Fehlendes Wissen, fehlende Daten und fehlende Zeit sind die größten Hindernisse für unsere Ärzte, wenn es darum geht, immer wieder die bestmögliche Behandlung für jeden einzelnen Patienten zu ermitteln. Diese Erfahrung ist für Professor Gerhard Riecker, Direktor der Medizinischen Klinik I am Münchner Klinikum Großhadern Anlaß, die Medizin als „Kunst im Umgang mit unsicherem Wissen“ zu definieren.

Zusammen mit einer wachsenden Zahl von Kollegen beschäftigt sich Riecker mit der Frage, wie Ärzte zu ihren Entscheidungen gelangen, von denen Wohl und Wehe, manchmal auch Leben und Tod ihrer Patienten abhängen. Keine Bibliothek der Welt ist heute groß genug, um die gesammelten Weisheiten der Medizin auch nur zu lagern, die seit Hippokrates durch Heerscharen fleißiger Forscher zusammengetragen wurden. Über 30000 verschiedene Fachzeitschriften konkurrieren um die Aufmerksamkeit der Heilkundigen; Riecker schätzt, daß das verfügbare Wissen in der Medizin etwa alle zehn Jahre um die Hälfte zunimmt.

Natürlich muß nicht für jeden Patienten das gesamte medizinische Wissen der Neuzeit durchforstet werden. Bei einem erfahrenen Arzt genügen die sorgfältige Erhebung der Krankheitsgeschichte (Anamnese) und die Resultate der Eingangsuntersuchung, um in 60 bis 90 Prozent aller Fälle die richtige Diagnose zu stellen, so Riecker. Dabei spielen die Beurteilung und Verknüpfung der beobachteten Krankheitszeichen (Symptome) die entscheidende Rolle. Einzelne Daten wie Alter und Geschlecht des Patienten, die Häufung bestimmter Krankheiten in der Familie, die Einnahme von Arzneimitteln, Hinweise auf äußere Umstände wie verdorbene Lebensmittel oder eine umgehende Grippewelle bilden einige der Mosaiksteinchen, die im Idealfall durch den Scharfsinn des Mediziners zu einem umfassenden und eindeutigen Krankheitsbild ergänzt werden.

Im Vordergrund steht derzeit noch immer die Intuition des Arztes, die Fähigkeit, etwas zu verstehen, noch bevor alle Details bewußt wahrgenommen werden. Besonders gefragt ist diese Tugend in der Notfallambulanz, wo jede Sekunde zählt, um beispielsweise Verkehrsopfern mit inneren Verletzungen das Leben zu retten. Wie aber erwirbt man den klinischen Scharfsinn und was kann getan werden, um fatale Fehlentscheidungen zu verhindern?

Dieser Frage widmet sich an der Universität Marburg Professor Wilfried Lorenz, Leiter des Institutes für Theoretische Chirurgie. Er berichtete über eine Fallstudie an fünf Oberärzten. Intuition, so stellte sich dabei heraus, kann durchaus ein zweischneidiges Schwert sein. „Vier der fünf Ärzte stellten exzellente Diagnosen aus dem Bauch heraus. Einer aber lag bei 38 Prozent Richtigkeit.“ – Eine erschreckend niedrige Quote, die laut Lorenz zeigt, welche Vorteile für den Patienten von einer objektivierten Entscheidungsfindung zu erwarten sind.

In Zusammenarbeit mit der Allgemeinchirurgie versucht man deshalb in Marburg schon seit gut 20 Jahren, die Entscheidungsfindung der Kollegen durch neue Konzepte, Methoden und Strukturen zu erleichtern. Denn „großes technisches Vermögen in der Chirurgie ist zwar eine Notwendigkeit, aber nicht alles.“ Dem begegnete man in Marburg durch die Schaffung von kleinen Arbeitsgruppen, in denen theoretische und praktische Chirurgen, Studenten und technisches Personal wenigstens einmal pro Woche zusammentreffen, um die verschiedenen Methoden der Entscheidungsfindung auf aktuelle Probleme anzuwenden.

So ging es in einer Arbeitsgruppe um das relativ häufige Zwölffingerdarmgeschwür, für das mehrere Möglichkeiten der Behandlung zur Verfügung stehen: Läßt man den Dingen ihren natürlichen Lauf, so wird das Geschwür bei einigen Patienten von selbst ausheilen, bei der Mehrzahl der Kranken wird es wiederkehren, ohne großen Schaden anzurichten. Die Statistik verrät aber auch, daß es bei jedem sechsten unbehandelten Patienten zu Komplikationen kommen wird; jeder Zehnte aus dieser Gruppe bezahlt sie schließlich mit seinem Leben.

Verabreicht der Arzt Medikamente, so muß zwar mit Nebenwirkungen gerechnet werden, jeder zweite Kranke wird aber im ersten Anlauf vollständig geheilt. Die Sterblichkeit ist natürlich geringer als bei den unbehandelten Patienten, beträgt aber immer noch ein Prozent. Noch etwas besser schneidet die dritte Möglichkeit ab: Ein operativer Eingriff, bei dem verschiedene Abzweigungen des Eingeweidenervs gekappt werden. Allerdings ist die Operation selbst mit einem nicht unerheblichen Risiko verbunden, dem auch solche Patienten ausgesetzt wären, die womöglich ohne weiteres Zutun gesundet wären.

All diese Möglichkeiten werden nun in einem Entscheidungsbaum skizziert, einem Diagramm, das ausgehend von der Diagnose „Zwölffingerdarmgeschür“ sich immer weiter verzweigt bis zu einem vorgegebenen Endpunkt – in diesem Fall die Frage, ob die Patienten fünf Jahre nach Behandlungsbeginn noch am Leben sind. Die Entscheidung, einen bestimmten Weg zu gehen, ergibt sich dann nicht nur aus den unmittelbaren Folgen einer Entscheidung, sondern auch aus den Folgen der Folgen, die auf der Grundlage der Statistik in Zahlen gefaßt werden können.

Während früher als Endpunkt der Behandlung oft nur die zwei Extreme „Leben“ oder „Tod“ unterschieden wurden, versuchen neuere Modelle auch andere Aspekte zu berücksichtigen. So rückt bei der Behandlung von Krebspatienten die Lebensqualität immer mehr in den Mittelpunkt. Lorenz nennt als Beispiel Erkrankungen des Enddarms, bei denen durch eine radikale Operation die Schaffung eines künstlichen Darmausganges notwendig wird. „Wir haben bisher immer geglaubt, daß dies für einen Patienten das Schlimmste ist und wir haben deshalb alles versucht, Operationsverfahren zu entwickeln, um diesen Schritt zu vermeiden.“

Der Nachteil bestand darin, daß durch diese Haltung das Risiko wuchs, den Krebsherd nur unvollständig zu beseitigen, was tödliche Folgen haben kann. „Unsere Lebensqualitätsforschung hat nun ergeben, daß auch ältere Patienten den künstlichen Darmausgang oft gut vertragen. Das Gefühl, ´es ist alles ´raus´ hat die Lebensqualität dieser Menschen unglaublich positiv beeinflußt“, schildert Lorenz das überraschende Ergebnis.

Inzwischen wird die Theoretische Chirurgie in Deutschland an sechs Kliniken betrieben und kann sich im internationalen Vergleich durchaus sehen lassen. Ihre Resultate erreichen nach Schätzung von Lorenz etwa die Hälfte der Chirurgen. Wenig systematische Entscheidungsfindung wird dagegen in den Praxen niedergelassener Ärzte betrieben, wo die weitaus meisten Patienten behandelt werden. Ein „Riesendefizit“ sieht Lorenz auch in der Inneren Medizin. „Die muß das dringendst einführen; sie ist viel zu sehr biomedizinisch ausgerichtet“.

Der Einsatz von Computern zur Diagnose von Krankheiten steckt ebenfalls noch in den Kinderschuhen. Eine Deutung der vorliegenden Daten durch die Rechenknechte „liefert keine gewünschte Zusatzinformation, sondern bedroht scheinbar die geistige Leistung des Arztes“, erklärt Dr. Christian Ohmann von der Abteilung Theoretische Chirurgie der Chirurgischen Klinik der Düsseldorfer Heinrich-Heine-Universität.

Der theoretische Mediziner hat angesichts der oft umständlichen und zeitraubenden Bedienung der Geräte Verständnis für diese Haltung, verweist aber dennoch auf mehrere Systeme, deren Nutzen eindeutig nachgewiesen ist. „Die Einführung der computerunterstützten Diagnose bei akuten Bauchschmerzen hat zu einer erheblichen Reduktion diagnostischer und therapeutischer Fehler geführt.“ An acht englischen Kliniken konnte die Trefferquote bei der Ermittlung der Krankheitsursache von 57 auf 74 Prozent erhöht werden, gleichzeitig sank die Zahl der Eingriffe, bei denen die Bauchdecke unnötigerweise eröffnet wurde, von 25 auf 10 Prozent. Auch bei der Beurteilung von Brustschmerzen kann Kollege Computer Erfolge vorweisen: Durch Analyse der Beschwerden und des Elektrokardiogramms gelang es, die Zahl der Patienten, die ins Krankenhaus aufgenommen werden mußten, um fast ein Drittel zu senken, ohne daß dabei ernsthaft kranke Menschen übersehen wurden.

Neben diesen beiden Ausnahmen sei der Einsatz computerunterstützter Diagnosemodelle gegenwärtig aber weder für die Routinearbeit noch für die Aus- und Weiterbildung der Ärzte zu empfehlen, meint Ohmann. Der Grund für die Zurückhaltung liegt vor allem darin, daß die bestehenden Systeme bisher nicht ausreichend getestet wurden. Riecker ist dagegen optimistisch, daß Computer schon in fünf Jahren fast flächendeckend an der Entscheidungsfindung beteiligt werden. Ein Expertensystem für die Diagnose von Herz-Rhythmus-Störungen soll Ende des Jahres fertig sein und mit Unterstützung des Heidelberger Springer-Verlages als preiswertes und benutzerfreundliches PC-Programm vertrieben werden. Als weitere Fachrichtungen, auf denen der Computer sich als besonders hilfreich erweisen könnte, nennt der Mediziner Endokrinologie, Neurologie, Intensivmedizin, klinische Chemie und Vergiftungen.

Auch Riecker räumt ein, daß sich vor allem ältere Kollegen mit der Akzeptanz derartiger Systeme schwertun. „Die ältere Generation meidet das wie der Teufel, bei denen ist es ja schon verpönt, in Anwesenheit des Patienten in das Lehrbuch zu schauen. Aber unsere jüngeren Assistenten sind regelrechte Computerfreaks – da kann man nur staunen.“ Durch den stattfindenden Generationswechsel werde sich die rechnergestützte Entscheidungsfindung schnell durchsetzen. Die von Experten in Zusammenarbeit mit Informatikern erstellten Programme ließen sich auch schneller an aktuelle Entwicklungen anpassen; ein „Upgrade“ der entsprechenden Disketten könnte bei entsprechend großer Verbreitung etwa alle ein bis zwei Jahre für „rund 50 Mark“ geliefert werden, meint Riecker.

Im Gegensatz zum Rat eines Computers werden die Empfehlungen sogenannter Konsensuskonferenzen von allen Medizinern anerkannt. Dabei kommen Experten aus verschiedenen Teilgebieten der Medizin zusammen mit dem Ziel, ein Standardprotokoll zur Behandlung einer Krankheit zu entwickeln. Den größten Einfluß auf das Urteil dieser Experten haben in der Regel klinische Studien, die nach sehr strengen Regeln an einer großen Zahl von Patienten und gleichzeitig an mehreren Orten durchgeführt werden. Geht es zum Beispiel um den Vergleich zweier Medikamente, die den Bluthochdruck bekämpfen sollen, wird Verteilung und Verpackung der fraglichen Pillen so organisiert, daß weder die Patienten noch die behandelnden Ärzte wissen, wer welche Arznei erhält. Um eine Verfälschung der Resultate durch persönliche Meinungen und Erwartungen zu verhindern, werden diese Informationen bis zum Abschluß der Studie in einem geschlossenen Umschlag hinterlegt.

Erst dann wird kontrolliert, welches der beiden Medikamente den Blutdruck wie stark gesenkt hat, in welchem Zeitraum dies geschehen ist und welche Nebenwirkungen dabei auftraten. Natürlich werden diese Studien auch in den entsprechenden Fachzeitschriften veröffentlicht, doch dringt die Neuigkeit schneller zu den niedergelassenen Ärzten vor, wenn sie in Form von Leitlinien und Empfehlungen einer Konsensuskonferenz gefaßt wird. Unbestritten ist, daß Expertensysteme und Entscheidungsbäume, Lebensqualitätsanalysen und Konsensuskonferenzen dazu beitragen können, die Heilungschancen für den Patienten zu erhöhen. Sicher ist aber auch, daß trotz aller Entscheidungshilfen die Verantwortung für jeden Entschluß auch in Zukunft ganz allein auf den Schultern des behandelnden Arztes lastet.

(in gekürzter Form erschienen in der Süddeutschen Zeitung am 9. Dezember 1993)