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Balance-Akt der Hormone

Die Liste der Beschwerden ist lang: Hit­zewallungen und Herzklopfen, Schweiß­ausbrüche und Schlafstörungen, Kopf­schmerzen und Reizbarkeit zählen noch zu den harmloseren Problemen. Doch damit nicht genug. Wie eine schlecht gelaunte Di­va scheint die Natur ihre schützende Hand zurückzuziehen, kaum daß die weibliche Hälfte der Menschheit ihren Beitrag zur Arterhaltung geleistet hat: Knochenschwund und ein erhöhtes Risiko für Herz-Kreislauferkrankungen begleiten die radikale Umstellung des Hormon­haushaltes, die sich hinter dem Wörtchen „Menopause“ ver­birgt.

„Das ist ein riesengroßes Gesundheits­problem“, erklärt Dr. Ursula-Friederike Habenicht. Ein Problem, mit dem sich die Reproduktionsbiologin nicht ein­fach abfinden will. „Ich empfände es als verantwortungslos, untätig zu bleiben, wenn ich Leiden verhindern kann“,  lautet ihre Kampfansage. Für diejenigen, die beispielsweise wegen einer Osteoporose einen Oberschenkel­halsbruch oder eine Wirbelfraktur mit all ihren Folgen erdulden müssen sei der Hinweis auf den „natürlichen Lauf der Dinge“ wenig trostreich. In der Forschungsabteilung Fertilitätskontrolle und Hormontherapie der Schering AG leistet Dr. Habenicht deshalb in dop­peltem Sinne Knochenarbeit.

An den nur scheinbar toten Knochen nämlich hinterläßt der mit der Meno­pause verbundene Rückgang an Sexualhormonen deutliche Spuren. Nach dieser letzten, vom Eierstock gesteuerten, Regelblutung wird die Produktion von Östrogen eingestellt. Dadurch beschleunigt sich der Abbau der Knochen­substanz, der schon nach dem 30 Lebensjahr einsetzt: „Jede vierte Frau jen­seits der Wechseljahre leidet unter Osteopo­rose. Mir kommt es vor allem darauf an, diesen Frauen eine Therapie anzubieten“, betont der Dr. Matthias Bräutigam. Die Suche nach neuen Ansätzen im Kampf gegen den Knochen­schwund hat für den Abteilungsleiter deshalb höchste Priorität.

Zwar läßt sich der Abbauprozeß durch die tägliche Einnahme östrogenhaltiger Arzneimittel verlangsamen, doch wächst bei alleiniger Gabe des Hormons das Risiko für eine Krebserkrankung der Gebärmutterschleim­haut. Ein zweites Hormon aus der Familie der Gestagene sorgt daher in modernen Präparaten für den Schutz der gefährdeten Zellen und macht das zweischneidige Schwert Östrogen zu einer potenten Waffe gegen den Knochenabbau. Doch auch die bisher gebräuchlichen Kombinationen aus Östrogen und Gestagenen bieten keine per­fekte Lösung: Über Jahre hinweg kann es zu monatlichen „Entzugsblutungen“ kom­men, die von vielen Frauen nicht akzeptiert werden. Wenn sich auch diese Nebenwir­kung noch durch die Aus­wahl und ge­schickte Kombination verschie­dener Bo­tenstoffe vermeiden ließe, wäre das größte Hindernis für eine breite An­wendung der Hormoner­satztherapie über­wunden.

Doch bis dahin ist es noch ein langer Weg. „Selbst bei den ´klassischen´ Hormo­nen, den Östrogenen, weiß man bis heute nicht genau, wo sie am Knochen angreifen, was sie da tun und wie sie das Zusammen­spiel der Zellen beeinflußen“, stellt Dr. Ha­benicht nüchtern fest. Neu ins Spiel kom­men jetzt zusätzlich die Gestagene. Hier gibt es Hinweise, daß sie den Knochen womöglich auch alleine schützen können. Die verwirrende Vielfalt dieser Substanz­klasse erschwert die Suche der zehnköpfi­gen Arbeitsgruppe in der Berliner Zentrale der Schering AG allerdings beträchtlich. „Knochenversuche bedeuten Knochenarbeit und man muß viel Geduld mitbringen.“

Dr. Habenicht weiß, wovon sie redet, denn kaum ein Experiment in ihrem Labor nimmt weniger als drei Monate in An­spruch. An weiblichen Ratten muß zunächst die Zufuhr an schützenden Geschlechts­hormonen unterbro­chen und so ein Verlust der Knochenmasse eingeleitet werden. Dies geschieht durch die operative Entfernung der Gebärmutter. Anschließend werden den Tieren verschiedene Testsubstanzen gespritzt – je nach Versuch meist eines der vielen Gesta­gene mit oder ohne Östrogen, wobei zu­sätzlich noch die Konzentrationen der Hormone variiert werden.

Erste Anhaltspunkte, daß mit dem Kno­chen überhaupt etwas passiert, finden sich auch mit den modernsten Untersuchungs­methoden frühestens nach 14 Tagen. Nach zwei weiteren Wochen sind die Verände­rungen zwar ausreichend für eine erste vor­sichtige Bewertung, sichtbar werden sie aber erst nach einer aufwendigen „Zubereitung“ des Knochens. Erneut ver­streicht ein Monat, bis unter dem Einfluß von Farbstoffen und Fixiermitteln die Hauptdarsteller ihre Masken fallen lassen: Osteoblasten, verantwortlich für den Auf­bau des Knochens, heben sich jetzt deutlich von ihren Gegenspielern, den Osteoklasten ab. Wie auf dem Luftbild einer Großstadt kann das Auge des Experten Neubaugebiete von Abrißregionen unterscheiden, wenn der präparierte Knochen erst einmal in hauch­dünnen Scheibchen unter dem Mikroskop liegt.

Doch damit nicht genug. Um aus den bunten Bildern harte Daten zu extra­hieren, muß das Gesehene auch noch genau ver­messen werden. Erst wenn  – ein Vierteljahr nach Beginn des Experimentes – die nackten Zahlenkolonnen vorliegen, wird klar, ob die geteste Hormonkombination wirklich einen Vor­teil gegenüber den bekannten Mi­schung­en verspricht.

Ergänzt werden die histologischen Arbei­ten seit kurzem auch durch moleku­larbiolo­gische Methoden und Beobachtungen an Zellkulturen. So weiß man, daß die Östro­gene ihrerseits bestimmte Botenstoffe wie Interleukin-1 kontrollieren können, mögli­cherweise auch den Tumor Nekrose Faktor TNF-. Das aus Biologen, Medizinern und Pharmakologen zusammengesetzte Sche­ring-Team ist dieser Spur nachgegangen und hat versucht, die Effekte der Östrogene durch Antikörper und Rezeptorenblocker nachzuahmen. „Es ist uns gelungen, weiter hinten in der Befehlskaskade einzugreifen“, vermeldet Bräutigam. Der Pharmakologe ist allerdings skeptisch, ob sich aus diesem Fortschritt eine Therapie entwickeln läßt, denn eine langjährige Behandlung mit den getesteten Molekülen würde sich vermutlich auch auf das menschliche Immunsystem auswirken.

Immer wieder tun sich vor den Wissen­schaftlern Abgründe der Ahnungslo­sigkeit auf. „Ein Knochen ist ein enorm kompli­zier­tes Organ. Wir sind dabei, kleine Stein­chen des Mosaiks zu sammeln, aber wir ha­ben das komplette Bild noch nicht zu­sam­men“, lautet die bescheidene Bilanz von Dr. Habenicht, die neben ihrer Laborarbeit als Privatdozentin an der Freien Universität Berlin tätig ist.

Glücklicherweise helfen die meisten Arz­neimittel auch ohne detailierte Kenntnisse über deren Wirkungsmechanismus. Der Gynäkologe Dr. Vladimir Hanes kann dies aus eigener Erfahrung bestätigen. „Es ist überhaupt keine Frage: Östrogen beugt der Osteoporose vor, egal wie es verabreicht wird, sobald eine Konzentration von 30-40 Pikogramm pro Milliliter Serum erreicht wird.“ Als wissenschaftlicher Mitarbeiter der Klinischen Entwick­lung Fertilitätskontrolle und Hormonthera­pie will Hanes diesen handfesten Vorteil ei­ner möglichst großen Anzahl von Frauen zugänglich machen.

Neben all den Schmerzen, die durch vor­beugende Maßnahmen vermieden werden könnten, nennt der gebürtige Slowake auch wirtschaftliche Gründe, die für einen Ersatz der fehlenden Hormone sprechen. So zäh­len Oberschen­kelhals- und Unterarmbrüche, Hüft- und Wirbelfrakturen besonders bei älteren Menschen zu den häufigsten Folgen der Osteoporose. Nach oft wochenlangem Krankenhausaufenthalt wird ein großer Teil dieser Patienten pflegebedürftig – die Ko­sten dafür schlagen weltweit mit jährlich sieben Milliarden Dollar zu Buche. Die Tendenz ist weiter steigend, denn der Anteil an über Sechzigjährigen unter der Gesamt­bevölke­rung wird von gegenwärtig zehn Prozent bis zum Jahr 2020 auf ein Viertel anwachsen.

„Das wichtigste aber ist die Erkenntnis, daß man mit Östradiol und anderen Östro­genen nach der Menopause nicht nur der Osteoporose vorbeugen, sondern auch das Risiko von Herz-Kreislauferkankungen senken kann“, lenkt Hanes das Augenmerk auf eine Reihe großer epidemiologischer Studien. Vor die­ser häufigsten Todesursache überhaupt sind Frauen bis zu den Wechsel­jahren verhält­nismäßig gut geschützt – Infarkte und Schlaganfälle werden weitaus seltener re­gistriert als unter der männlichen Bevölke­rung. Nach der Menopause aber holen die Frauen die Männer ein oder überholen sie sogar.

Und wieder spielen fehlende Östrogene die entscheidende Rolle: Die weiblichen Geschlechtshormone können nämlich die „bösen“ Bluttfette Cholesterol und LDL re­duzieren, den Gehalt an „gutem“ HDL da­gegen erhöhen. Darüber hinaus deuten neueren Untersuchngen auf einen direkten schützenden Effekt der Östrogene auf die Blutgefäße hin. Das Resultat: Frauen, die über mehrere Jahre Östrogene einnehmen, haben um 50 Prozent weniger Infarkte und Schlaganfälle. Auch die Sterb­lichkeit ist gegenüber der Normalbevölke­rung fast um die Hälfte reduziert. „Das ist wirklich toll“ begeistert sich Hanes.

Dennoch gibt es auch Probleme. Die größte Sorge lau­tet, daß die langjäh­rige Einnahme von Östrogen das Brustkrebs-Risiko erhöhen könnte. Aller­dings widersprechen sich die vorliegenden Studien in ihren Aussagen. Gera­dezu paradox scheint das Ergebnis der neuesten und sorgfältigsten Untersu­chungen: Demnach wird Brustkrebs zwar etwas häufiger diagnostiziert bei Frauen die Östrogen erhalten; diese Patientinnen haben aber eine bessere Prognose als ihre Lei­densgenossinen, die kein Östrogen ein­nahmen. Dies mag damit zusammenhängen, daß sich der Brustkrebs bei den östrogenbe­handelten Frauen fast immer als gutartig erweist. Möglicherweise läßt sich das überraschende Resultat aber auch damit erklären, daß die ärztliche Überwa­chung während einer Hormonersatztherapie engmaschiger ist als bei unbe­handelten Frauen – der Brustkrebs würde also gar nicht häufiger auftreten, sondern nur seltener übersehen.

„Unter dem Strich ist der Nutzen einer Hormonersatztherapie so groß, daß man dies fast jeder Frau empfehlen kann“, versi­chert Hanes. Diese Erkennt­nis hat sich je­doch längst noch nicht überall durchgesetzt: Selbst in den Vereinigten Staaten, wo offener über die Wechseljahre und ihre Folgen gespro­chen wird, als in den meisten anderen Län­dern, nehmen lediglich 15 Prozent der me­nopausalen Frauen den Schutz der Hormo­ne in Anspruch. Im Vor­dergrund steht da­bei die kurzfristige Be­handlung klimakteri­scher Symptome wie Hitzewallungen und Reizbarkeit mit Östrogenen.

Noch weitaus seltener verschreiben euro­päische Ärzte ihren Patientinnen eine Hor­monersatztherapie. In südlichen Ländern oder auch in Japan werden Klimakteriums­beschwerden kaum als behandlungsbedürf­tig angesehen. Wer unter diesen Umständen einer langjährigen Prävention durch die täg­liche Einnahme eines Hormonpräparates das Wort reden will, muß schon eine be­sondere Überzeugungskraft mitbringen. Oder ein Medikament ohne Nebenwir­kungen.

Langsam tastet man sich bei Schering an dieses Ziel heran. Von seinem Büro im 9. Stock der Berliner Zentrale bewahrt Hanes den dafür nötigen Überblick. Der ständige Strom der Daten aus den unter ihm liegen­den Labo­ratorien soll schließlich möglichst vielen Frauen zugute kommen. Klinische Prüfungen in Zusammenarbeit mit deutschen und britischen Universitäten werden von hier aus geplant und koordiniert.

Die Fortschritte sind beachtlich. Präparate wie das auf dem deutschen Markt erhältli­che „Climen“ bie­ten schon heute Schutz vor Knochenabbau, Herzinfarkt und Schlaganfall und verhin­dern dabei gleichzeitig Wucherungen der Gebärmutterschleimhaut. Erreicht wird dies durch die feine Balance zwischen einem Östrogen (Estradiolvalerat) und einem Ges­tagen (Cyproteronacetat). Bei die­ser „sequentiellen“ Darreichungsform ent­halten die Pillen in den ersten elf  Tagen des Monats ausschließlich Östrogen; für zehn weitere Tage kommt dann noch das Gestagen hinzu; schließlich folgt eine einwöchige Pause.

Als störend werden jedoch besonders von älteren Frauen die monatlichen Entzugsblu­tungen empfunden, mit denen unter dieser Behandlung in vier von fünf Fällen gerechnet werden muß. Dies mag gegenüber dem beträchtlichen Nutzen der Hormonsubstitution als geringfügiges Manko erscheinen, zeigt aber gleichzeitig den Weg für weitere Verbesserungen. Neuere Untersuchungen weisen darauf hin, daß die als lästig empfundenen Blutungen in etwa 75 Prozent aller Fälle gänzlich vermieden werden könnten, wenn die Einnahme der Hormone in einen anderen „Rhythmus“ erfolgt. Im Gespräch ist deshalb die „kontinuierlich-kombinierte“ Einnahme, bei der Östrogen und eine minimale Menge Gestagen täglich in einer Pille geschluckt werden.

Doch selbst damit will Hanes sich nicht zufrieden geben: „Erst wenn wir ein Präpa­rat haben, das die Blutungen bei gleicher Wirksamkeit und Sicherheit 100-prozentig verhindert, ist das Optimum erreicht.“ Zu einem neuen Hoffnungsträger scheinen sich die Anti-Gestagene zu entwicklen. Die von findigen Chemikern synthetisierten Sub­stanzen konkurrieren mit ihren natür­lichen Verwandten – den Gestagenen – nicht nur um die gleichen Bindungs­stellen auf der Zelloberfläche. Sie scheinen außerdem auch selbst in die Rolle eines Rezeptors schlüpfen zu können. Die Erfindung der Anti-Gesta­gene habe „eine wahre Revolution auf dem Ge­biet der Endokrinologie“ ausgelöst, be­geistert sich Hanes. Ständig werden neue Wirkungen dieser Laborprodukte auf das komplizierte Geflecht hormoneller Befehls­ketten entdeckt. Erprobt werden die Anti-Gestagene derzeit gegen den Brustkrebs und gegen die als Myome bekannten, gutar­tigen Geschwülste der Gebärmutter, die be­vor­zugt um die Menopause eintreten. Weil Substanzen wie das bei Schering entwic­kelte Onapriston auch den Gebärmutterhals erweitern können, besteht außer­dem eine gute Chance, die Komplikationsrate bei schwierigen Gebur­ten zu senken und gleichzeitig die Schmer­zen werdender Mütter ohne Angst vor Nebenwirkungen zu lindern. Prinzipiell können Anti-Gestagene aber auch dazu genutzt werden, einen früh­zeitigen Schwangerschaftsabbruch herbei­zu­führen. Hanes legt deshalb großen Wert auf die Feststellung, daß Schering diese Forschungsrichtung nicht unterstützt.

Statt dessen geht man lieber der Frage nach, wie sich jener Ba­lanceakt der Hor­mone noch perfekter gestalten läßt, von dem die Lebensqualität postme­nopausaler Frauen in entscheidender Weise beeinflußt wird. In vier bis fünf Jahren, so rechnet Hanes, wird sich zeigen, ob das Zusammen­spiel der vielversprechen­den Newcomer mit den altbewährten Östrogenen endlich den ersehnten Durch­bruch bringt. Für Frauen jenseits der Wech­seljahre bestünde dann die Möglichkeit, den Launen der Natur ein Schnippchen zu schlagen. Unter dem Schutz einer Hormonersatztherapie ohne Nebenwirkungen hätten sie einen Grund mehr, auch das Lebensdrittel nach der Me­nopause in vollen Zügen zu genießen.

(Entwurf für einen Beitrag, der in redigierter Form im Schering Forschungsmagazin 1994 erschienen ist.)

Keuchhusten: Angst verhindert Impfung

Jedes Jahr sterben in Deutschland bis zu 100 Kinder und Säuglinge an Keuchhusten. Sie sterben umsonst, denn schon heute gibt es einen Impfstoff, der vor dem Erreger der Krankheit, dem Bakterium Bordetella pertussis schützt. „Die Todesrate wird auf Null, maximal aber zwei oder drei Kinder sinken, wenn eine flächendeckende Impfung in Deutschland Realität wird“, erklärte der an der Mainzer Universitätsklinik tätige Kinderarzt Heinz-J. Schmitt.

Die kühne Prognose wird gestützt durch einen Blick ins benachbarte Ausland: In Dänemark, Frankreich, den Niederlanden und  Großbritanien wo zwischen 90 und 98 Prozent der Bevölkerung geimpft wurden, sind die jährlichen Todesfälle an einer Hand abzuzählen. Auch in der ehemaligen DDR, wo bis zum Mauerfall nur wenige Risikogruppen von der Impfpflicht ausgenommen waren, hatte man die Gefahr durch die bodenlebenden Bakterien gebannt.

Selbst in vielen afrikanischen und südamerikanischen Entwicklungländern sind die Menschen besser geschützt als in der drittmächtigsten Wirtschaftsnation der Welt. Hier steht jeder dritte Einwohner der äußerst ansteckenden Krankheit schutzlos gegenüber.

Eine Erklärung für diese erschreckenden Zustände lieferten Mediziner, Mikrobiologen und Impfstoffhersteller am vergangenen Wochenende auf einem Presse-Workshop der Firma SmithKline Beecham in Salzburg: Alarmiert von Meldungen über schwere Nebenwirkungen der Keuchhusten-Impfung hatte die Ständige Impfkommission (Stiko) des Berliner Bundesgesundheitsamtes 1975 ihre Empfehlung zurückgezogen, alle Kinder und Jugendlichen nicht nur gegen Diphterie und Tetanus, sondern gleichzeitig auch gegen Keuchhusten impfen zu lassen.

Drei wissenschaftliche Publikation hatten unabhängig voneinander den Schluß nahegelegt, daß maximal eines unter 20000 Kindern nach der Dreifach-impfung bleibende Hirnschäden entwickeln könnte „Für eine vorbeugende Maßnahme erschien mir das zuviel“ erklärte jetzt das Stiko-Mitglied Heinz Spiess von der Kinderpoliklinik München. Ohne die „öffentliche Empfehlung“ aber verlieren Geschädigte im Falle eines nachgewiesenen Impfschadens ihren Versorgungsanspruch gegenüber dem Staat. Mit entsprechender Zurückhaltung reagierten denn auch die Kinderärzte.

Erst 1990 stand für die Stiko unumstößlich fest, daß die beobachteten Hirnschäden mit der Impfung nichts zu tun hatten, sondern auf verschiedene Stoffwechselerkrankungen zurückgingen. Seit 1991 wird die Keuchhusten-Impfung wieder für alle Kinder und Säuglinge empfohlen. Die entstandene Impflücke und die Furcht vor etwaigen Nebenwirkungen aber sind geblieben. Die in Salzburg versammelten Experten waren sich darin einig, daß daran nicht nur der falsche Alarm in den siebziger Jahren schuld ist, sondern auch der bisher gebräuchliche Impfstoff selbst.

Dieser besteht nämlich aus kompletten, abgetöteten Bakterien und mehreren Hilfsstoffen, die es dem menschlichen Immunsystem erleichtern sollen, beim „Wiedersehen“ mit lebenden Erregern deren entscheidende Merkmale zu erkennen und sie unschädlich zu machen. Alle Bestandteile zusammen verursachen bei neun von zehn Kindern Schmerzen an der Infektionsstelle und Fieber; Schwellungen und Rötungen werden fast bei fast jedem zweiten Fall beobachtet.

Neben diesen, in geringer Häufigkeit bei allen Impfungen auftretenden Unannehmlichkeiten, kann es in seltenen Fällen auch zu Krämpfen kommen und – für Mütter und Ärzte gleichermaßen irritierend – zu stundenlangem Schreien der Säuglinge. Trotzdem stehen diese und andere extrem seltene Nebenwirkungen in keinem Verhältnis zu den Folgen einer Infektion. Ein bis drei Wochen nachdem sich die Mikroben in den Schleimhäuten der Atemwege festgesetzt haben, führen die abgesonderten Gifte zu staccatoartigen Hustenanfällen mit schwerer Atemnot. Manchmal zwei Monate lang müssen die kleinen Patienten täglich bis zu 30 solcher Anfälle erdulden. Lungenentzündungen, innere Blutungen und eine Vielzahl weiterer Komplikationen führen dann etwa in jedem tausendsten Fall zum Tode.

Da selbst diese Gefahren allzuoft auf die leichte Schulter genommen werden, hofft der Keuchhusten-Experte Schmitt jetzt auf einen verbesserten Impfstoff, der nicht mehr aus ganzen Bakterien sondern nur noch aus drei hochgereinigten Eiweißen besteht. Dieser „azelluläre“ Pertussis-Impfstoff hat, wie Versuche in Japan, Schweden und den USA gezeigt haben, nur einen Bruchteil der Nebenwirkungen im Vergleich zur herkömmlichen Vakzine und schützt mindestens genauso gut.

Die Daten aus einer deutschen Studie, bei der innerhalb der letzten zwei Jahre rund 15000 Säuglinge geimpft wurden, werden Mitte des nächsten Jahres vorliegen und dann, so hofft Schmitt, eine schnelle Zulassung ermöglichen. Blut oder Blutprodukte, so stellte Hugues Bogaerts im Namen der Herstellerfirma klar, seien weder im alten, noch im neuen Impfstoff enthalten.

(erschienen in der Süddeutschen Zeitung am 16. Dezember 1993)

Quelle: Presse-Workshop Salzburg, 10. – 12.12.1993, besucht auf Einladung der Firma SmithKline Beecham)

Neue Arzneien gegen die Depression

In den 1990er Jahren wurde ich häufig von meinen Kunden auf medizinische Fachkonferenzen geschickt, einschließlich sogenannter Satellitensymposien, die dort von den Herstellern neuer Medikamente veranstaltet wurden. Dabei traten reihenweise mehr oder weniger renommierte Ärzte auf, die – natürlich gegen Honorar – ihre Argumente für die neuen und gegen die alten Präparate vortrugen. Die Kosten der Journalisten für die Anreise und Unterbringung wurden in aller Regel ebenfalls von der Pharmaindustrie übernommen, was natürlich Zweifel an der Glaubwürdigkeit dieser Veranstaltungen weckt. Doch ganz so einfach ist es nicht, denn auch Satellitensymposien bieten oftmals hochwertige Informationen, wie das folgende Beispiel zeigt:

Trizyklische Antidepressiva (TCA) werden bei schweren Gemütskrankheiten noch immer häufiger verschrieben als Monoaminooxidase-Hemmer und die recht neue Klasse der selektiven Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer (SSRI) zusammen. Zwar gibt es keine Beweise für eine bessere Wirksamkeit der neuen Präparate gegenüber den „klassischen“ TCA; in puncto Sicherheit und Verträglichkeit ergeben sich jedoch deutliche Unterschiede zwischen den verschiedenen Medikamenten-Klassen. Die Frage, inwieweit diese Unterschiede neue Standards bei der Therapie von Depressionen rechtfertigen, stand im Mittelpunkt eines Satelliten-Symposiums der Firma SmithKline Beecham während des 6. Kongresses des European College of Neuropsychopharmacology in Budapest.

Als großen pharmakologischen Vorteil der SSRIs benannte Professor Yves Lecrubier vom Pariser Hôpital de la Salpêtrière deren niedrige Affinität für α- und ß-adrenerge Rezeptoren. Paroxetin, Fluvoxamin, Fluoxetin und das in Deutschland noch nicht zugelassene Sertralin hätten deshalb keine kardiovaskulären Wirkungen, was zur Sicherheit beitrage. Die ebenfalls geringe Affinität für muskarinische Rezeptoren verhindere ebenso wie die fehlenden Wechselwirkungen mit histaminischen Rezeptoren eine Beeinträchtigung der geistigen Leistungsfähigkeit. „Die Akzeptanz der SSRIs in den meisten Ländern beruht wahrscheinlich nicht auf deren Wirksamkeit, sondern auf dem günstigen Nebenwirkungsprofil“, mutmaßte Lecrubier. Die neuen Antidepressiva schienen ihm zwar gleichermaßen wirksam wie die älteren Substanzen, es fehle aber noch der Nachweis, daß Subpopulationen depressiver Patienten unter kurzfristiger Therapie mit SSRIs oder den neueren MOA-Hemmern besser ansprechen würden.

Zur oftmals postulierten „vergleichbaren Wirksamkeit“ von selektiven Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmern mit trizyklischen Antidepressiva wurden auf einer begleitenden Presseveranstaltung neue Daten präsentiert. So berichtete der niedergelassene Arzt Dr. Peter Stott aus dem britischen Tadworth über eine Studie Paroxetin (täglich 20 Milligramm) versus Amitriptylin (täglich 75 Milligramm) an über 500 Patienten im Alter von 18 bis 65 Jahren. Alle Probanden hatten zu Beginn der Untersuchung mindestens einen Wert von 16 auf der Montgomery-Asberg Depressionsskala und über 11 Einheiten auf der „Clinical Anxiety“-Skala.

Im Verlauf der achtwöchigen Therapie sanken die Werte in beiden Gruppen auf beiden Skalen praktisch parallel auf weniger als die Hälfte der Eingangswerte. Anticholinerge Nebenwirkungen wurden in der Amitriptylin-Gruppe signifikant häufiger beobachtet, ebenso Mundtrockenheit, welche unter dem trizyklischen Antidepressivum mit 27 Prozent die häufigste Nebenwirkung darstellte. Dagegen klagten in der Paroxetin-Gruppe 19 Prozent der Probanden über Übelkeit; hier ergab sich ein signifikanter Unterschied zuungunsten des SSRIs.

Abgebrochen wurde die Studie – meist wegen Nebenwirkungen und dem Ausbleiben eines klinischen Effektes, selten wegen mangelnder Compliance – von 37 Prozent der Patienten unter Amitriptylin, sowie 26 Prozent in der Paroxetin-Gruppe. Der Unterschied war statistisch nicht signifikant.

Die bessere Verträglichkeit von Paroxetin gegenüber TCA (meist Amitriptylin) betonte auch Professor Stuart Montgomery von der St. Mary´s Hospital Medical School, London. Unter knapp 4000 Patienten fand der Psychiater eine durch Nebenwirkungen bedingte Abbruchrate von 12,1 Prozent für Paroxetin gegenüber 15,8 Prozent für TCA. Dieses Ergebnis blieb signifikant auch unter Einbeziehung der Abbrüche wegen mangelnder Wirksamkeit (17,1 gegen 21,0 Prozent).

Immer wieder in den Vordergrund gestellt wurde in Budapest das erhöhte Suizid-Risiko für Patienten unter trizyklischen Antidepressiva. Professor Richard Farmer von der Charing Cross Hospital Medical School der Universität London zufolge sind bei jedem zehnten Selbstmord in England und Wales TCA im Spiel. Die enorm hohe Suizidalität unter schwer depressiven Patienten könnte laut Farmer um ein Fünftel reduziert werden, wenn nur noch Medikamente verschrieben würden, die auch in Überdosis gut toleriert werden. Der Mediziner mit dem Spezialgebiet Arzneimittelsicherheit präsentierte Daten für England und Wales, wonach für die TCA Amitriptylin, Imipramin und Clomipramin 73, 55 bzw. 26 Tote je Million ausgeschriebener Rezepte ermittelt wurden, für die verschiedenen SSRIs dagegen weniger als ein Todesfall.

„Die Sicherheit bei Überdosen sollte in Betracht gezogen werden bei der Verschreibung von Medikamenten an suizidgefährdete Patienten. Es gibt auch gute Gründe dafür, diesen Faktor bei der Zulassung von Arzneimitteln in Betracht zu ziehen“, sagte Farmer.

Gegen die Verschreibung von SSRIs sprechen auf den ersten Blick deren vergleichsweise hohe Kosten. Diesem Argument begegnete Professor John Feighner, San Diego mit der Behauptung, die Gesamtkosten pro erfolgreich behandeltem Patienten seien für Paroxetin niedriger als für Imipramin. Dies habe eine Studie mit über 700 schwer depressiven stationären Patienten für die Vereinigten Staaten ergeben, die auch nach Umrechnung auf britische Verhältnisse Bestand habe. Als Gründe für das überraschende Resultat nannte Feighner die schlechtere Compliance und die höhere Abbruchrate unter TCA.

(erschienen im Deutschen Ärzteblatt am 3. Dezember 1993)

Quelle: Satellitensymposium der Firma SmithKline Beecham beim 6. Kongress des European College of Neuropsychopharmacology in Budapest. 10.-14. Oktober 1993)

Trainingsprogramm für aggressive Abwehrzellen

Heftige Kritik üben einige Experten an einer neuen Form der Krebsbehandlung, die derzeit in mehreren US-Kliniken erprobt wird. Diese „adaptive Immuntherapie“ erfülle nicht die in sie gesetzten Erwartungen und sei zudem teurer und mit mehr Nebenwirkungen verbunden als vergleichbare Verfahren.

Arzt, Forscher, Lebensretter: Steven A. Rosenberg im Jahr 2008 (Foto: Rhoda Baer, NCI)

Entwickelt wurde die Therapie von Steven Rosenberg, Chefchirurg am amerikanischen Krebsforschungsinstitut in Maryland. Rosenbergs erklärtes Ziel ist es, Krebserkrankungen durch „trainieren“ der körpereigenen Abwehrzellen zu bekämpfen. Dazu werden den Patienten zunächst weiße Blutzellen (Lymphozyten) entnommen, die dann im Labor mit dem Signalmolekül Interleukin-2 (IL-2) „gefüttert“ werden. Das gentechnisch hergestellte Eiweiß kann die Lymphozyten in aggressive Killerzellen (LAK) verwandeln. Zusammen mit IL-2 werden die kräftig vermehrten LAK schließlich in die Blutbahn der Patienten zurückgespritzt. Von dort gelangen sie in jeden Winkel des Körpers, um ihre zerstörende Wirkung an Krebsgeschwüren zu entfalten.

Naturgemäß ist ein derartiger Eingriff mit schweren Nebenwirkungen verbunden. Die Vermehrung der Lymphozyten im Gewebe des Patienten kann die Funktion lebenswichtiger Organe beeinträchtigen. Als Folge der IL-2-lnjektionen sammeln sich große Flüssigkeitsmengen im Gewebe an. Manchmal müssen die Patienten deshalb in der Intensivstation gepflegt werden. Die adaptive Immuntherapie ist also mit enormen Belastungen für die Patienten verbunden; zudem kann eine Behandlung bis zu 50000 Mark kosten.

An der Frage, ob Rosenbergs Methode anderen Behandlungsformen wirklich überlegen ist, scheiden sich die Geister. Der Mediziner sieht sich genötigt, „seine“ Form der biologischen Krebsbekämpfung gegen die Vorwürfe mancher Kollegen zu verteidigen. Die Immuntherapie „kann wirkungsvoll sein. Bisher kann die Methode nur einer begrenzten Zahl von Patienten helfen, aber vielleicht ist das nur ein Anfang.“

Nach der Veröffentlichung der ersten Ergebnisse im Jahr 1985 habe die Öffentlichkeit ihre Erwartungen zu hoch geschraubt, sagte Rosenberg in einem Interview. Damals kam es unter 25 „hoffnungslosen Fällen“, bei denen alle Heilungsversuche mit herkömmlichen Verfahren versagt hatten, bei elf zu einer Reduktion oder gar zum völligen Verschwinden der Tumoren.

Damit war bewiesen, dass man sogar größere Krebsgeschwüre im Menschen mit biologischen Methoden bekämpfen kann. Neue Daten aus Rosenbergs Arbeitsgruppe, die an 177 Patienten gewonnen wurden, sind weniger beeindruckend als die ersten Ergebnisse. Dennoch: Bei Nierenkrebs und bösartigem Hautkrebs verschwanden die Tumoren in zehn Prozent aller Fälle vollständig. In ebenso vielen Fällen gelang es, die Größe der Tumoren auf die Hälfte zu reduzieren.

Kliniken außerhalb des amerikanischen Krebsforschungsinstitutes allerdings erzielen mit der adaptiven Immuntherapie weniger deutliche Erfolge. Bei Nierenkrebspatienten etwa wurde ein vollständiger Rückgang der Tumoren nur in jedem 50. Fall beobachtet, auch eine Größenreduktion gelang nur halb so oft wie in Rosenbergs Arbeitsgruppe. Umstritten ist auch die Frage, ob die Teilerfolge, die mit der adaptiven Immuntherapie erzielt wurden, vielleicht nur auf der Wirkung des Interleukins beruhen. Zu diesem Ergebnis kommt nämlich eine neue Untersuchung des Unternehmens Hoffmann-La Roche. Die Gabe von IL-2 alleine wäre nicht nur technisch einfacher zu bewältigen; sie ist auch wesentlich billiger als Rosenbergs ausgefeiltes Konzept.

Rosenberg ist dennoch davon überzeugt, auf dem richtigen Weg zu sein. Auf der Suche nach weiteren Immunzellen, die Krebsgeschwüre bekämpfen können, fand er in operativ entfernten Tumoren die „tumor-infiltrierenden“ weißen Blutzellen (TIL). Bei ersten klinischen Versuchen an Hautkrebspatienten erwiesen sich die TIL – wiederum nach Stimulation mit Interleukin – als noch bessere Tumorkiller als LAK. Schon lange hat Rosenberg Pläne in der Schublade, die LAK und TIL gentechnisch zu verändern und somit noch wirksamer zu machen. Innerhalb eines Jahres könnte der Chefchirurg so zum weltweit ersten Gentherapeuten werden. übertriebene Hoffnungen auf einen plötzlichen Durchbruch in der Krebsbehandlung scheinen – auch angesichts der jüngsten Erfahrungen – dennoch fehl am Platz.

(leicht gekürzt erschienen in der WELT am 6. Juni 1990, letzte Aktualisierung am 9. März 2017)

Was ist daraus geworden? Rosenberg hat viele Rückschläge hinnehmen müssen und stand oft in der Kritik. Heute ist er anerkannt als einer der Pioniere der modernen Krebstherapie. Mit seiner Immuntherapie und mit gentherapeutischen Verfahren habe er „lebensrettende Behandlungen für Millionen von Krebspatienten entwickelt“, urteilte beispielsweise die Washington Post. Eine gentechnisch hergestellte Variante von Interleukin-2 ist zur Behandlung des Nierenzellkarzinoms zugelassen, in den USA auch beim fortgeschrittenen (metastasierten) schwarzen Hautkrebs. Sehr empfehlenswert, aber schwer zu kriegen ist Rosenbergs Buch „Die veränderte Zelle„, aus dem Jahr 1992, in dem der Mediziner auch über seine Motive und den Umgang mit Niederlagen schreibt.