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Keuchhusten: Angst verhindert Impfung

Jedes Jahr sterben in Deutschland bis zu 100 Kinder und Säuglinge an Keuchhusten. Sie sterben umsonst, denn schon heute gibt es einen Impfstoff, der vor dem Erreger der Krankheit, dem Bakterium Bordetella pertussis schützt. „Die Todesrate wird auf Null, maximal aber zwei oder drei Kinder sinken, wenn eine flächendeckende Impfung in Deutschland Realität wird“, erklärte der an der Mainzer Universitätsklinik tätige Kinderarzt Heinz-J. Schmitt.

Die kühne Prognose wird gestützt durch einen Blick ins benachbarte Ausland: In Dänemark, Frankreich, den Niederlanden und  Großbritanien wo zwischen 90 und 98 Prozent der Bevölkerung geimpft wurden, sind die jährlichen Todesfälle an einer Hand abzuzählen. Auch in der ehemaligen DDR, wo bis zum Mauerfall nur wenige Risikogruppen von der Impfpflicht ausgenommen waren, hatte man die Gefahr durch die bodenlebenden Bakterien gebannt.

Selbst in vielen afrikanischen und südamerikanischen Entwicklungländern sind die Menschen besser geschützt als in der drittmächtigsten Wirtschaftsnation der Welt. Hier steht jeder dritte Einwohner der äußerst ansteckenden Krankheit schutzlos gegenüber.

Eine Erklärung für diese erschreckenden Zustände lieferten Mediziner, Mikrobiologen und Impfstoffhersteller am vergangenen Wochenende auf einem Presse-Workshop der Firma SmithKline Beecham in Salzburg: Alarmiert von Meldungen über schwere Nebenwirkungen der Keuchhusten-Impfung hatte die Ständige Impfkommission (Stiko) des Berliner Bundesgesundheitsamtes 1975 ihre Empfehlung zurückgezogen, alle Kinder und Jugendlichen nicht nur gegen Diphterie und Tetanus, sondern gleichzeitig auch gegen Keuchhusten impfen zu lassen.

Drei wissenschaftliche Publikation hatten unabhängig voneinander den Schluß nahegelegt, daß maximal eines unter 20000 Kindern nach der Dreifach-impfung bleibende Hirnschäden entwickeln könnte „Für eine vorbeugende Maßnahme erschien mir das zuviel“ erklärte jetzt das Stiko-Mitglied Heinz Spiess von der Kinderpoliklinik München. Ohne die „öffentliche Empfehlung“ aber verlieren Geschädigte im Falle eines nachgewiesenen Impfschadens ihren Versorgungsanspruch gegenüber dem Staat. Mit entsprechender Zurückhaltung reagierten denn auch die Kinderärzte.

Erst 1990 stand für die Stiko unumstößlich fest, daß die beobachteten Hirnschäden mit der Impfung nichts zu tun hatten, sondern auf verschiedene Stoffwechselerkrankungen zurückgingen. Seit 1991 wird die Keuchhusten-Impfung wieder für alle Kinder und Säuglinge empfohlen. Die entstandene Impflücke und die Furcht vor etwaigen Nebenwirkungen aber sind geblieben. Die in Salzburg versammelten Experten waren sich darin einig, daß daran nicht nur der falsche Alarm in den siebziger Jahren schuld ist, sondern auch der bisher gebräuchliche Impfstoff selbst.

Dieser besteht nämlich aus kompletten, abgetöteten Bakterien und mehreren Hilfsstoffen, die es dem menschlichen Immunsystem erleichtern sollen, beim „Wiedersehen“ mit lebenden Erregern deren entscheidende Merkmale zu erkennen und sie unschädlich zu machen. Alle Bestandteile zusammen verursachen bei neun von zehn Kindern Schmerzen an der Infektionsstelle und Fieber; Schwellungen und Rötungen werden fast bei fast jedem zweiten Fall beobachtet.

Neben diesen, in geringer Häufigkeit bei allen Impfungen auftretenden Unannehmlichkeiten, kann es in seltenen Fällen auch zu Krämpfen kommen und – für Mütter und Ärzte gleichermaßen irritierend – zu stundenlangem Schreien der Säuglinge. Trotzdem stehen diese und andere extrem seltene Nebenwirkungen in keinem Verhältnis zu den Folgen einer Infektion. Ein bis drei Wochen nachdem sich die Mikroben in den Schleimhäuten der Atemwege festgesetzt haben, führen die abgesonderten Gifte zu staccatoartigen Hustenanfällen mit schwerer Atemnot. Manchmal zwei Monate lang müssen die kleinen Patienten täglich bis zu 30 solcher Anfälle erdulden. Lungenentzündungen, innere Blutungen und eine Vielzahl weiterer Komplikationen führen dann etwa in jedem tausendsten Fall zum Tode.

Da selbst diese Gefahren allzuoft auf die leichte Schulter genommen werden, hofft der Keuchhusten-Experte Schmitt jetzt auf einen verbesserten Impfstoff, der nicht mehr aus ganzen Bakterien sondern nur noch aus drei hochgereinigten Eiweißen besteht. Dieser „azelluläre“ Pertussis-Impfstoff hat, wie Versuche in Japan, Schweden und den USA gezeigt haben, nur einen Bruchteil der Nebenwirkungen im Vergleich zur herkömmlichen Vakzine und schützt mindestens genauso gut.

Die Daten aus einer deutschen Studie, bei der innerhalb der letzten zwei Jahre rund 15000 Säuglinge geimpft wurden, werden Mitte des nächsten Jahres vorliegen und dann, so hofft Schmitt, eine schnelle Zulassung ermöglichen. Blut oder Blutprodukte, so stellte Hugues Bogaerts im Namen der Herstellerfirma klar, seien weder im alten, noch im neuen Impfstoff enthalten.

(erschienen in der Süddeutschen Zeitung am 16. Dezember 1993)

Quelle: Presse-Workshop Salzburg, 10. – 12.12.1993, besucht auf Einladung der Firma SmithKline Beecham)

Debatte über Tamoxifen-Studie

Über die Notwendigkeit einer deutschen Präventionsstudie zum Einsatz des Antiöstrogens Tamoxifen bei Frauen mit erhöhtem Brustkrebsrisiko konnte auf einem Symposium der Dr. Mildred Scheel Stiftung keine Einigkeit erzielt werden. Entsprechende Studien laufen bereits in den Vereinigten Staaten, Australien, Italien und – nach einer fünfjährigen Diskussion – in Großbritannien.

Für das 9. Treffen der Stiftung waren über 90 Krebsforscher aus elf Ländern zusammengekommen, um ihre Erfahrungen zur Entstehung und Behandlung hormonabhängiger Tumoren auszutauschen. „Ein ganz wesentlicher Schwerpunkt“, so Prof. Dr. Walter Jonat, „war die Nutzen/Risiko-Analyse für solch eine Studie.“

In Deutschland muß statistisch gesehen jede zehnte Frau damit rechnen, an Brustkrebs zu erkranken, das entspricht jährlich über 30000 Fällen, erläuterte der Leitende Oberarzt der Universitäts-Frauenklinik Hamburg. Für etwa 15 bis 25 Prozent der weiblichen Bevölkerung ist dieses Risiko mehr oder weniger stark erhöht, etwa dann, wenn die Menarche noch vor dem zwölften Lebensjahr eintrat, bei Kinderlosigkeit, einem Lebensalter von über sechzig Jahren oder bei einer genetischen Prädisposition.

Eine vorbeugende Behandlung dieser Frauen mit Antiöstrogenen erscheine sinnvoll, weil etwa die Hälfte aller Brustkrebserkrankungen hormonell regulierbar seien, sagte der Leitende Oberarzt der Universitäts-Frauenklinik Heidelberg, Prof. Dr. Manfred Kaufmann. Als positive Nebenwirkung würden kardiovaskuläre Erkrankungen signifikant – nämlich um 20 Prozent – reduziert; außerdem lasse sich das Osteoporose-Risiko eventuell verringern. „Andererseits könnte es sein, daß sich die Rate an induziertem Gebärmutterkrebs unter der Behandlung erhöht.“

Die Aussage, daß der klinische Nutzen ganz sicher überwiege, sei derzeit nicht möglich, bilanzierte Jonat. Kaufmann folgerte dagegen nach „gewinnbringender, kontroverser Diskussion“: „Ich hoffe und würde mir wünschen, daß solch eine Untersuchung auch bald in Deutschland anläuft.“ Die Kosten würden bei einer Laufzeit von fünf Jahren und 5000 Probandinnen je nach Zahl der erhobenen Parameter zwischen vier und 18 Millionen Mark liegen. Für die deutsche Krebshilfe erklärte deren Vorstandsvorsitzender Dr. Helmut Geiger, daß der Wille, solch ein Projekt zu fördern, „prinzipiell vorhanden“ sei.

Im Gegensatz zur präventiven Gabe von Tamoxifen ist der postoperative Nutzen des Hormonblockers beim Brustkrebs unumstritten. Jonat schätzt, daß mit dieser Indikation weltweit etwa 200000 Frauen pro Jahr behandelt werden. Unter ihnen würden 10000 bis 20000 dank Tamoxifen vor einem Rückfall bewahrt. „Vor zehn bis zwanzig Jahren wären diese Frauen noch gestorben“, sagte der Gynäkologe.

(geschrieben für das Deutsche Ärzteblatt, Erscheinungsdatum unbekannt.)

Ärztliche Entscheidungen unter der Lupe

Fehlendes Wissen, fehlende Daten und fehlende Zeit sind die größten Hindernisse für unsere Ärzte, wenn es darum geht, immer wieder die bestmögliche Behandlung für jeden einzelnen Patienten zu ermitteln. Diese Erfahrung ist für Professor Gerhard Riecker, Direktor der Medizinischen Klinik I am Münchner Klinikum Großhadern Anlaß, die Medizin als „Kunst im Umgang mit unsicherem Wissen“ zu definieren.

Zusammen mit einer wachsenden Zahl von Kollegen beschäftigt sich Riecker mit der Frage, wie Ärzte zu ihren Entscheidungen gelangen, von denen Wohl und Wehe, manchmal auch Leben und Tod ihrer Patienten abhängen. Keine Bibliothek der Welt ist heute groß genug, um die gesammelten Weisheiten der Medizin auch nur zu lagern, die seit Hippokrates durch Heerscharen fleißiger Forscher zusammengetragen wurden. Über 30000 verschiedene Fachzeitschriften konkurrieren um die Aufmerksamkeit der Heilkundigen; Riecker schätzt, daß das verfügbare Wissen in der Medizin etwa alle zehn Jahre um die Hälfte zunimmt.

Natürlich muß nicht für jeden Patienten das gesamte medizinische Wissen der Neuzeit durchforstet werden. Bei einem erfahrenen Arzt genügen die sorgfältige Erhebung der Krankheitsgeschichte (Anamnese) und die Resultate der Eingangsuntersuchung, um in 60 bis 90 Prozent aller Fälle die richtige Diagnose zu stellen, so Riecker. Dabei spielen die Beurteilung und Verknüpfung der beobachteten Krankheitszeichen (Symptome) die entscheidende Rolle. Einzelne Daten wie Alter und Geschlecht des Patienten, die Häufung bestimmter Krankheiten in der Familie, die Einnahme von Arzneimitteln, Hinweise auf äußere Umstände wie verdorbene Lebensmittel oder eine umgehende Grippewelle bilden einige der Mosaiksteinchen, die im Idealfall durch den Scharfsinn des Mediziners zu einem umfassenden und eindeutigen Krankheitsbild ergänzt werden.

Im Vordergrund steht derzeit noch immer die Intuition des Arztes, die Fähigkeit, etwas zu verstehen, noch bevor alle Details bewußt wahrgenommen werden. Besonders gefragt ist diese Tugend in der Notfallambulanz, wo jede Sekunde zählt, um beispielsweise Verkehrsopfern mit inneren Verletzungen das Leben zu retten. Wie aber erwirbt man den klinischen Scharfsinn und was kann getan werden, um fatale Fehlentscheidungen zu verhindern?

Dieser Frage widmet sich an der Universität Marburg Professor Wilfried Lorenz, Leiter des Institutes für Theoretische Chirurgie. Er berichtete über eine Fallstudie an fünf Oberärzten. Intuition, so stellte sich dabei heraus, kann durchaus ein zweischneidiges Schwert sein. „Vier der fünf Ärzte stellten exzellente Diagnosen aus dem Bauch heraus. Einer aber lag bei 38 Prozent Richtigkeit.“ – Eine erschreckend niedrige Quote, die laut Lorenz zeigt, welche Vorteile für den Patienten von einer objektivierten Entscheidungsfindung zu erwarten sind.

In Zusammenarbeit mit der Allgemeinchirurgie versucht man deshalb in Marburg schon seit gut 20 Jahren, die Entscheidungsfindung der Kollegen durch neue Konzepte, Methoden und Strukturen zu erleichtern. Denn „großes technisches Vermögen in der Chirurgie ist zwar eine Notwendigkeit, aber nicht alles.“ Dem begegnete man in Marburg durch die Schaffung von kleinen Arbeitsgruppen, in denen theoretische und praktische Chirurgen, Studenten und technisches Personal wenigstens einmal pro Woche zusammentreffen, um die verschiedenen Methoden der Entscheidungsfindung auf aktuelle Probleme anzuwenden.

So ging es in einer Arbeitsgruppe um das relativ häufige Zwölffingerdarmgeschwür, für das mehrere Möglichkeiten der Behandlung zur Verfügung stehen: Läßt man den Dingen ihren natürlichen Lauf, so wird das Geschwür bei einigen Patienten von selbst ausheilen, bei der Mehrzahl der Kranken wird es wiederkehren, ohne großen Schaden anzurichten. Die Statistik verrät aber auch, daß es bei jedem sechsten unbehandelten Patienten zu Komplikationen kommen wird; jeder Zehnte aus dieser Gruppe bezahlt sie schließlich mit seinem Leben.

Verabreicht der Arzt Medikamente, so muß zwar mit Nebenwirkungen gerechnet werden, jeder zweite Kranke wird aber im ersten Anlauf vollständig geheilt. Die Sterblichkeit ist natürlich geringer als bei den unbehandelten Patienten, beträgt aber immer noch ein Prozent. Noch etwas besser schneidet die dritte Möglichkeit ab: Ein operativer Eingriff, bei dem verschiedene Abzweigungen des Eingeweidenervs gekappt werden. Allerdings ist die Operation selbst mit einem nicht unerheblichen Risiko verbunden, dem auch solche Patienten ausgesetzt wären, die womöglich ohne weiteres Zutun gesundet wären.

All diese Möglichkeiten werden nun in einem Entscheidungsbaum skizziert, einem Diagramm, das ausgehend von der Diagnose „Zwölffingerdarmgeschür“ sich immer weiter verzweigt bis zu einem vorgegebenen Endpunkt – in diesem Fall die Frage, ob die Patienten fünf Jahre nach Behandlungsbeginn noch am Leben sind. Die Entscheidung, einen bestimmten Weg zu gehen, ergibt sich dann nicht nur aus den unmittelbaren Folgen einer Entscheidung, sondern auch aus den Folgen der Folgen, die auf der Grundlage der Statistik in Zahlen gefaßt werden können.

Während früher als Endpunkt der Behandlung oft nur die zwei Extreme „Leben“ oder „Tod“ unterschieden wurden, versuchen neuere Modelle auch andere Aspekte zu berücksichtigen. So rückt bei der Behandlung von Krebspatienten die Lebensqualität immer mehr in den Mittelpunkt. Lorenz nennt als Beispiel Erkrankungen des Enddarms, bei denen durch eine radikale Operation die Schaffung eines künstlichen Darmausganges notwendig wird. „Wir haben bisher immer geglaubt, daß dies für einen Patienten das Schlimmste ist und wir haben deshalb alles versucht, Operationsverfahren zu entwickeln, um diesen Schritt zu vermeiden.“

Der Nachteil bestand darin, daß durch diese Haltung das Risiko wuchs, den Krebsherd nur unvollständig zu beseitigen, was tödliche Folgen haben kann. „Unsere Lebensqualitätsforschung hat nun ergeben, daß auch ältere Patienten den künstlichen Darmausgang oft gut vertragen. Das Gefühl, ´es ist alles ´raus´ hat die Lebensqualität dieser Menschen unglaublich positiv beeinflußt“, schildert Lorenz das überraschende Ergebnis.

Inzwischen wird die Theoretische Chirurgie in Deutschland an sechs Kliniken betrieben und kann sich im internationalen Vergleich durchaus sehen lassen. Ihre Resultate erreichen nach Schätzung von Lorenz etwa die Hälfte der Chirurgen. Wenig systematische Entscheidungsfindung wird dagegen in den Praxen niedergelassener Ärzte betrieben, wo die weitaus meisten Patienten behandelt werden. Ein „Riesendefizit“ sieht Lorenz auch in der Inneren Medizin. „Die muß das dringendst einführen; sie ist viel zu sehr biomedizinisch ausgerichtet“.

Der Einsatz von Computern zur Diagnose von Krankheiten steckt ebenfalls noch in den Kinderschuhen. Eine Deutung der vorliegenden Daten durch die Rechenknechte „liefert keine gewünschte Zusatzinformation, sondern bedroht scheinbar die geistige Leistung des Arztes“, erklärt Dr. Christian Ohmann von der Abteilung Theoretische Chirurgie der Chirurgischen Klinik der Düsseldorfer Heinrich-Heine-Universität.

Der theoretische Mediziner hat angesichts der oft umständlichen und zeitraubenden Bedienung der Geräte Verständnis für diese Haltung, verweist aber dennoch auf mehrere Systeme, deren Nutzen eindeutig nachgewiesen ist. „Die Einführung der computerunterstützten Diagnose bei akuten Bauchschmerzen hat zu einer erheblichen Reduktion diagnostischer und therapeutischer Fehler geführt.“ An acht englischen Kliniken konnte die Trefferquote bei der Ermittlung der Krankheitsursache von 57 auf 74 Prozent erhöht werden, gleichzeitig sank die Zahl der Eingriffe, bei denen die Bauchdecke unnötigerweise eröffnet wurde, von 25 auf 10 Prozent. Auch bei der Beurteilung von Brustschmerzen kann Kollege Computer Erfolge vorweisen: Durch Analyse der Beschwerden und des Elektrokardiogramms gelang es, die Zahl der Patienten, die ins Krankenhaus aufgenommen werden mußten, um fast ein Drittel zu senken, ohne daß dabei ernsthaft kranke Menschen übersehen wurden.

Neben diesen beiden Ausnahmen sei der Einsatz computerunterstützter Diagnosemodelle gegenwärtig aber weder für die Routinearbeit noch für die Aus- und Weiterbildung der Ärzte zu empfehlen, meint Ohmann. Der Grund für die Zurückhaltung liegt vor allem darin, daß die bestehenden Systeme bisher nicht ausreichend getestet wurden. Riecker ist dagegen optimistisch, daß Computer schon in fünf Jahren fast flächendeckend an der Entscheidungsfindung beteiligt werden. Ein Expertensystem für die Diagnose von Herz-Rhythmus-Störungen soll Ende des Jahres fertig sein und mit Unterstützung des Heidelberger Springer-Verlages als preiswertes und benutzerfreundliches PC-Programm vertrieben werden. Als weitere Fachrichtungen, auf denen der Computer sich als besonders hilfreich erweisen könnte, nennt der Mediziner Endokrinologie, Neurologie, Intensivmedizin, klinische Chemie und Vergiftungen.

Auch Riecker räumt ein, daß sich vor allem ältere Kollegen mit der Akzeptanz derartiger Systeme schwertun. „Die ältere Generation meidet das wie der Teufel, bei denen ist es ja schon verpönt, in Anwesenheit des Patienten in das Lehrbuch zu schauen. Aber unsere jüngeren Assistenten sind regelrechte Computerfreaks – da kann man nur staunen.“ Durch den stattfindenden Generationswechsel werde sich die rechnergestützte Entscheidungsfindung schnell durchsetzen. Die von Experten in Zusammenarbeit mit Informatikern erstellten Programme ließen sich auch schneller an aktuelle Entwicklungen anpassen; ein „Upgrade“ der entsprechenden Disketten könnte bei entsprechend großer Verbreitung etwa alle ein bis zwei Jahre für „rund 50 Mark“ geliefert werden, meint Riecker.

Im Gegensatz zum Rat eines Computers werden die Empfehlungen sogenannter Konsensuskonferenzen von allen Medizinern anerkannt. Dabei kommen Experten aus verschiedenen Teilgebieten der Medizin zusammen mit dem Ziel, ein Standardprotokoll zur Behandlung einer Krankheit zu entwickeln. Den größten Einfluß auf das Urteil dieser Experten haben in der Regel klinische Studien, die nach sehr strengen Regeln an einer großen Zahl von Patienten und gleichzeitig an mehreren Orten durchgeführt werden. Geht es zum Beispiel um den Vergleich zweier Medikamente, die den Bluthochdruck bekämpfen sollen, wird Verteilung und Verpackung der fraglichen Pillen so organisiert, daß weder die Patienten noch die behandelnden Ärzte wissen, wer welche Arznei erhält. Um eine Verfälschung der Resultate durch persönliche Meinungen und Erwartungen zu verhindern, werden diese Informationen bis zum Abschluß der Studie in einem geschlossenen Umschlag hinterlegt.

Erst dann wird kontrolliert, welches der beiden Medikamente den Blutdruck wie stark gesenkt hat, in welchem Zeitraum dies geschehen ist und welche Nebenwirkungen dabei auftraten. Natürlich werden diese Studien auch in den entsprechenden Fachzeitschriften veröffentlicht, doch dringt die Neuigkeit schneller zu den niedergelassenen Ärzten vor, wenn sie in Form von Leitlinien und Empfehlungen einer Konsensuskonferenz gefaßt wird. Unbestritten ist, daß Expertensysteme und Entscheidungsbäume, Lebensqualitätsanalysen und Konsensuskonferenzen dazu beitragen können, die Heilungschancen für den Patienten zu erhöhen. Sicher ist aber auch, daß trotz aller Entscheidungshilfen die Verantwortung für jeden Entschluß auch in Zukunft ganz allein auf den Schultern des behandelnden Arztes lastet.

(in gekürzter Form erschienen in der Süddeutschen Zeitung am 9. Dezember 1993)

Krebsvorsorge auf dem Prüfstand

Der Kampf gegen den Krebs ist meist auch ein Kampf gegen die Zeit. Je früher ein bösartiges Geschwür entdeckt wird, desto größer sollten deshalb die Chancen auf Heilung sein. Ob aber die verschiede­nen Früherkennungsverfahren, die heute angeboten werden, alle sinnvoll sind, ist wissenschaftlich keinesfalls gesichert. Das Nationale Krebsforschungsinstitut der Vereinigten Staaten (NCI) hat deshalb den Startschuß für einen Großversuch mit 148000 Freiwilligen im Alter zwi­schen 60 und 74 Jahren gegeben.

Dabei steht die Frage im Vordergrund, ob Vorsorgetests die Zahl der Krebstoten wirklich verringern können. Um dies herauszufinden, werden die Probanden per Losentscheid auf zwei Gruppen verteilt, von denen eine die normale medizinische Betreuung erfährt. Die andere wird zusätzlich innerhalb von drei Jahren viermal mit sieben verschiedenen Früherkennungsmethoden auf Krebs des Magen-Darm-Traktes, der Lunge, der Vorsteherdrüse (Prostata) und der Eierstöcke (Ovarien) hin untersucht. Insgesamt zehn Jahre lang geben die Teilnehmer der knapp 150 Millionen Mark teuren PLCO-Studie (engl.: Prostate, Lung, Colorectal, and Ovarian Cancer Screening Trial) Auskunft über ihren Gesundheitszustand.

Nach Schätzungen des Bundesgesund­heitsamtes entfallen in Deutschland mehr als die Hälfte aller Krebsfälle auf die genannten Organe. Im Jahr 1990 waren das allein für die alten Bundesländer über 150000 Neuerkrankungen. Besonders häufig sind ältere Menschen betroffen, was die Beschränkung der amerikani­schen Untersuchung auf vergleichsweise betagte Freiwillige erklärt.

(erschienen in der Süddeutschen Zeitung am 9. Dezember 1993. Ein Überblick zu den Ergebnissen dieser wichtigen Studie aus dem Jahr 2015 findet sich hier.)

Neues vom „Aids-Skandal“

Im Skandal um den Vertrieb von nicht ausreichend auf HIV getestetem Blutplasma sind in den vergangenen Tagen neue Details bekannt geworden. Im Falle der Koblenzer Firma UB Plasma wurden jeweils zwei bis vier Proben von verschiedenen Einzelspendern zusammen getestet, sagte der leitende Oberstaatsanwalt Norbert Weise. Durch dieses Vorgehen sei die Sensitivität des Antikörpertests vermindert worden. „Wir vermuten, daß bei dieser Methode das diagnostische Fenster um etwa sechs Wochen verlängert wird.“

Eine weitere gravierende Verletzung der Vorschriften war das sogenannte „visuelle Testen“, bei dem eine mögliche Verfärbung der Teströhrchen zunächst nur mit dem bloßen Auge abgeschätzt wurde. „Wenn eine Verfärbung sichtbar war, hat man den kompletten Test gemacht; wenn nicht ging man davon aus, daß die Proben HIV-negativ seien“, erklärte Weise. Vorgeschrieben ist dagegen eine exakte maschinelle Bestimmung der optischen Dichte.

Bei den drei bekannt gewordenen Infektionen, die mit Spender Nummer 2505 in Verbindung gebracht wurden, hätten zwei womöglich vermieden werden können, wenn entsprechend den Vorschriften getestet worden wäre, mutmaßte Weise. Das Plasma eines weiteren HIV-positiven Spenders ist vermutlich nie in den Verkehr gelangt. Eine Niederlassung der Koblenzer Firma im rumänischen Bukarest hatte die zugehörige Blutprobe zum Testen nach Deutschland eingeschickt, wobei die Infektion erkannt wurde. Hinweise darauf, daß Plasma dieses Spenders vertrieben wurde, gibt es laut Schmidt bisher nicht.

Mittlerweile wurden von den 24000 sichergestellten Rückstellproben, die eine Überprüfung der ursprünglichen Testergebnisse gestatten, an der Universitätsklinik Mainz gut 10000 untersucht und mit den Eintragungen in den sichergestellten Laborbüchern verglichen. „Bis jetzt stimmen alle Ergebnisse mit denjenigen der Firma überein“, sagte Dr. Franz-Josef Schmidt, leitender Regierungsdirektor im Bezirk Koblenz gegenüber dem Deutschen Ärzteblatt.

Auch dem Testlabor der Firma Haemoplas im niedersächsischen Osterrode wird vorgeworfen, die einschlägigen Vorschriften verletzt zu haben. Laut dem Sprecher im Gesundheitsministerium, Thomas Steg, sind in diesem Fall jedoch keine Rückstellproben vorhanden, die einen Vergleich der Testergebnisse ermöglichen würden. Die „Aufwandsentschädigungen“ in Höhe von etwa 50 Mark pro Spende, die sowohl von UB Plasma als auch von Haemoplas gezahlt wurden, bringen nach Meinung von DRK-Sprecher Fritz Duppe ein erhöhtes Infektionsrisiko mit sich und sollte deshalb abgeschafft werden. Duppe zitierte eine Studie, wonach in Deutschland etwa jeder Hundertausendste unbezahlte Spender HIV-infiziert ist. Bei den bezahlten Spendern seien Infektionen dagegen acht Mal häufiger anzutreffen.

(erschienen im Deutschen Ärzteblatt am 3. Dezember 1993)

Weniger Hürden für die Gentechnik

Verbraucherinitiativen und Umweltschutzverbände, die der Gentechnik kritisch gegenüberstehen, sehen sich ab Anfang nächsten Jahres einer ihrer wichtigsten Waffen beraubt: Öffentliche Anhörungen werden im Rahmen von Genehmigungsverfahren für die meisten Produktions- und Forschungsanlagen abgeschafft. Auch wenn die Freisetzung gentechnisch veränderter Organismen diskutiert wird, müssen besorgte Anwohner ebenso wie weitgereiste Fundamentalisten künftig auf das Medienspektakel einer öffentlichen Anhörung verzichten.

Als „eine skandalöse Nacht- und Nebelaktion, mit der handstreichartig versucht wird, die Bürgerinnen und Bürger aus der Diskussion um die Gentechnik auszugrenzen“, kritisierte denn auch Beatrix Tappeser vom Öko-Institut Freiburg die von der Regierungskoalition durchgesetzten Änderungen. „In den vergangenen Wochen avancierte die Gentechnik zum traurigen Exempel für den Abbau von Öffentlichkeitsrechten“, heißt es in einer gemeinsamen Erklärung von 25 Umweltorganisationen, Forschungsinstituten und Bürgerinitiativen. Dabei wird allerdings verschwiegen, daß – schriftlich formulierte – Einwände gegen die Freisetzung gentechnisch veränderter Organismen nach wie vor von Bundesgesundheitsamt, Umweltbundesamt und der Biologischen Bundesanstalt Braunschweig im Rahmen eines Genehmigungsverfahrens geprüft werden müssen.

Schneller als erwartet haben sich Bund und Länder über die noch offenen Fragen bei der Novellierung des Gentechnikgesetzes geeinigt. Die von Gesundheitsminister Horst Seehofer angestrebten Vereinfachungen werden damit ohne wesentliche Abstriche zum Jahresbeginn Gesetzeskraft erlangen – nicht zuletzt deshalb, weil weitreichende Änderungswünsche auf einer Sitzung des Bundesrates am 5. November nicht von allen SPD-regierten Ländern getragen wurden. Das verzweifelte Bemühen des Gesetzgebers, der nach eigenem Bekunden kaum noch wettbewerbsfähigen deutschen Gentechnikbranche neues Leben einzuhauchen, findet damit seinen vorläufigen Abschluß.

Neben der drastischen Reduktion der Anhörungen hat auch die Verkürzung beziehungsweise Abschaffung der Genehmigungsverfahren für Arbeiten in den Sicherheitsstufen 1 und 2 als wichtigstes Element der Novelle die Beratungen unbeschadet überstanden. Die Sicherheitsstufe 1 betrifft Organismen wie das Darmbakterium Escherichia coli oder die Bäckerhefe, die kein Risiko für Mensch und Umwelt darstellen. Hier wird künftig in jedem Fall eine Anmeldung genügen. Die bisher vorgeschriebene Beteiligung eines Expertengremiums – der Zentralen Kommission für biologische Sicherheit – entfällt.

Vereinfachungen gibt es auch für die Sicherheitsstufe 2 („geringes Risiko“), in der sich nicht nur Bakterien wie die Erreger von Cholera und Legionärskrankheit finden, sondern auch Pilze der Gattungen Aspergillus und Candida, die bei immungeschwächten Patienten lebensbedrohliche Infektionen hervorrufen können. Bei Forschungsarbeiten mit diesen Organismen bleibt den Behörden künftig nur noch ein Monat, um einen Genehmigungsantrag zu bearbeiten, statt wie bisher drei. Ein nicht fristgerecht bearbeiteter Antrag gilt als genehmigt. Öffentliche Anhörungen für gewerbliche Anlagen wird es nur noch in den Fällen geben, wo dies ohnehin nach dem Bundesimmissionsschutzgesetz vorgeschrieben ist.

Im Vermittlungsausschuß mußten letzte Woche nur noch zwei Punkte geklärt werden, wobei sich in beiden Fällen die Länder mit ihren Vorstellungen durchsetzen konnten. Demnach wird die Zustimmung des Bundesrates bei Rechtsverordnungen, die der Umsetzung von EG-Richtlinien dienen, auch weiterhin erforderlich sein. Eine von Regierung und Koalition vorgesehene Konzentration der Entscheidungsgewalt beim Bau gentechnischer Anlagen ist ebenfalls vom Tisch. Neben den für die Gentechnik zuständigen Behörden müssen damit auch weiterhin beispielsweise die für Bau- und Wasserrecht zuständigen Ämter konsultiert werden.

Eine Identität zwischen geltenden EG-Richtlinien und dem Gentechnikgesetz ist damit allerdings noch nicht hergestellt, wie Wolf-Michael Catenhusen (SPD) einräumte. Ausgeklammert wurde auch die Frage, ob Pilotanlagen für die Herstellung klinischer Prüfware ein Genehmigungsverfahren durchlaufen müssen, sagte der ehemalige Vorsitzende der Enquete-Kommission „Chancen und Risiken der Gentechnik“. Als einziges Bundesland beharrte Hessen bisher auf dieser sogenannten 10-Liter-Regelung und machte damit vor allem der Frankfurter Hoechst AG das Leben schwer.

Davon unbeirrt hat sich der Großkonzern inzwischen erneut aufs Glatteis begeben: Im bayerischen Germering kann es Anfang November wieder einmal zu Protesten gegen geplante Freilandversuche; diesmal mit gentechnisch veränderten Mais- und Rapspflanzen. Die Gewächse unterscheiden sich von ihren natürlichen Artgenossen durch ein zusätzliches Gen, welches sie unempfindlich macht gegenüber dem von der Hoechst AG hergestellten Unkrautvernichtungsmittel „Basta“ (Phosphinotricin).

Auf der vom Bundesgesundheitsamt (BGA) geführten Anhörung waren zwar nur rund 200 der 20000 Einwender erschienen, um ihre Argumente mündlich vorzutragen. Ob diese sich aber in Zukunft an die neuen Spielregeln des Gentechnikgesetzes halten werden, ist keineswegs sicher. Medienvertreter sehen der Fortsetzung des Verfahrens am 13.12. daher mit Spannung entgegen. Genehmigt werden dürfen Freilandversuche auch nach der Novellierung nur dann, „wenn nach dem Stand der Wissenschaft im Verhältnis zum Zweck der Freisetzung unvertretbare schädliche Einwirkungen auf Leben und Gesundheit von Menschen, Tieren und Pflanzen sowie die sonstige Umwelt in ihrem Wirkungsgefüge und Sachgüter nicht zu erwarten sind.“

Neben dem vom Lehrstuhl für Pflanzenbau und Pflanzenzüchtung der Technischen Universität München gestellten Antrag liegen dem BGA noch sechs weitere vor: Die Universität Bielefeld beabsichtigt an zwei Standorten in Niedersachsen und Brandenburg gentechnisch veränderte Stämme des Bakteriums Rhizobium meliloti freizusetzen. Die Bakterien gehören zur Familie der „Knöllchenbildner“, die Stickstoff aus der Luft binden und ihren pflanzlichen Symbiosepartnern als Dünger zur Verfügung stellen können. Außerdem will das Max-Planck-Institut für Züchtungsforschung in Köln Kartoffelpflanzen erproben, die mit gentechnischen Methoden gegen das Kartoffelblattrollvirus immunisiert wurden.

Die meisten Anträge, nämlich fünf von sieben, betreffen aber Pflanzen, die gegen das Hoechst-Herbizid Basta resistent sind.  Während der Versuch in Germering von Mitarbeitern der TU München durchgeführt wird, plant Hoechst unter eigener Regie vier ähnliche Experimente in Gersten (Niedersachsen), Friemar (Thüringen) Wörrstadt (Rheinland-Pfalz) und Gersthofen bei Augsburg.

Die Versuche sind Voraussetzung für eine kommerzielle Nutzung des Gens auch in Deutschland. Über die Größe dieses Marktes konnte Hoechst-Pressesprecher Jürgen Cantstetter keine Angaben machen. „Aber wenn es zu einer Zulassung kommt, wollen wir das sehr breit vermarkten.“ Dabei denkt man in Frankfurt nicht daran, genmanipulierte Pflanzen – etwa durch eine Tochterfirma – selbst zu Vertreiben. Vielmehr soll interessierten Saatgutproduzenten eine Lizenz angeboten werden, die es den Firmen erlauben würde, das Resistenzgen in ihre eigenen Sorten einzuklonieren. Weil dieser zusätzliche Arbeitsaufwand das Saatgut eher verteuern würde, rechnet Cantstetter nicht damit, daß die herbizidresistenten Gewächse in Entwicklungsländern zum Einsatz kommen.

Bereits getestet wurden Basta-resistente Tabak- und Tomatenpflanzen 1989 in Frankreich und Kanada, in den Jahren 1990 bis 1992 außerdem Sommerraps und Winterraps, Mais und Sojabohnen. Dabei sei „auf eindrucksvolle Weise die ausgezeichnete Verträglichkeit der gegenüber dem Herbizid resistenten Pflanzen“ bestätigt worden, sagte Dr. Ernst Rasche, Leiter der Geschäftseinheit Saatgut des Konzerns. Bei einem dreijährigen Versuchsprojekt zur Sicherheitsforschung, das im englischen Ascot von Wissenschaftlern des Imperial College Silwood Park durchgeführt wurde, seien keine besonderen Risiken festgestellt worden. Allerdings kam Basta damals beim Vergleich der Wettbewerbsfähigkeit transgener Rapspflanzen mit ihren unveränderten Stammlinien gar nicht zum Einsatz. Auch die Frage, ob das Resistenzgen – wie von Kritikern behauptet – auf andere Pflanzen und möglicherweise Bodenbakterien übertragen werden kann, und ob dies nachteilige Folgen für das jeweilige Ökosystem hätte, wurde bisher nicht eindeutig beantwortet.

Umstritten ist zudem, ob der Einsatz herbizidresistenter Kulturpflanzen letztlich zu einer umweltverträglicheren Unkrautbekämpfung führen wird oder zu einem erhöhten Verbrauch von „Pflanzenschutzmitteln“. Einerseits würden zum Schutz der Kulturen vergleichsweise geringe Mengen Basta ausreichen, das schnell zu unschädlichen Folgeprodukten abgebaut wird. Andererseits könnte die Verlockung groß sein, gerade deshalb alles „totzuspritzen“, was sich nicht verkaufen läßt.

Ein Blick auf die Statistik zeigt jedenfalls, daß fast 70 Prozent der rund 1000 Freilandversuche an über 40 Pflanzenarten, die bisher in den OECD-Staaten genehmigt wurden, die Entwicklung herbizidresistenter Gewächse zum Ziel hatten. Der Rest verteilt sich auf Experimente zum Schutz vor Insekten, Viren und anderen Krankheitserregern.

Die geplanten Versuche der Hoechst AG sollen mit der Aussaat Anfang Mai 1994 beginnen und nach drei Vegetationsperioden mit der Ernte im Oktober 1996 abgeschlossen sein. Neben der Zulassung sollen sie laut Firmenangaben auch „Erkenntnisse über die Vorteile dieses Herbizids im Vergleich zu herkömmlichen Behandlungsverfahren liefern“. Erstmals zugelassen wurde Phosphinotricin 1984 in Deutschland, mittlerweile wird es in 45 Ländern als sogenanntes Totalherbizid verkauft, das Kulturpflanzen und Unkräuter gleichermaßen schädigt und darum bisher weitgehend auf den Obst- und Weinbau beschränkt war. Per Gentransfer, so hoffen die Hoechster, könnte dieses Manko überwunden werden. Der Weg dahin erscheint – zumindest im Rückblick – gleichermaßen logisch und clever:

Phosphinotricin hat strukturelle Ähnlichkeit mit der in jedem Organismus vorkommenden Glutaminsäure, einem der rund zwanzig Bausteine, aus denen Proteine zusammengesetzt werden. Es hemmt ein Enzym, das Glutaminsäure und Ammoniak zu Glutamin – einem weiteren Eiweißbaustein – verbindet. Letztlich stirbt die Pflanze also an einer „Ammoniakvergiftung“. Bei Mensch und Tier wird Ammoniak dagegen durch einen anderen Entgiftungsmechanismus entsorgt.

Um nun die Wirkung von Basta auf die „unerwünschte Begleitflora“ zu begrenzen, verfielen Wissenschaftler bei der belgischen Biotechnologiefirma Plant Genetics Systems und bei Hoechst unabhängig voneinander auf die Idee, die schützenswerten Kulturpflanzen mit einem Resistenzgen auszustatten, welches Phosphinotricin zerstört. Sie fanden solch ein Gen in Bakterien der Gattung Streptomyces und übertrugen es auf eine Vielzahl von Nutzpflanzen.

Ähnliche Versuche mit einem anderen Resistenzgen sind auch bei den Firmen Ciba-Geigy, Du Pont, ICI, Shell und Unilever schon weit fortgeschritten. Auch wenn die Produkte der Chemieriesen bisher noch nirgendwo auf dem Markt sind, scheint die Entwicklung kaum mehr anzuhalten. Die bereits 1987 ausgesprochene Ablehnung herbizidresistenter Pflanzen durch die Enquete-Kommission „Chancen und Risiken der Gentechnologie“ des Bundestages ist offenbar ungehört verhallt.

(erschienen in den VDI-Nachrichten vom 3. Dezember 1993)

Neue Arzneien gegen die Depression

In den 1990er Jahren wurde ich häufig von meinen Kunden auf medizinische Fachkonferenzen geschickt, einschließlich sogenannter Satellitensymposien, die dort von den Herstellern neuer Medikamente veranstaltet wurden. Dabei traten reihenweise mehr oder weniger renommierte Ärzte auf, die – natürlich gegen Honorar – ihre Argumente für die neuen und gegen die alten Präparate vortrugen. Die Kosten der Journalisten für die Anreise und Unterbringung wurden in aller Regel ebenfalls von der Pharmaindustrie übernommen, was natürlich Zweifel an der Glaubwürdigkeit dieser Veranstaltungen weckt. Doch ganz so einfach ist es nicht, denn auch Satellitensymposien bieten oftmals hochwertige Informationen, wie das folgende Beispiel zeigt:

Trizyklische Antidepressiva (TCA) werden bei schweren Gemütskrankheiten noch immer häufiger verschrieben als Monoaminooxidase-Hemmer und die recht neue Klasse der selektiven Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer (SSRI) zusammen. Zwar gibt es keine Beweise für eine bessere Wirksamkeit der neuen Präparate gegenüber den „klassischen“ TCA; in puncto Sicherheit und Verträglichkeit ergeben sich jedoch deutliche Unterschiede zwischen den verschiedenen Medikamenten-Klassen. Die Frage, inwieweit diese Unterschiede neue Standards bei der Therapie von Depressionen rechtfertigen, stand im Mittelpunkt eines Satelliten-Symposiums der Firma SmithKline Beecham während des 6. Kongresses des European College of Neuropsychopharmacology in Budapest.

Als großen pharmakologischen Vorteil der SSRIs benannte Professor Yves Lecrubier vom Pariser Hôpital de la Salpêtrière deren niedrige Affinität für α- und ß-adrenerge Rezeptoren. Paroxetin, Fluvoxamin, Fluoxetin und das in Deutschland noch nicht zugelassene Sertralin hätten deshalb keine kardiovaskulären Wirkungen, was zur Sicherheit beitrage. Die ebenfalls geringe Affinität für muskarinische Rezeptoren verhindere ebenso wie die fehlenden Wechselwirkungen mit histaminischen Rezeptoren eine Beeinträchtigung der geistigen Leistungsfähigkeit. „Die Akzeptanz der SSRIs in den meisten Ländern beruht wahrscheinlich nicht auf deren Wirksamkeit, sondern auf dem günstigen Nebenwirkungsprofil“, mutmaßte Lecrubier. Die neuen Antidepressiva schienen ihm zwar gleichermaßen wirksam wie die älteren Substanzen, es fehle aber noch der Nachweis, daß Subpopulationen depressiver Patienten unter kurzfristiger Therapie mit SSRIs oder den neueren MOA-Hemmern besser ansprechen würden.

Zur oftmals postulierten „vergleichbaren Wirksamkeit“ von selektiven Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmern mit trizyklischen Antidepressiva wurden auf einer begleitenden Presseveranstaltung neue Daten präsentiert. So berichtete der niedergelassene Arzt Dr. Peter Stott aus dem britischen Tadworth über eine Studie Paroxetin (täglich 20 Milligramm) versus Amitriptylin (täglich 75 Milligramm) an über 500 Patienten im Alter von 18 bis 65 Jahren. Alle Probanden hatten zu Beginn der Untersuchung mindestens einen Wert von 16 auf der Montgomery-Asberg Depressionsskala und über 11 Einheiten auf der „Clinical Anxiety“-Skala.

Im Verlauf der achtwöchigen Therapie sanken die Werte in beiden Gruppen auf beiden Skalen praktisch parallel auf weniger als die Hälfte der Eingangswerte. Anticholinerge Nebenwirkungen wurden in der Amitriptylin-Gruppe signifikant häufiger beobachtet, ebenso Mundtrockenheit, welche unter dem trizyklischen Antidepressivum mit 27 Prozent die häufigste Nebenwirkung darstellte. Dagegen klagten in der Paroxetin-Gruppe 19 Prozent der Probanden über Übelkeit; hier ergab sich ein signifikanter Unterschied zuungunsten des SSRIs.

Abgebrochen wurde die Studie – meist wegen Nebenwirkungen und dem Ausbleiben eines klinischen Effektes, selten wegen mangelnder Compliance – von 37 Prozent der Patienten unter Amitriptylin, sowie 26 Prozent in der Paroxetin-Gruppe. Der Unterschied war statistisch nicht signifikant.

Die bessere Verträglichkeit von Paroxetin gegenüber TCA (meist Amitriptylin) betonte auch Professor Stuart Montgomery von der St. Mary´s Hospital Medical School, London. Unter knapp 4000 Patienten fand der Psychiater eine durch Nebenwirkungen bedingte Abbruchrate von 12,1 Prozent für Paroxetin gegenüber 15,8 Prozent für TCA. Dieses Ergebnis blieb signifikant auch unter Einbeziehung der Abbrüche wegen mangelnder Wirksamkeit (17,1 gegen 21,0 Prozent).

Immer wieder in den Vordergrund gestellt wurde in Budapest das erhöhte Suizid-Risiko für Patienten unter trizyklischen Antidepressiva. Professor Richard Farmer von der Charing Cross Hospital Medical School der Universität London zufolge sind bei jedem zehnten Selbstmord in England und Wales TCA im Spiel. Die enorm hohe Suizidalität unter schwer depressiven Patienten könnte laut Farmer um ein Fünftel reduziert werden, wenn nur noch Medikamente verschrieben würden, die auch in Überdosis gut toleriert werden. Der Mediziner mit dem Spezialgebiet Arzneimittelsicherheit präsentierte Daten für England und Wales, wonach für die TCA Amitriptylin, Imipramin und Clomipramin 73, 55 bzw. 26 Tote je Million ausgeschriebener Rezepte ermittelt wurden, für die verschiedenen SSRIs dagegen weniger als ein Todesfall.

„Die Sicherheit bei Überdosen sollte in Betracht gezogen werden bei der Verschreibung von Medikamenten an suizidgefährdete Patienten. Es gibt auch gute Gründe dafür, diesen Faktor bei der Zulassung von Arzneimitteln in Betracht zu ziehen“, sagte Farmer.

Gegen die Verschreibung von SSRIs sprechen auf den ersten Blick deren vergleichsweise hohe Kosten. Diesem Argument begegnete Professor John Feighner, San Diego mit der Behauptung, die Gesamtkosten pro erfolgreich behandeltem Patienten seien für Paroxetin niedriger als für Imipramin. Dies habe eine Studie mit über 700 schwer depressiven stationären Patienten für die Vereinigten Staaten ergeben, die auch nach Umrechnung auf britische Verhältnisse Bestand habe. Als Gründe für das überraschende Resultat nannte Feighner die schlechtere Compliance und die höhere Abbruchrate unter TCA.

(erschienen im Deutschen Ärzteblatt am 3. Dezember 1993)

Quelle: Satellitensymposium der Firma SmithKline Beecham beim 6. Kongress des European College of Neuropsychopharmacology in Budapest. 10.-14. Oktober 1993)

Hautkrebs mit „Genspritze“ geschrumpft

Der erste klinische Ver­such zum direkten Gentransfer wurde erfolgreich abgeschlossen. Wie Gary Nabel und seine Mitarbeiter vom Medizinischen Zentrum der Universität Michigan in der jüngsten Ausgabe der Fachzeitschrift PNAS berichten, konnte das „therapeutische Potential“ und die Sicherheit der Methode an fünf Patienten bestätigt werden, die unter einem malignen Melanom des Stadiums IV litten.

Im Rahmen der klinischen Phase-I-Studie injizierten die Forscher eine Mischung aus Liposomen und nackter Erbsubstanz jeweils sechs Mal direkt in die Tumoren. Die Konzentration der eingesetzten DNA übertraf dabei diejenige in den vorausgegangenen Tierversuchen um den Faktor sechs. Es handelte sich dabei um Gensequenzen, welche für das Transplantationsantigen HLA-B7 codieren. HLA-B7, das bei den Probanden zuvor nicht nachweisbar war, wurde daraufhin von bis zu zehn Prozent der Tumorzellen in der Nähe der Einstichstelle synthetisiert.

Anschließend habe man starke Hin­weise auf eine verstärkte Reaktivität zytotoxischer T-Zellen gegen das frem­de Antigen gefunden, berichtete Nabel. Eine Immunantwort gegen die Fremd-DNA wurde dagegen nicht beobachtet. „Alle Patienten tolerierten die Behand­lung gut; akute Komplikationen gab es nicht.“

In einem Fall wurde nach kutaner Injektion eine vollständige Regression nicht nur des behandelten Knotens er­zielt, sondern auch entfernter Metasta­sen, darunter ein drei Zentimeter durchmessendes Geschwür der Lunge. Vorausgegangene chirurgische Maßnahmen waren bei diesem Patienten ebenso wirkungslos geblieben wie Strahlen- und Chemotherapie, die Gabe von Interferon sowie eine Immunthe­rapie mit BCG und Interleukin 2.

Auf einem Symposium des Verbundes Klinisch-Biomedizinische Forschung hatte Nabel kürzlich in Heidelberg eingeräumt, daß die direkte Injektion nackter DNA in den Tumor „wenig elegant“ erscheinen möge. „Aber wenn man Gene an einen bestimmten Ort im Körper des Patienten haben will, sollte man sie einfach dort platzieren. Liposomen bilden dabei eine wichtige und möglicherweise sicherere Alternative gegenüber den gebräuchlichen viralen Vektoren.“

(Original-Manuskript für einen Artikel in der Ärzte-Zeitung vom 2. Dezember 1993. Eine Publikumsversion wurde gesendet im Deutschlandfunk am 1. Dezember 1993.)

Quelle: Nabel GJ, Nabel EG, Yang ZY, Fox BA, Plautz GE, Gao X, Huang L, Shu S, Gordon D, Chang AE. Direct gene transfer with DNA-liposome complexes in melanoma: expression, biologic activity, and lack of toxicity in humans. Proc Natl Acad Sci U S A. 1993 Dec 1;90(23):11307-11. doi: 10.1073/pnas.90.23.11307.

Hepatitis C: Die lange Suche nach dem Virus

Während der „Aids-Skandal“ in der vorigen Woche seinen vorläufigen Höhepunkt erreichte, wurden in Bonn zwei Männer geehrt, die sich abseits der großen Schlagzeilen um die Sicherheit von Blutpräparaten verdient gemacht haben. Daniel Bradley und Michael Houghton gelang es in zwei Jahrzehnten hartnäckiger Detektivarbeit, das Hepatitis C-Virus aufzuspüren – einen Erreger, der ebenso wie das Immunschwächevirus HIV durch Blut und Blutprodukte übertragen werden kann. Für ihre Arbeiten erhielten die beiden Biochemiker jetzt zusammen mit dem Deutschen Hans-Georg Rammensee den mit 100000 Mark dotierten Robert-Koch-Preis, eine der höchsten wissenschaftlichen Auszeichnungen der Bundesrepublik Deutschland.

Das Hepatitis C-Virus (HCV) ruft bei der Mehrzahl der Infizierten eine langwierige Leberentzündung hervor. Bei jedem Zehnten entwickelt sich eine Zirrhose – eine Krankheit bei der Leberzellen zerstört und die Funktion des Organs gefährdet werden. In einigen wenigen Prozent der Fälle kommt es 15 bis 25 Jahre nach der Infektion sogar zum Leberkrebs.

Diesem Risiko standen Ärzte und Patienten bis vor kurzem noch relativ hilflos gegenüber: Zwar wurden Schutzmaßnahmen und Impfungen gegen das ebenfalls auf dem Blutwege übertragene Hepatitis B-Virus, und das vergleichsweise harmlose, über Fäkalien verbreitete Hepatitis A-Virus schon in den 1970er Jahren entwickelt. Trotzdem kam es auch weiterhin nach Bluttransfusionen zu Hepatitiserkrankungen. Vier Fünftel dieser, per Ausschlußdiagnose als „Nicht-A-Nicht-B-Hepatitis“ (NANBH) benannten Infektionen gingen, wie man heute weiß, auf das Konto von HCV.

In Deutschland ging die Zahl der dem Bundesgesundheitsamt gemeldeten Fälle von 7396 im Jahre 1980 auf 851 im Jahr 1990 drastisch zurück. Einen Beitrag zu diesen Erfolg bildete dabei die immer strengere Auswahl der Blutspender während der sich ausbreitenden Aids-Epidemie. Ein Bluttest, mit dem man die an HCV Erkrankten direkt hätte nachweisen können, stand aber nicht zur Verfügung. Einerseits wurden deshalb viele Infizierte übersehen, andererseits wurden willige Spender unnötigerweise zurückgewiesen.

Die NANBH war zwar als schwerwiegendes Gesundheitsproblem erkannt worden, die Fahndung nach dem Erreger erwies sich jedoch als ebenso frustrierend wie die Suche nach der sprichwörtlichen Nadel im Heuhaufen. Bis zum heutigen Tag ist es auch mit den modernsten Elektronenmikroskopen nicht gelungen, das Virus sichtbar zu machen.

Für Bradley begann die Suche 1977, als wieder einmal eine Lieferserie des hochkonzentrierten Blutgerinnungsfaktor VIII aus dem Verkehr gezogen werden mußte. Zwei Bluterpatienten hatten sich mit NANBH infiziert, was früh genug festgestellt wurde, um den noch nicht verbrauchten Teil der Charge dem Zentrum für Krankheitskontrolle (CDC) im amerikanischen Atlanta zur Verfügung zu stellen. Dort erhielt Bradley den Auftrag, den geheimnisvollen Erreger aus dem Material zu isolieren und dessen Eigenschaften zu ermitteln.

Zwar gelang es, mehrere Schimpansen zu infizieren und krankhafte Veränderungen der Leber festzustellen, ansonsten tappte man aber weiter im Dunkeln. Immerhin konnte man zeigen, daß Blutplasma seine infektiösen Eigenschaften verlor, wenn es mit Chloroform behandelt wurde. Da Chloroform die fetthaltigen Hüllen anderer Viren aufzulösen vermag, schloß Bradley auf ein sehr kleines, umhülltes Virus.

Die typischen Veränderungen in den infizierten Zellen verglich der Amerikaner dann sorgfältig mit dem Krankheitsbild bei zahlreichen anderen Virusinfektionen. Er fand Parallelen zu bestimmten Pflanzen-, Insekten- und Tierviren, die alle eines gemeinsam hatten: Das Erbmaterial bestand aus Ribonukleinsäure (RNS). Ein Großteil der bekannten Virusfamilien, die stattdessen Desoxyribonukleinsäure (DNS) benutzen, wurde deshalb von der weiteren Suche ausgenommen. Schließlich fand Bradley heraus, daß der oder die Erreger der NANBH ein eher kleines Virus sein mußte: Selbst Filter, deren Poren kleiner als ein Zehntausendstel Millimeter war, konnten sie noch passieren.

Die Arbeitsgruppe um Bradley versuchte dann, im Blut infizierter Menschen und Schimpansen Antikörper gegen den großen Unbekannten zu finden. 40000 Versuchsreihen später war klar, daß viel zu wenige Virusbestandteile im Blut waren, um die „Spürhunde“ des Immunsystems in ausreichender Menge zu binden und damit sichtbar zu machen. „Man kann aus Steinen kein Blut pressen“, sagte Bradley jetzt in Bonn mit Rückblick auf die zahlreichen Fehlschläge und Enttäuschungen.

Schließlich setzte er in seinem Labor in Atlanta alles daran, zellfreie Blutflüssigkeit (Plasma) mit möglichst vielen „infektiösen Einheiten“ zu gewinnen. Dahinter stand die Idee, einzelne Abschnitte des Erbmaterials „blind“ zu isolieren und durch molekularbiologische Verfahren zu vermehren. Den Schimpansen „Don“ und „Rodney“ wurde deshalb während ihrer Krankheitsschübe bis zu 11 Jahre lang immer wieder Plasma abgenommen und auf Infektiosität getestet. Die gesammelten Fraktionen höchster Aktivität enthielten schließlich eine Million infektiöser Einheiten je Milliliter.

Um aus den gut drei Litern Flüssigkeit das Erbmaterial des Erregers herauszufischen, bedurfte es der Zusammenarbeit mit einem Spezialisten: Bei der im kalifornischen Emeryville ansässigen Chiron Corporation machte sich der gebürtige Brite Michael Houghton an die Aufgabe, die von seinen immer wieder gescheiterten Kollegen als reine Zeitverschwendung abqualifiziert wurde.

Nach fünf ergebnislosen Jahren verfiel man auf den Trick, alle Nukleinsäuren aus einem Teil des wertvollen Plasmas durch Zentrifugation zu konzentrieren und diese Erbinformationen in sogenannte Expressionsvektoren einzuschleusen. Expressionsvektoren sind gentechnisch hergestellte „Sklavenmoleküle“ aus DNS, deren Aufgabe darin besteht, die in fremden Nukleinsäuren verschlüsselten Botschaften lesbar zu machen.

Verpackt in Expressionsvektoren wurden die Bruchstücke genetischen Materials in Bakterien eingeschleust, welche dann die Übersetzung in zahllose Eiweiße besorgten. Mit Antikörpern aus dem Blut eines NANBH-Patienten gelang es schließlich, unter einer Million Bakterienkolonien eine einzige Kolonie herauszufischen. Sie produzierte relativ große Mengen von einem Eiweiß des gesuchten Parasiten und enthielt folglich zumindest ein Bruchstück von dessen Erbanlagen.

Die fehlenden Teile konnten dann mit Standardmethoden der molekularen Biologie schnell gefunden und zusammengesetzt werden. Man hatte mit der neu entwickelten „Schrotschuß-Technik“ einen unsichtbaren Erreger identifiziert, über dessen Eigenschaften man vorher nur spekulieren konnte. Das Verfahren eignet sich auch zum Aufspüren anderer, noch unbekannter Krankheitserreger.

Aus den viralen Eiweißen, die jetzt in großer Menge hergestellt werden konnten, entwickelte die Firma Chiron einen Bluttest, der 1989 auf den Markt kam. Durch Anwendung dieses Test bei der Auswahl von Blutspendern habe man die Häufigkeit der Posttransfusionshepatitis weltweit um 90 Prozent senken können, verkündete Houghton in Bonn.

Einen perfekten Schutz vor HCV gibt es zwar immer noch nicht, der größte Teil der Infektionen wird aber inzwischen vermieden, wie Gregor Caspari vom Institut für Medizinische Virologie der Justus-Liebig-Universität in Gießen bestätigte. Mittlerweile ist auch die zweite Generation von Bluttests im Einsatz. Eine großangelegte Untersuchung an 200000 deutschen Blutspendern belegt, daß die unvermeidlichen Lücken weiter geschlossen wurden.

Ein anderes Problem rückt jetzt in den Mittelpunkt des Interesses: HCV ist nämlich auch für viele Leberleiden verantwortlich, die nicht durch Blut oder Blutprodukte übertragen werden – es sind also noch nicht alle Übertragungswege bekannt. Weltweit dürfte HCV eine der wichtigsten Ursachen von Leberkrebs sein, mutmaßte Hoechst-Vorstandschef Wolfgang Hilger in seiner Laudatio bei der Preis-Verleihung. Für Bradley und Houghton ist die Arbeit deshalb noch lange nicht zu Ende: Sie haben inzwischen mit der Entwicklung eines Impfstoffes gegen den noch immer unsichtbaren Erreger begonnen.

(erschienen in der Süddeutschen Zeitung am 2. Dezember 1993)

Parvoviren – Verbündete gegen Krebs?

Die Verbündeten von Jörg Schlehofer sind alles andere als groß. Rund fünf Millionen Parvoviren müßte man aneinanderreihen, um auf eine Strecke von nur einem Zentimeter zu kommen. Selbst unter dem Elektronenmikroskop sind die Winzlinge nur als kleine graue Pünktchen zu erkennen.

Dennoch hoffen Schlehofer und sein belgischer Kollege Jean Rommelaere darauf, Parvoviren als hochpräzise Werkzeuge für die Krebstherapie zu nutzen. Immerhin schädigen die Parasiten unter den hunderten verschiedener Zelltypen des Menschen fast ausschließlich jene Irrläufer, die in Form von Tumoren und Metastasen das Leben der Patienten bedrohen.

In gesunden Zellen können sich die Zellpiraten dagegen nicht vermehren. Mit Tierversuchen an Hamstern und Nacktmäusen konnten die Wissenschaftler am Forschungsschwerpunkt Angewandte Tumorvirologie außerdem zeigen, daß Tumorzellen gegenüber einer Bestrahlung empfindlicher reagieren, wenn sie zuvor mit Parvoviren infiziert wurden.

„Das interessiert natürlich die Strahlentherapeuten sehr“, sagt Schlehofer, für den Internationale Zusammenarbeit mehr ist als nur ein Schlagwort: Die zurückliegenden Monate hat der DKFZ-Angestellte größtenteils am Pasteur-Institut im französischen Lille verbracht. Gleichzeitig pflegt er die Verbindungen zur Radiologischen Universitätsklinik Heidelberg, wo das Konzept schon bald auch an den ersten Krebspatienten erprobt werden soll.

Zuvor gilt es allerdings, mögliche Risiken auszuschließen. „Kann das Virus, mit dem wir hier arbeiten, wirklich keine Krankheiten beim Menschen auslösen?“, lautet die Frage, die für Schlehofer im Mittelpunkt steht. Außerdem wird überprüft, ob Parvoviren vielleicht sogar gesunde Menschen vor Krebs schützen können. Beim Gebärmutterhalskrebs deutet jedenfalls alles darauf hin, „daß die Patientinnen sich seltener mit dem Virus auseinandergesetzt haben, als die Normalbevölkerung“.

Weltweit beginnt man zu erkennen, daß Viren mehr sind als Krankheitserreger und lästige Parasiten. Als Lastenträger für Therapiegene könnten sie in jene Winkel des Körpers vordringen, die für das Skalpell des Chirurgen unerreichbar sind. Selbst Tumoren des Gehirns haben amerikanische Forscher mit Hilfe solcher Gen-Taxis schon attackiert. Auch wenn der Ausgang dieses Experiments noch ungewiß ist, stehen die Chancen gut, daß den Ärzten schon bald ein neues „Instrument“ zur Verfügung steht, an dessen Einsatz noch vor zehn Jahren allenfalls Science-Fiction Autoren zu denken wagten.

(erschienen in Ausgabe 3/4 1993 des „einblick“, der Zeitschrift des Deutschen Krebsforschungszentrums)