepublik bildet hier einen wichtigen Markt und ist gleichzeitig Sitz verschiedener Tochterunternehmen der Schweden.

Flagge SchwedenEine Belegschaft von fast 7000 Angestellten macht die Astra AB mit ihren Tochtergesellschaften Draco und Hässle zum größten Pharmakonzern Skandinaviens. Die Gesamteinnahmen im abgelaufenen Geschäftsjahr betrugen über zwei Milliarden Mark. Dabei setzt die Astra offensichtlich stark auf Forschung und Entwicklung neuer Produkte. Jeder vierte Mitarbeiter ist auf diesem Sektor tätig, die Kosten hierfür beliefen sich 1988 auf rund 400 Millionen Mark.

Medikamente zur Behandlung von Herz- und Kreislaufkrankheiten (Seloken®) und gegen Atemwegserkrankungen sowie Lokalbetäubungsmittel (Xylocain®, Scandicain®) machen den größten Teil der Einkünfte des Konzerns aus, die zu 82 Prozent von außerhalb Schwedens stammen. Hauptabnehmer ist die Bundesrepublik Deutschland, gefolgt von Schweden, Japan und den USA.

Die in Uppsala beheimatete Pharmacia steht, was Umsatz und Zahl der Mitarbeiter angeht, nach der Astra an zweiter Stelle. 5700 Angestellte erwirtschafteten im vergangenen Jahr einen Umsatz von 1,2 Milliarden Mark; der Forschungsetat betrug über 300 Millionen. Hauptanteilseigner ist der Volvo-Konzern, der 29 Prozent der Aktien hält und zu 46 Prozent stimmberechtigt ist.

Nach dem Erwerb der Firmen Leo, Ferrosan und LKD im Jahr 1986 hat das Unternehmen jetzt eine Produktpalette, die von Therapeutika über ophthalmologische und diagnostische Erzeugnisse bis zur Biotechnologie reicht. In diesen Sektor fallen auch die Aufreinigung von Eiweißstoffen und Zellkultursysteme.

Eine Tochtergesellschaft der Staatsholding Procordia ist die Kabi Vitrum AB. Die Kabi gehört zu den führenden Unternehmen bei der Infusionstherapie und der klinischen Ernährung. Medikamente. die injiziert werden, bilden ebenfalls einen wichtigen Sektor der Firma. Mit rund 3600 Angestellten wurde 1988 ein Verkaufserlös von umgerechnet über einer Milliarde Mark erzielt. Rund 150 Millionen flossen in die Erforschung und Entwicklung neuer Produkte.

Kabi vertreibt mehrere Substanzen zur Auflösung von Blutgerinnseln und zur Hemmung der Blutgerinnung. Hierher gehört der aus Bakterien gewonnene Eiweißstoff Streptokinase ebenso wie der komplexe Zucker Heparin. Bahnbrechend war die weltweit erstmalige Produktion eines menschlichen Wachstumshormons mit Hilfe der Gentechnik. Zuvor musste das Hormon aus den Hirnanhangdrüsen Verstorbener Spender gewonnen werden, wobei es in seltenen Fällen zu tödlich verlaufenen Viruserkrankungen kam. Durch die Fusion mit der 700 Mann starken Pharmazeutikfirma Pfrimmer in Erlangen avancierte der schwedische Pharmariese auch in der Bundesrepublik in den Kreis der wichtigsten Unternehmen auf dem Krankenhaussektor.

(erschienen in der WELT am 3. Oktober 1989)