Zum Hauptinhalt springen

Neues vom „Aids-Skandal“

Im Skandal um den Vertrieb von nicht ausreichend auf HIV getestetem Blutplasma sind in den vergangenen Tagen neue Details bekannt geworden. Im Falle der Koblenzer Firma UB Plasma wurden jeweils zwei bis vier Proben von verschiedenen Einzelspendern zusammen getestet, sagte der leitende Oberstaatsanwalt Norbert Weise. Durch dieses Vorgehen sei die Sensitivität des Antikörpertests vermindert worden. „Wir vermuten, daß bei dieser Methode das diagnostische Fenster um etwa sechs Wochen verlängert wird.“

Eine weitere gravierende Verletzung der Vorschriften war das sogenannte „visuelle Testen“, bei dem eine mögliche Verfärbung der Teströhrchen zunächst nur mit dem bloßen Auge abgeschätzt wurde. „Wenn eine Verfärbung sichtbar war, hat man den kompletten Test gemacht; wenn nicht ging man davon aus, daß die Proben HIV-negativ seien“, erklärte Weise. Vorgeschrieben ist dagegen eine exakte maschinelle Bestimmung der optischen Dichte.

Bei den drei bekannt gewordenen Infektionen, die mit Spender Nummer 2505 in Verbindung gebracht wurden, hätten zwei womöglich vermieden werden können, wenn entsprechend den Vorschriften getestet worden wäre, mutmaßte Weise. Das Plasma eines weiteren HIV-positiven Spenders ist vermutlich nie in den Verkehr gelangt. Eine Niederlassung der Koblenzer Firma im rumänischen Bukarest hatte die zugehörige Blutprobe zum Testen nach Deutschland eingeschickt, wobei die Infektion erkannt wurde. Hinweise darauf, daß Plasma dieses Spenders vertrieben wurde, gibt es laut Schmidt bisher nicht.

Mittlerweile wurden von den 24000 sichergestellten Rückstellproben, die eine Überprüfung der ursprünglichen Testergebnisse gestatten, an der Universitätsklinik Mainz gut 10000 untersucht und mit den Eintragungen in den sichergestellten Laborbüchern verglichen. „Bis jetzt stimmen alle Ergebnisse mit denjenigen der Firma überein“, sagte Dr. Franz-Josef Schmidt, leitender Regierungsdirektor im Bezirk Koblenz gegenüber dem Deutschen Ärzteblatt.

Auch dem Testlabor der Firma Haemoplas im niedersächsischen Osterrode wird vorgeworfen, die einschlägigen Vorschriften verletzt zu haben. Laut dem Sprecher im Gesundheitsministerium, Thomas Steg, sind in diesem Fall jedoch keine Rückstellproben vorhanden, die einen Vergleich der Testergebnisse ermöglichen würden. Die „Aufwandsentschädigungen“ in Höhe von etwa 50 Mark pro Spende, die sowohl von UB Plasma als auch von Haemoplas gezahlt wurden, bringen nach Meinung von DRK-Sprecher Fritz Duppe ein erhöhtes Infektionsrisiko mit sich und sollte deshalb abgeschafft werden. Duppe zitierte eine Studie, wonach in Deutschland etwa jeder Hundertausendste unbezahlte Spender HIV-infiziert ist. Bei den bezahlten Spendern seien Infektionen dagegen acht Mal häufiger anzutreffen.

(erschienen im Deutschen Ärzteblatt am 3. Dezember 1993)

Antisense-RNS: Blockade mit System

Manchmal zahlt es sich aus, der Herde nicht zu folgen: Als Georg Sczakiel vor sieben Jahren von den ersten Versuchen erfuhr, Gene mit „Gegen-Genen“ zu hemmen, wurden Forschungen auf diesem Gebiet noch als „sehr riskant für den persönlichen Werdegang“ eingestuft.

Heute ist Sczakiel Leiter einer sechsköpfigen Arbeitsgruppe am Zentrum für angewandte Tumorvirologie des DKFZ. Er zählt zur einer schnell wachsenden Schar von Wissenschaftlern, die daran arbeiten, einzelne Erbanlagen mit bisher unerreichter Präzision zu blockieren.

Der gelernte Chemiker macht sich dabei eine wesentliche Eigenschaft des fadenförmigen Erbmoleküls DNS zunutze, welches eigentlich aus zwei „zusammengeklebten“ Hälften besteht: Alle Informationen sind in der Regel nur auf einem Strang verschlüsselt. Dessen spiegelbildliches Gegenstück dient lediglich zur Stabilisierung, verdeckt dabei aber die eigentliche molekulare Botschaft. Erst wenn die anhänglichen Partner durch ein ganzes Arsenal von Biomolekülen für Sekundenbruchteile voneinander gelöst werden, kann die Zelle eine Kopie des molekularen Bauplans erstellen. Diese Boten-RNS dient dann außerhalb des Zellkerns als Vorlage für die Produktion eines Biokatalysators.

Hier aber kann Sczakiel mit seinen „molekularen Bremsklötzen“ einen Riegel vorschieben. Es handelt sich dabei um Antisense-RNS, ein mit gentechnischen Methoden hergestelltes Spiegelbild der Boten-RNS. Beide Moleküle schmiegen sich aneinander und verknäulen dabei zum unlesbaren Doppelstrang, ganz ähnlich dem DNS-„Muttermolekül“. Der Clou der Methode besteht darin, daß es für jedes Gen nur einen RNS-Typ gibt, der sich mit einer maßgeschneiderten Antisense-RNS lahmlegen läßt.

Daß Sczakiel mit dieser Technik ausgerechnet am Krebsforschungszentrum versucht, die Vermehrung des Aids-Virus zu blockieren versucht, mag zunächst verblüffen. DKFZ-Chef Harald zur Hausen läßt den Nachwuchswissenschaftler trotzdem gewähren, denn das Prinzip der Genhemmung durch Antisense-Moleküle ist universell anwendbar. Dank der weltweiten Bemühungen zur Entschlüsselung der menschlichen Erbanlagen sind inzwischen eine ganze Reihe von Genen bekannt, deren Überaktivität das Krebswachstum begünstigt. In den Vereinigten Staaten wurden die ersten Kandidaten bereits ins Visier genommen.

(erschienen in Ausgabe 3/4 1993 des „einblick“, der Zeitschrift des Deutschen Krebsforschungszentrums)

Wege zu sauberem Blut

Horst Seehofer hat keine Angst vor Bluttransfusionen. „Niemand kann absolute Sicherheit versprechen“, räumte der Bundesgesundheitsminister zwar gegenüber dem Nachrichtensender n-tv ein. Dennoch würde er sich bei Bedarf eine Transfusion verabreichen lassen. Kaum ein Drittel der Bundesbürger teilt indessen die Zuversicht des umstrittenen Politikers, wie eine Umfrage des Wickert-Instituts ergab.

Selbst die Zahl der Blutspenden ist im Gefolge des „Aids-Skandals“ zurückgegangen. Obwohl dabei wegen der einmaligen Verwendung sterilisierter Nadeln jegliches Infektionsrisiko ausgeschlossen ist, bleiben laut einem Sprecher des Deutschen Roten Kreuzes (DRK) bis zu 20 Prozent der Spender lieber zu Hause. Viele Bundesbürger, so scheint es, betrachten inzwischen jeglichen Umgang mit dem lebensspendenden Saft als tödliche Gefahr.

Dagegen betonen Experten auch nach der Verhaftung führender Mitarbeiter der Koblenzer Firma UB-Plasma das äußerst geringe Risiko deutscher Transfusionsempfänger für eine Infektion mit dem Immunschwächevirus HIV seit dem 1. Oktober 1985. Ab diesem Datum durften Blutpräparate nur noch dann in Verkehr gebracht werden, wenn das Ausgangsmaterial zuvor auf das Immunschwächevirus HIV getestet wurde. Entdeckt wurde HIV zwar schon im Mai 1983, die Rolle des Erregers bei der Entstehung von Aids war damals aber unter Fachleuten umstritten, einen Bluttest gab es nicht.

Die 2300 Menschen, die sich in Deutschland durch verseuchtes Blut und Blutprodukte infiziert haben, stellen unter den 60000 gemeldeten HIV-Infizierten eine kleine Minderheit dar. Angesteckt wurden – fast ausschließlich vor Einführung des Bluttests – 1843 Bluter, die wegen der benötigten hochkonzentrierten Gerinnungsfaktoren besonders gefährdet waren. Auf dem Transfusionsweg wurden 462 Menschen infiziert, davon laut Auskunft des BGA „maximal 20“ nach Einführung des Bluttests.

Nicht Schlamperei ist die Ursache für diese „Ausreißer“, sondern die verspätete Reaktion des menschlichen Immunsystems auf den Eindringling: Die gebräuchlichen Tests weisen nämlich das Virus nicht direkt nach, sondern nur die – verspätete – menschliche Abwehrreaktion darauf. Vier bis sechs Wochen, in sehr seltenen Fällen auch sechs Monate können vergehen, bis im Blut genügend Antikörper schwimmen, um das Virus nachzuweisen. Ein zusätzlicher neuer Bluttest (p24 Antigen-Test), der in manchen Bundesländern bereits eingeführt wurde, spürt ein Viruseiweiß direkt auf, und verringert dadurch theoretisch die Dauer des „diagnostischen Fensters“.

Gregor Caspari vom Institut für Medizinische Virologie der Justus-Liebig-Universität Gießen hat allerdings errechnet, daß jede zusätzlich aufgespürte Infektion mindestens 50 Millionen Mark kosten würde, im ungünstigsten Fall bis 400 Millionen. Zum Vergleich: Das Bundesministerium für Gesundheit hat zur Aids-Bekämpfung in den letzten drei Jahren jeweils circa 50 Millionen Mark bereitgestellt. Außerdem befürchtet Caspari eine Anlockung von Risikogruppen durch den neuen Test. Der kann eine Infektion zwar früher anzeigen, aber auch er erfaßt längst nicht alle Infizierten.

Ulrich Kania, leitender Oberarzt an der Chirurgischen Universitätsklinik Bonn beziffert das Risiko einer Ansteckung durch Blut und Blutplasma aus Einzelspenden heute auf etwa eins zu dreihunderttausend bis eins zu einer Million, Caspari hält den letzteren Wert für realistischer. Diese Zahlen müssten allerdings in Bezug gesetzt werden zu den ungleich größeren Gefahren die vielen Patienten drohen, wenn die Behandlung schwerwiegender Erkrankungen verzögert wird oder ganz unterbleibt, sagte Kania. Auch der Marburger Bund, die Vertretung von rund 57000 Krankenhausärzten, betonte, es gebe keinen Anlaß zu Angst vor Blutübertragungen oder Operationen.

Die Zweckmäßigkeit verschiedener Maßnahmen, die mittlerweile zur Reduktion des verbleibenden Risikos gefordert, geplant oder im Eilverfahren bereits umgesetzt umgesetzt wurden, wird von Medizinern vielfach skeptisch beurteilt. Die Sicherheitsvorkehrungen hängen davon ab, welche Bestandteile des Blutes verarbeitet, und in welcher Menge diese dann an die unterschiedlichen Patientengruppen verabreicht werden.

Nach großem Blutverlust werden vor allem rote Blutkörperchen (Erythrozyten) gebraucht, die für den Sauerstofftransport ins Gewebe verantwortlich sind, außerdem Blutplättchen (Thrombozyten), die für die Gerinnung sorgen und beispielsweise nach einer Chemotherapie oft ergänzt werden müssen. Beide sind nur kurzfristig haltbar; die Erythrozyten drei bis sieben Wochen, die Thrombozyten nur einige Tage. Jede Form von Virusabtötung mit Hitze oder Chemikalien würde diese empfindlichen Blutbestandteile zerstören, das Restrisiko des „diagnostischen Fensters“ muß hier also in Kauf genommen werden.

Unter Plasma versteht man den „Blutsaft“ ohne die zellulären Bestandteile. Er enthält mehrere hundert verschiedene Eiweiße, darunter Antikörper und verschiedene Gerinnungsfaktoren. Das Plasma ist tiefgefroren bis zu einem Jahr haltbar. Vor der Verwendung als „Einzelspenderplasma“ fordert das BGA entweder eine Quarantäne oder ein Verfahren zur Virusinaktivierung. Bei der Quarantäne wird der ursprüngliche Spender nach Ablauf von mindestens vier Monaten ein zweites Mal getestet. Nur wenn er dabei wie schon bei der ersten Blutentnahme „HIV-negativ“ ist, wird das Plasma zur weiteren Verwendung freigegeben. Diese Methode wird von Zentren, die nur Blutplasma sammeln, favorisiert, weil diese einen hohen Anteil regelmäßig wiederkehrender Spender haben.

Die Blutspendedienste befürchten allerdings große Versorgungslücken bei Einführung dieser Maßnahme. Gerade Organisationen wie das Rote Kreuz, die einen auch im internationalen Vergleich sehr niedrigen Anteil HIV-infizierter Spender haben, sind auch abhängig von Menschen, die sporadisch und oft nur ein einziges Mal spenden. Sie tun dies meist aus Verantwortungsbewußtsein und erhalten dafür lediglich einen Imbiß, bei kommunalen Diensten dagegen eine „Aufwandsentschädigung“ von fünfzig Mark.

Die Spenden dieser Personen könnten nicht nachgetestet werden und würden nach einem Jahr ungenutzt verderben. Die entstehende Lücke müßte dann durch Importe – vorwiegend aus den USA – geschlossen werden. Dort findet aber ebenfalls keine Doppeltestung statt; der Anteil von HIV-Infizierten an der Gesamtbevölkerung ist außerdem deutlich höher als in Deutschland.

Als Alternative zur Quarantäne wird deshalb von einigen DRK-Diensten die Virusinaktivierung von gefrorenen Frischplasma bereits praktiziert, mit der die wichtigen transfusionsübertragenen Viren (neben HIV auch verschiedene Hepatitis-Viren) abgetötet werden.

Mindestens die Hälfte allen gespendeten Blutes wird in Deutschland zur Herstellung von sogenannten „Pool-Produkten“ verbraucht. Dies sind hochkonzentrierte Eiweiße wie der für die Blutgerinnung unverzichtbar Faktor VIII. Bis zu 60000 Plasma-Einzelspenden werden dabei zusammengeführt und gemeinsam verarbeitet. Vier verschiedene Inaktivierungsverfahren stehen zur Verfügung, von denen das teuerste – die „feuchte Hitze-Inaktivierung bei 60 Grad“ – sich als das Sicherste erwiesen hat.

Der für einen Großteil der Bluter lebenswichtige Faktor VIII kann seit kurzem auch gentechnisch, also ohne die Verwendung von Blut, hergestellt werden. Umstritten ist, ob dieses Produkt wirklich – wie die etablierten Hersteller von Faktor VIII behaupten – weniger verträglich für das Immunsystem der Patienten ist, oder ob es sich dabei nur um ein vorgeschobenes Argument handelt, mit dem bestehende Marktanteile verteidigt werden.

Prinzipiell ist das nach einer Inaktivierung verbleibende Restrisiko von Plasmapools natürlich davon abhängig, wieviele Krankheitserreger vor der Inaktivierung vorhanden waren. „Der entscheidende Faktor bei der Sicherheit von Blutprodukten ist deshalb die Auswahl der Spender,“ sagt Wolfram Gehrlich in seiner Eigenschaft als Vorsitzender der Kommission für Virussicherheit von Arzneimitteln der Deutschen Gesellschaft für Virologie. Hier liegt auch der Grund für die Ablehnung bezahlter Spenden durch viele Fachleute im Gesundheitswesen:  Durch die Bezahlung, so wird argumentiert, schafft man eine Motivation, mögliche Gebrechen – und damit Infektionsrisiken – zu verschweigen.

Drogen- und Alkoholabhängige, Strafgefangene und die Partner HIV-infizierter Personen zählen zu den Risikogruppen, die in Deutschland permanent von der Blutspende ausgeschlossen werden müssen. Nach den Richtlinien von Bundesärztekammer und Bundesgesundheitsamt sind außerdem für mindestens sechs Monate gesperrt alle neu Operierten und Empfänger von Blut- und Blutprodukten. Auch das Durchstechen von Ohrläppchen oder Nasenflügel, Tätowierungen, Tropenreisen und zurückliegende Hepatitisinfektionen sind Ausschlußgründe.

Der „vertrauliche Selbstausschluß“ zielt auf Spender unter Gruppendruck wie beispielsweise die Mitglieder freiwilliger Feuerwehren in kleineren Ortschaften, die einmal im Jahr geschlossen zur Blutabnahme gehen. Angehörige von Risikogruppen können nach der Spende durch eine Art Kreuzchen in der Wahlkabine ihr Blut von der weiteren Verwendung ausschließen, ohne sich gegenüber den Kollegen offenbaren zu müssen.

Die in jeder Zehnten Klinik bereits angebotene Eigenblutspende wäre ebenfalls eine Möglichkeit zur Senkung des Infektionsrisikos. Allerdings wird vielfach übersehen, das die dafür nötige viermalige Blutentnahme den Spender unter Umständen stärker gefährden kann, als eine Übertragung von Fremdblut. Die Gefahr eines Herz-Kreislaufversagens während der Prozedur ist besonders bei vorbelasteten älteren Spendern mit ins Kalkül zu ziehen. Minister Seehofers Erkenntnis „Niemand kann absolute Sicherheit versprechen“, trifft bei näherer Betrachtung nicht nur auf den „Aids-Skandal“ zu, sondern auf jede Art von ärztlicher Behandlung.

(Original-Manuskript zu einem Artikel, der am 11. November 1993 in der Süddeutschen Zeitung erschienen ist.)

Fehler bei Aids-Tests unvermeidlich

Für viele ist es ein beängstigender Gedanke: „Stell Dir vor, Du machst einen Aids-Test und wartest auf das Ergebnis … “ Über 20 Millionen Mal haben Deutsche bisher den Mut zu diesem Schritt aufgebracht, fast zehntausend von ihnen mußten – zumindest kurzfristig – mit der Diagnose „HIV-Infiziert“ leben.

Die Arbeit einer australischen Forschergruppe hat nun bestätigt, daß die berüchtigten Bluttests in manchen Fällen falsche Ergebnisse liefern. „Wir glauben, daß ein positiver Antikörpertest keinen unwiderleglichen Beweis für eine Infektion mit dem Immunschwächevirus darstellt“, faßte die Biophysikerin Eleni Papadopoulos-Eleopoulos vom Royal Perth Hospital die Studie zusammen, in der etliche der weltweit gebräuchlichen Verfahren unter die Lupe genommen wurden.

Das Paul-Ehrlich-Institut (PEI) in Langen, zuständig für die Beurteilung der Testmethoden und Impfstoffe bei gefährlichen, ansteckenden Krankheiten, sieht allerdings keine Veranlassung, die in Deutschland zugelassenen Reagenzien vom Markt zu nehmen.

Die Erkenntnisse, welche die australischen Wissenschaftler etwa über die Zuverlässigkeit russischer Testverfahren gewonnen haben, sind nämlich nach Überzeugung von PEI-Präsident Reinhard Kurth nicht auf hiesige Verhältnisse zu übertragen. In der ehemaligen Sowjetunion hatte man noch vor zwei Jahren 30.000 Menschen ausgemacht, deren Immunsystem anscheinend auf die Gegenwart von Aids-Viren mit der Produktion von Antikörpern reagiert hatte. Eine genaue Analyse ergab allerdings, daß nicht einmal jeder Vierhundertste, den man als „HIV-positiv“ eingestuft hatte, auch tatsächlich infiziert war. „Wir haben uns die hausgebastelten Tests der Russen privat besorgt und näher angeschaut. Sie erreichen keinesfalls die Qualität der bei uns zugelassenen Produkte“, versicherte Kurth.

Den Moskauer Kollegen bleibt allerdings keine Wahl. Wie in vielen Teilen der Welt ist man auch in Rußland aus Geldmangel gezwungen, Testsysteme der „ersten Generation“ zu benutzen. Dabei wird in Kauf genommen, daß viele „falsch-Positive“ registriert werden. Denn je empfindlicher ein Test ist, umso geringer ist auch die Wahrscheinlichkeit, daß ein „falsch-negatives“ Ergebnis ermittelt wird. Dies wäre etwa dann der Fall, wenn eine verseuchte Blutkonserve nicht erkannt wird. Die Gesundheitspolitiker sind sich weitgehend über die Prioritäten einig: Trotz der psychologischen Belastung für den Einzelnen sind „falsch-Positive“ weniger schlimm als „falsch-Negative“.

Die Empfindlichkeit und Genauigkeit der in Deutschland zugelassenen Testsysteme liegt inzwischen nach Angaben von Kurth bei 99,8 Prozent. Selbst ein milliardstel Gramm an Viruseiweiß läßt sich mit dem ELISA-Test noch erfassen. Allerdings werden nicht die Eiweiße direkt gemessen. Stattdessen muß aus einer Farbreaktion abgelesen werden, ob das Immunsystem des Patienten Antikörper gebildet hat, welche an eines oder mehrere Viruseiweiße binden können.

Unter 10.000 Menschen, die noch nie mit dem Aids-Virus in Kontakt gekommen sind, müssen also immer noch etwa 20 damit rechnen, als „falsch-positiv“ eingestuft zu werden, weil sie Antikörper besitzen, die „fremdgehen“. Möglicherweise hatten diese Personen irgendwann in ihrem Leben Kontakt mit Krankheitserregern, die in ihrer Oberflächenstruktur Teilen des Aidsvirus ähnlich sind.

Da hierzulande etwa jeder zehntausendste Einwohner tatsächlich infiziert ist und auch diese Personen mit 99,8-prozentiger Sicherheit erkannt werden, käme man auf ein groteskes Mißverhältnis von 20 „falsch-Positiven“ gegenüber einem „echt-Positiven“. Deshalb wird in aller Regel vor Bekanntgabe des Resultats ein aufwendiger Bestätigungstest vorgenommen, der sogenannte Western-Blot. Er macht die Größe der vereinheitlichten Viruseiweiße sichtbar; durch Vergleich mit einem Standard läßt sich ein Fehlurteil praktisch ausschließen.

Dennoch können Verwechslungen von Blutproben und andere Mißgeschicke vorkommen. „Ein theoretisches Restrisiko ist nicht ganz auszuschließen“, räumt Kurth ein, auch wenn er den Herstellern von Testsubstanzen bescheinigt, sich außerordentliche Mühe gegeben zu haben. Letztlich liegt dies auch in deren eigenem Interesse, wie Rudolf Koberstein von der Firma Boehringer Mannheim zugibt. „Man kann es sich nicht leisten, einen HIV-Positiven zu übersehen“.

Daß Vertrauen allein nicht ausreicht, beweist jedoch ein Vorfall, der Ende Juli in Frankreich für Schlagzeilen sorgte. Dort wurden neun verschiedene Testsysteme auf Geheiß der Gesundheitsbehörden vom Markt genommen. Drei der Kandidaten hatten vom Paul-Ehrlich-Institut keine Zulassung erhalten, drei weitere waren bereits im Dezember letzten Jahres vom Markt genommen worden, weil sie auf einer „zwischenzeitlich überholten Technologie basierten und ihre Empfindlichkeit nicht mehr akzeptabel war“. Die übrigen drei Verfahren sind in Deutschland erhältlich. Nach Auskunft von Reinhard Kurth entsprechen sie den hiesigen Qualitätsvorschriften.

(erschienen in der Süddeutschen Zeitung am 19. August 1993)

Quellen:

Papadopulos-Eleopulos E, Turner VF, Papadimitriou JM. Is a positive western blot proof of HIV infection? Biotechnology (N Y). 1993 Jun;11(6):696-707. doi: 10.1038/nbt0693-696

AIDS-Therapie: Streit um den Zeitpunkt

Vorbeugen ist besser als abwarten, sollte man meinen. Was für Zahnärzte selbstverständlich ist, wird jedoch von vielen Aidsforschern bestritten. Die Frage, wann eine Behandlung mit dem lebensverlängernden Standardmedikament Azidothymidin (AZT) beginnen sollte, ist zum heißen Eisen geworden. Auslöser der Debatte war eine großangelegte Untersuchung, die den Verdacht nahelegte, daß zu viele teure Pillen an Infizierte abgegeben werden, die davon keinen echten Nutzen haben.

Seit der Veröffentlichung der Concorde-Studie auf dem Berliner Aids-Kongreß Anfang Juni streiten sich Ärzte und Betroffene, Statistiker, Pharmakonzerne und Gesundheitsreformer über die Deutung der vorliegenden Daten. In der Fachzeitschrift „New England Journal of Medicine“ wurde nun das Resultat einer australisch-europäischen Forschungsarbeit präsentiert, die im Gegensatz zur Concorde-Studie eine möglichst frühzeitige Behandlung für alle Infizierten ratsam erscheinen läßt.

Würde es sich bei AZT um ein billiges Arzneimittel ohne große Nebenwirkungen handeln, wäre der Fall klar: Ärzte und Patienten müßten sich nicht den Kopf zerbrechen, das Ausfüllen der Rezepte wäre reine Routine. Leider ist jedoch das Gegenteil der Fall. Etwa jeder Zehnte leidet so stark unter Übelkeit und andern Nebenwirkungen von AZT, daß die Therapie abgebrochen werden muß. Die jährlichen Behandlungskosten gehen außerdem in die Zehntausende.

Unbestritten ist die Wirksamkeit der Arznei. Der erste große Versuch mit Aids-Patienten im fortgeschrittenen Stadium der Krankheit wurde in den USA schon nach sieben Monaten abgebrochen, weil AZT die Lebenserwartung gegenüber einem Scheinmedikament deutlich verlängerte. Alle Probanden erhielten daraufhin die Substanz, die im März 1987 von der zuständigen Behörde, der Food and Drug Administration (FDA) offiziell zugelassen wurde.

Nur wenige Monate später ging man die Frage an, ob die Patienten davon profitieren, wenn mit der Therapie früher begonnen wird. Früh heißt dabei: Die Infizierten haben noch relativ große Mengen an bestimmten Immunzellen, den CD4-Helferzellen. Bis heute haben die Mediziner keinen besseren Gradmesser für den Verlauf der Krankheit finden können als die Zahl dieser Zellen in jedem millionstel Liter Blut. Normal sind über 1000, im Endstadium der Krankheit oft weniger als 100.

Vorläufige Daten überzeugten die FDA davon, AZT für alle Patienten mit CD4-Zahlen unter 500 zuzulassen. Fast alle Ärzte befolgten denn auch die „500erRegel“. Mit einem Schlag hatte sich die Zahl der HIV-Infizierten, denen das teure Medikament verschrieben wurde, fast verzehnfacht.

Nach Erscheinen der Concorde-Studie änderte die FDA ihre Empfehlung und empfahl den Ärzten, „nach individuellen Kriterien“ zu entscheiden. Ob dieser Ratschlag nun nochmals geändert wird, ist zweifelhaft, denn bei näherer Betrachtung sind die jüngsten Studien gar nicht so widersprüchlich, wie AZT-Hersteller Wellcome glauben machen will: Nach einer Laufzeit von 55 Wochen wurden bei beiden Untersuchungen Zwischenanalysen vorgenommen, deren Ergebnisse weitgehend übereinstimmen, erklärte Frank-Detlef Goebel von der Universitäts-Poliklinik München.

Bei Patienten, die AZT vom Beginn der Untersuchung an einnahmen, kam es eindeutig seltener zu „klinischen Erscheinungen“ als bei denjenigen, denen zuerst ein Scheinmedikament verabreicht wurde. „Des Rätsels Lösung liegt darin, daß die Concorde-Leute den Mut hatten, ihre Studie trotz dieser Datenlage weiterzuführen“ so Goebel, der ebenfalls an der neuen Untersuchung (EACG 020) beteiligt war.

Wäre der Unterschied zwischen den beiden Patientengruppen immer weiter angewachsen, wie viele es befürchteten, so würde man heute wohl mit Fingern auf die verantwortlichen Wissenschaftler zeigen. Stattdessen verflüchtigten sich die Vorteile wieder, die bei der frühzeitigen Einnahme von AZT beobachtet wurden.

Professor Ian Weller von der Middlesex School of Medicine in London, der für die Concorde-Studie verantwortlich zeichnet, verweist auf die unterschiedlichen „Endpunkte“ in beiden Untersuchungen: Weil die Concorde-Studie länger lief und mehr Teilnehmer hatte als alle anderen Studien, erkrankten und verstarben über 300 Patienten an Aids. Dabei machte es keinen Unterschied, ob man AZT schon verabreichte, bevor sich bei den Patienten erste Symptome von Aids zeigten, oder erst zu einem späteren Zeitpunkt eingriff.

„In der australisch-europäischen Untersuchung gab es wegen der relativ kurzen Dauer keinen einzigen Toten zu beklagen, die Statistik mußte sich hier auf weichere Daten stützen“, erklärt Weller. Das Fortschreiten der Krankheit mußte zum Beispiel an der Zahl der CD4-Zellen gemessen werden oder daran, ob Mundsor als eine relativ harmlose Begleiterkrankung registriert wurde oder nicht. Derartige Diagnosen sind aber nicht immer eindeutig und auch Goebel räumt ein, „daß es Probleme gab, klinische Ereignisse sauber zu definieren“, obwohl bei EACG 020 eine separate Arbeitsgruppe mit dieser Aufgabe betraut wurde.

„EACG 020 zeigt, daß es für einen begrenzten Zeitraum sinnvoll sein kann, Patienten mit 500 bis 750 CD4-Zellen zu behandeln, auch wenn sie noch keine Symptome zeigen“, bilanziert Goedel. Andererseits könne man aus der Concorde-Studie lernen, daß es wenig Sinn mache, Patienten mit Helferzellzahlen unter 500 drei Jahre lang AZT zu geben.

Für Nick Partridge, Chef von Großbritanniens größter Aids-Stiftung, ist auch die neue Untersuchung kein Grund zum Feiern. „Die Studie EACG 020 bestätigt zwar erneut den Nutzen von AZT, aber von einem Medikament, welches die Infizierten 20 oder 30 Jahre gesund hält, sind wir noch sehr weit entfernt.“

(Originalversion eines Artikels, der in gekürzter Form in der Süddeutschen Zeitung am 5. August 1993 erschienen ist)

Überleben mit dem Aidsvirus

Seit 15 Jahren ist Aldyn McKean mit dem Immunschwächevirus infiziert. Trotzdem erfreut sich der New Yorker bester Gesundheit. Warum der Aids-Aktivist nicht schon lange der drohenden Krankheit erlegen ist, weiß niemand. Von der Antwort auf dieses medizinische Rätsel erhoffen sich Wissenschaftler wichtige Hinweise auf neue Strategien im Kampf gegen den Erreger, der nach neuesten Schätzungen schon 14 Millionen Menschen befallen hat.

McKean ist kein Einzelfall: Einige Experten hielten es vor einigen Wochen auf dem 9. Internationalen Aids-Kongreß in Berlin sogar für ausgemacht, daß etwa fünf Prozent der HIV-Infizierten nicht an Aids erkranken. Die Vertreter der Gegenposition behaupten, daß die bisher beobachteten Überlebenszeiten durchaus mit statistischen Schwankungen erklärt werden können. Langzeitüberlebende wären aus dieser Sicht „noch nicht Erkrankte“, die ihre gewonnenen Lebensjahre dem Zufall verdanken.

Doch Aldyn McKean glaubt nicht an Zufälle. Seine eigene Theorie stellt die Persönlichkeit des Infizierten in den Mittelpunkt: „Es ist wichtig, wie man mit der Krankheit umgeht und welche Einstellung man zum Leben hat.“

Soziologen haben überdies beobachtet, daß die meisten Langzeitüberlebenden in festen Beziehungen leben und viel Unterstützung von ihren Mitmenschen erhalten. Andererseits glaubt kaum jemand, daß das Virus sich allein durch positives Denken in Schach halten läßt.

Fritz von Griensven vom Gesundheitsdienst der Stadt Amsterdam, hält es wie zahlreiche seiner Kollegen für wahrscheinlicher, daß eine weniger gefährliche Variante des Immunschwächevirus am Werk ist, welche die körpereigene Abwehr nicht zu überwältigen vermag, sondern im Gegenteil eher stärkt. Eine Parallele dazu: Bei vielen Viruskrankheiten wie Kinderlähmung, Pocken oder Masern werden im Labor geschwächte Varianten des Erregers oder dessen harmlose Verwandte mit großem Erfolg zur Impfung benutzt.

Für David Schwarz und sein Team von der Johns-Hopkins-Universität im amerikanischen Baltimore ist diese entfernte Möglichkeit Grund genug, die Viren im Körper von Langzeitüberlebenden genauestens unter die Lupe zu nehmen. Bei einer 42jährigen, auch heute noch gesunden Amerikanerin, die sich 1981 durch eine Bluttransfusion infiziert hatte, scheiterte Schwarz immer wieder an dem Versuch, infektiöse Viruspartikel aus dem Blut zu isolieren.

Schließlich gelang es dem Team aber doch mit einer äußerst empfindlichen molekularbiologischen Methode (der Polymerasekettenreaktion), die Erbsubstanz des Virus in den Zellen der Frau aufzuspüren und zu vermehren. Die Reihenfolge der Bausteine im Erbmaterial des Virus verglichen die Wissenschaftler dann mit den Daten bereits bekannter HIV- Varianten. Dabei spürten sie zwar zwei verschiedene Virustypen auf; große Unterschiede in der Gensequenz konnten aber bisher nicht nachgewiesen werden.

Andere Forschungsgruppen konzentrieren sich derweil auf eine zweite Möglichkeit: Vielleicht gibt es genetische Unterschiede zwischen Langzeitüberlebenden und „normalen“ Menschen. Eine Art Schutz-Gen glaubt beispielsweise Miles Cloyd von der Universität Texas in Galveston gefunden zu haben. Diese Erbanlage soll laut Cloyd nur bei wenigen Menschen vorkommen und Ähnlichkeit mit einem Resistenz-Gen (Fv-1) der Maus haben.

Im Labor gelang es dem Mediziner auch, Zellkulturen durch den Einbau des Schutz-Gens vor der Zerstörung durch HIV zu bewahren. Schutz-Gene könnten auch erklären, warum beispielsweise Schimpansen und andere Affenarten nicht an Aids erkranken, obwohl das Virus sich sehr wohl im Körper der Tiere ausbreiten kann.

Fasziniert sind die Wissenschaftler auch von einem anderen Phänomen: Unter 260 Prostituierten aus Nairobi fand ein kanadisch-kenianisches Forscherteam 25 Frauen, die sich allen Wahrscheinlichkeitsrechnungen zum Trotz nicht mit HIV infiziert haben. Mindestens drei Jahre hatten die Frauen fast täglich ungeschützten Sex mit bis zu zehn Kunden. Da in der Hauptstadt Kenias fast jeder zehnte Kunde das Virus in sich trägt, kann es sich unmöglich um einen glücklichen Zufall handeln, wie Neil Simonsen von der kanadischen Manitoba-Universität in Berlin vorrechnete.

Die scheinbare Resistenz, die auch bei einigen Homosexuellen, Blutern und Transfusionsempfängern beobachtet wurde, will er mit individuellen Unterschieden in der Struktur weißer Blutzellen begründen: Auf deren Oberfläche sitzen – von Mensch zu Mensch verschieden geformte – Eiweißmoleküle, die es der Immunabwehr ermöglichen, eigene von fremden Zellen zu unterscheiden. Möglicherweise verfügen die Prostituierten über einen sehr seltenen Typ dieser sogenannten HLA-Moleküle. Fremde Blutzellen, in denen sich das Aidsvirus versteckt, sollten daher zu einer starken, möglicherweise schützenden Abwehrreaktion führen.

Eine andere Spur verfolgt Jay Levy, Mediziner an der Universität von Kalifornien in San Francisco. Ausgangspunkt seiner Überlegungen war die unterschiedliche Entwicklung in der Zahl der sogenannten CD4-Zellen, den bevorzugten Opfern des Virus. Bei Gesunden finden sich etwa 1000 von ihnen in einem Mikroliter (Millionstel Liter) Blut. Nach der Infektion fällt die Zahl dieser Abwehrzellen in der Regel auf die Hälfte herab. Doch erst bei Werten unterhalb von 200 CD4-Zellen, verschlechtern sich die Aussichten des Patienten dramatisch.

Der „CD4-Count“ wird daher von den meisten Infizierten mit großer Sorge verfolgt. Er stabilisiert sich bei den Langzeitüberlebenden in der Regel bei über 500 – irgendetwas bewahrt die verbleibenden CD4-Zellen vor dem Untergang. Levy glaubt nun, daß weiße Blutzellen des Typs CD8 den Schutzeffekt vermitteln können, wenn sie zuvor aktiviert wurden. Eine einzige dieser CDS-Zellen kann bei Langzeitüberlebenden 20 mit HIV infizierte CD4-Zellen in Schach halten. Dagegen ist das Verhältnis bei Aidskranken genau umgekehrt, vermutlich, weil die CD8- Zellen bei ihnen eben nicht angeregt wurden.

Wie aber geht nun die Aktivierung der CD8-Zellen vor sich? Und läßt sich dieser Prozeß auch bei anderen HIV-Infizierten auslösen? Jay Levy jedenfalls beantwortet die letzte Frage positiv: „Alle HIV- Infizierten könnten eines Tages zu Langzeitüberlebenden werden“, sagte er in Berlin. Voraussetzung sei allerdings ein äußerst präziser Eingriff in das hochkomplizierte Regelwerk des menschlichen Immunsystems. Dutzende verschiedener Zelltypen produzieren dort eine Vielzahl von Botenstoffen, mit denen die Aktivität aller Komponenten je nach Bedarf angekurbelt oder gebremst wird. Und Levy glaubt, in diesem Spiel die „Guten“ von den „Bösen“ unterscheiden zu können:

Eine Untergruppe der CD4-Zellen (TH1) produziert die Wachstumsfaktoren Interleukin-10 und Gamma-Interferon – körpereigene Substanzen, die als Angriffssignale für die CD8-Zellen dienen. Deren Gegenspieler (TH2) lösen dagegen lediglich die Produktion von Antikörpern aus, ohne jedoch dem HIV-Infizierten dadurch zu helfen. Schlimmer noch: „Wir sagen voraus, daß die TH2- Zellen die CD8-Zellen unterdrücken und so die Krankheit auslösen.“ Andererseits sollte „alles, was TH1 unterstützt und TH2 unterdrückt, das Virus in Schach halten“.

Trifft diese Annahme zu, dann wäre die Gabe von Interleukin-10 an HIV-Infizierte der nächste logische Schritt, um das Gleichgewicht in die gewünschte Richtung zu verschieben, meint Levy. Klinische Versuche werden zeigen müssen, ob der optimistische Theoretiker halten kann, was er verspricht.

(erschienen in der Süddeutschen Zeitung am 15. Juli 1993)

Urahn des AIDS-Virus gefunden?

Auf der Suche nach dem „Urahnen“ des menschlichen Aids-Virus HIV-I hat eine Münchner Forschergruppe das bislang urtümlichste Immunschwächevirus aufgespürt. Lutz Gürtler, Josef Eberle und Albrecht von Brunn vom Max-von-Pettenkofer-Institut der Universität berichteten über ihren aufsehenerregenden Fund auf der 9. Internationalen Aids-Konferenz, die kürzlich in Berlin stattfand.

Das Virus, dem die Biologen den Namen MVP 5180 gaben, wurde aus den weißen Blutzellen einer aidskranken Frau aus Kamerun isoliert, die im vergangenen Jahr an der Immunschwäche starb. Eine Untersuchung bei 261 Einwohnern des westafrikanischen Landes, die mit HIV-1 infiziert waren, ergab, daß MVP 5180 bei jedem zwölften Patienten nachzuweisen war. In Deutschland blieb die Suche nach dem neuen Virustyp dagegen bislang ebenso erfolglos wie in den afrikanischen Staaten Elfenbeinküste und Malawi.

Bei einer genauen Analyse des Erbguts stellte das Team um Lutz Gürtler fest, daß MVP 5180 sich von allen bisher bekannten menschlichen HIV-1-Typen deutlich unterscheidet. Sogar das aus Schimpansen isolierte Immunschwächevirus SIV scheint näher mit dem „gewöhnlichen“ HIV-1 verwandt zu sein als der Stamm, den die Münchner in Händen haben.

Spekulationen darüber, ob MVP 5180 das langgesuchte Verbindungsglied zu dem zweiten bekannten menschlichen Aidsvirus (HIV-2) darstellt, halten die Münchner allerdings für verfrüht. Glücklicherweise kann MVP 5180 mit den gebräuchlichen Bluttests nachgewiesen werden, die Sicherheit von Transfusionen ist demnach gewährleistet.

(erschienen in der Süddeutschen Zeitung am 24. Juni 1993.)

Originalarbeit: Gürtler LG, Hauser PH, Eberle J, von Brunn A, Knapp S, Zekeng L, Tsague JM, Kaptue L. A new subtype of human immunodeficiency virus type 1 (MVP-5180) from Cameroon. J Virol. 1994 Mar;68(3):1581-5. doi: 10.1128/JVI.68.3.1581-1585.1994.

Robert Gallo: Ideen gegen AIDS

Beim Duell der Rivalen gab es dieses Jahr auf der 9. Internationalen Aidskonferenz einen klaren Sieger: In Berlin gewann der Amerikaner Robert Gallo gegen den Franzosen Luc Montagnier deutlich nach Punkten. Gallo ist Abteilungsleiter am Nationalen Krebsinstitut der USA und wird von Kollegen und Konkurrenten gleichermaßen als brillant, erfolgreich und wenig zimperlich bei der Wahl seiner Mittel beschrieben. Er hatte den Delegierten einen bunten Strauß von Vorschlägen mitgebracht. Montagnier dagegen, der das Virus vor zehn Jahren am Pariser Pasteur-Institut als erster isolierte, konnte in diesem Jahr nur wenig Neues präsentieren.

„Viren gegen Viren“ lautet einer von Gallos Schlachtrufen, seit andere Wissenschaftler herausgefunden haben, daß ein scheinbar harmloses Herpesvirus die gleichen Bindungsstellen auf der Oberfläche bestimmter Immunzellen benutzt wie HIV, das tödliche Immunschwäche-Virus. Nur wenn das Aidsvirus an diese Bindungsstellen – die sogenannten CD4-Rezeptoren andocken kann, gelangt es auch ins Zellinnere, um dort sein zerstörerisches Werk zu beginnen. Gallo schlägt deshalb vor, Bruchstücke des gutartigen Herpesvirus in großen Mengen herzustellen. Im Körper von Gesunden und bereits infizierten Menschen könnten diese Bruchstücke dann möglicherweise alle Bindungsstellen besetzen und so das Eindringen und die Ausbreitung des Aidsvirus verhindern. Erste Versuche in diese Richtung sind bereits angelaufen, bisher allerdings ohne durchschlagenden Erfolg. Gallo hofft dennoch, damit „einen neuen Weg bei der Behandlung von Aids“ zu eröffnen.

Ein zweiter Vorschlag – ebenfalls von Gallo unterbreitet – ließ die anwesenden Wissenschaftler aufhorchen. „Es mag ein wenig seltsam klingen“, sagte er, „aber man könnte auch bestimmte Bestandteile befallener Immunzellen ins Visier nehmen, statt immer nur auf das Virus zu zielen.“ Der Vorstoß entbehrt nicht einer gewissen Logik, denn Viren sind als nahezu perfekte Parasiten darauf angewiesen, eine Vielzahl von Eiweißen zu nutzen, die von der Wirtszelle produziert werden. Wenn es gelänge, einen dieser Biokatalysatoren in infizierten Zellen lahmzulegen, ohne gleichzeitig die gesunden Nachbarn allzu sehr in Mitleidenschaft zu ziehen, wäre auch das ein vielsprechender Ansatz, glaubt Gallo.

Natürlich hat er auch schon einen Kandidaten ausgespäht: Ribonukleotid-Reduktase heißt das Eiweiß. In allen Zellen produziert es die Bausteine (Nukleotide), aus denen anschließend die Erbsubstanz DNA zusammengesetzt wird. Mit einer schon lange bekannten Laborchemikalie – Hydroxyharnstoff – läßt sich dieser Prozeß zwar nicht vollständig, aber doch so weit unterbinden, daß in der Zelle nur noch geringe Mengen an DNA-Bausteinen zur Verfügung stehen. Weil das Aidsvirus auf einen großen Vorrat von Nukleotiden angewiesen ist, um sich im Körper wirkungsvoll zu verbreiten, hofft Gallo, es mit Hydroxyharnstoff in Schach halten zu können. HIV würde dann zwar immer noch in infizierten Zellen schlummern, in diesem Stadium ist die Gesundheit des Virusträgers jedoch nicht merklich beeinträchtigt.

Zukunftsmusik zumindest bei der Behandlung oder Verhinderung einer HIV-Infektion ist gegenwärtig noch die Gentherapie. Mit Hilfe von im Labor „kastrierten“ Verwandten des Aidsvirus sollen dabei schützende Erbanlagen auf die gefährdeten Immunzellen übertragen werden. Selbst Gallo gibt zu, nicht sicher zu sein, ob diese Idee nicht auch in Zukunft bloßes Wunschdenken bleiben wird. Zwar gelang es im Tierversuch tatsächlich, bestimmte Viren als „Gentaxis“ zu benutzen, ihre heilbringende Fracht konnten sie jedoch bisher nur bei einem kleinen Bruchteil der Zellen abladen, die es zu schützen gilt.

Voraussetzung für eine erfolgreiche Gentherapie wäre es aber, 100 Prozent derjenigen Immunzellen zu erreichen, die normalerweise von dem Aidsvirus angesteuert werden. Regelrecht in Mode gekommen ist in letzter Zeit die sogenannte Antisense-Technik. Mit ihr wollen die Forscher bestimmte Gene des Aidsvirus gezielt abschalten. Antisense-Moleküle, die mittlerweile in vielen Labors kiloweise produziert werden, sollen sich an besonders wichtige Abschnitte des viralen Erbguts ankoppeln und so die Vermehrung verhindern. In Zellkulturen funktioniert die Technik bereits. Einer Handvoll Arbeitsgruppen ist es auf diese Weise sogar gelungen, die Vermehrung von Aidsviren über Monate hinweg völlig zu unterbinden.

Die leidvollen Erfahrungen der Vergangenheit zeigen allerdings, daß es vom Reagenzglas bis zum Krankenbett ein weiter Weg ist. Es steht zu befürchten, daß die meisten Menschen, die heute bereits mit dem Virus infiziert sind, diese Wartezeit nicht überleben werden.

(erschienen in der Stuttgarter Zeitung am 19. Juni 1993)

AIDS-Forschung: Fortschritte nur für die Reichen?

„Jeder schwarze Punkt repräsentiert 500 Infektionen mit dem Aidsvirus“, sagte Michael Merson – und warf einen kummervollen Blick auf die Landkarte Afrikas, die wie eine gewaltige, dunkle Wolke über den Köpfen der Delegierten schwebte. Acht Millionen Menschen sind auf dem Kontinent bereits mit dem Immunschwächevirus HIV infiziert, weltweit sind es über 13 Millionen, verlautete auf dem 9. Internationalen Aids-Kongreß, der letzte Woche in Berlin zu Ende ging.

„Ungenügend und unrealistisch“ sei die Reaktion der Völkergemeinschaft angesichts dieses Elends, empörte sich der ranghöchste Aidsbekämpfer der Weltgesundheitsorganisation WHO. Dann machte er die Bühne frei für die weltbesten Wissenschaftler, die trotz „deutlicher Fortschritte“, „neuen Perspektiven“ und „innovativen Ansätzen“ über eines nicht hinwegtäuschen konnten: Zehn Jahre nach der Entdeckung des Virus steht weder ein Impfstoff zur Verfügung, noch gibt es ein Heilmittel gegen Aids.

Angesichts überzogener Erwartungen und enttäuschter Hoffnungen gerieten in Berlin eine Reihe von Arzneimittel-Herstellern unter Beschuß. Die Firma Wellcome – Produzent des einzigen weltweit zugelassenen Medikamentes gegen Aids (AZT) – mußte sich von Medizinern vorwerfen lassen, daß die Substanz nur denjenigen nutzt, bei denen die Krankheit Aids bereits ausgebrochen ist. Die lange Zeit akzeptierte Meinung, AZT könne auch die Zeitspanne zwischen der Infektion mit dem Immunschwächevirus HIV und dem Ausbruch der Krankheit verlängern, scheint sich dagegen nicht zu bewahrheiten.

Dieses Ergebnis einer französisch-englischen Forschergruppe, die sogenannte Concorde-Studie, wurde erwartungsgemäß von Wellcome-Vertretern kritisiert. Doch die Untersuchung steht auf festen Füßen: Mit mehr als 1700 HIV-Infizierten, die über einen Zeitraum von fünf Jahren beobachtet wurden, ist die Concorde-Studie die größte und längste Erhebung in der Geschichte der Aids-Forschung.

Nicht nur bei AZT tut man sich schwer, die Wirksamkeit der Behandlung vorherzusagen. Was den Forschern fehlt, ist eine einheitliche Grundlage zur Bewertung des Krankheitsverlaufs, ein sogenannter Marker. Letztendlich ist natürlich dasjenige Medikament oder diejenige Therapie am besten, unter der die wenigsten Todesfälle oder die größten Gewinne an Lebenszeit zu beobachten sind.

Da Aids aber eine Krankheit ist, die sich verhältnismäßig langsam entwickelt und den Medizinern die Zeit davonläuft, behalf man sich bisher mit dem Zählen bestimmter Immunzellen. HIV infiziert und tötet diese sogenannten CD4-Zellen. Es erschien daher logisch, alle Medikamente und Therapien an ihrer Fähigkeit zu messen, den Rückgang der CD4-Zell-Zahl zu verlangsamen. Mehrere Studien hatten gezeigt, daß die frühzeitige Einnahme von AZT diesbezüglich erfolgreich war, lediglich die Schlußfolgerung war falsch, wonach sich dieser theoretische Vorteil auch in einer erhöhten Lebenserwartung für HIV-Infizierte niederschlagen würde.

Keinen Zweifel gibt es allerdings daran, daß AZT und ähnliche Medikamente das Fortschreiten der Erkrankung verlangsamen können. Deutliche Erfolge gab es auch bei der Behandlung der opportunistischen Infektionen – jener Bakterien, Pilze und Viren also, die für die immungeschwächten Aidskranken eine tödliche Bedrohung darstellen.

Nach dem Ausbruch der Krankheit lebt ein Infizierter heute doppelt so lange wie noch vor fünf Jahren – vorausgesetzt er wohnt in einem der westlichen Industrieländer und ist entweder reich oder gut versichert. Lautstark und medienwirksam hatten Selbsthilfegruppen wie „Act-Up“ bereits im Vorjahr gegen die ihrer Ansicht nach überhöhten Behandlungskosten protestiert. Unter dem Motto „wir krepieren – ihr macht Kasse“ attackierten sie in Amsterdam den Ausstellungsstand von Wellcome und forderten, die Medikamentenpreise drastisch herabzusetzen. Die Therapie mit AZT schlägt jährlich mit mehreren zehntausend Mark zu Buche.

In diesem Jahr richtete sich die Wut der Aktivisten gegen den Schweizer Pharmakonzern Hoffman LaRoche und die amerikanische Firma Astra, der eine „gewissenlose“ Preispolitik vorgeworfen wurde. Mitten in die Konferenz hinein platzte die Ankündigung des Bürgermeisters von New York, David Dinkins, man werde in städtischen Krankenhäusern soweit möglich alle Astra-Medikamente boykottieren. Grund für diese bislang einmalige Vorgehensweise sei die Weigerung der Firma, den Preis für Foscavir auf ein Drittel der gegenwärtigen Kosten von jährlich 30000 Dollar zu senken. Foscavir kommt bei der Behandlung von Zytomegalievirus-Infektionen zum Einsatz, einer Krankheit, die zur Blindheit führen kann und für die Aids-Kranke wegen ihres defekten Immunsystems besonders anfällig sind.

„Ich glaube, daß ihre Preisgestaltung für Foscavir über das hinausgeht, was für eine gewinnorientierte Firma normal ist. Für eine wachsende Zahl aidskranker Menschen, die in Gefahr sind, ihr Augenlicht zu verlieren, stellt es eine unverantwortliche Hürde dar, wesentlich mehr als 10000 Dollar zu verlangen“, formulierte der Bürgermeister in einem Schreiben an den Präsidenten von Astra, Lars Bildman.

Nicht nur Pharmavertreter äußerten in Berlin die Vermutung, Bürgermeister Dinkins hätte auch politische Motive für sein ungewöhnliches Vorgehen: Mit bisher rund 50000 gemeldeten Aids-Kranken und fast 200000 Infizierten ist New York längst die „Aids-Metropole der Vereinigten Staaten“, sagte Dr. Aaron Greenberg vom städtischen Gesundheitsamt. Rund die Hälfte der Betroffenen sind homosexuelle Männer. Die Unterstützung durch diese relativ finanzstarke und politisch engagierte Bevölkerungsgruppe hat in den USA schon des Öfteren über Sieg und Niederlage bei Wahlkämpfen entschieden.

Weniger politisch verliefen die Diskussionen über Fortschritte bei der Entwicklung eines Impfstoffes. Wie berichtet sind bereits rund zwei Dutzend verschiedener Kandidaten in der Erprobung. Allerdings handelt es sich dabei „nur“ um sogenannte frühe klinische Versuche. Dabei werden zunächst die Sicherheit und mögliche Nebenwirkungen eines Impfstoffes an einer kleinen Zahl gesunder Freiwilliger erprobt.

Optimismus verbreitete Dr. Dani Bolognesi vom Medizinischen Zentrum der Duke University im amerikanischen Bundesstaat North Carolina: „Große Studien mit tausenden von Teilnehmern werden wahrscheinlich in den nächsten zwei Jahren beginnen.“ Bis vor kurzem sei die Fähigkeit von Impfstoffkandidaten, eine Immunantwort in Gang zu bringen, enttäuschend gewesen. Inzwischen hätten aber die amerikanischen Biotech-Firmen Genentech und Chiron-Biocine sowie der französische Impfstoffhersteller Pasteur-Merieux „entscheidende Fortschritte“ erzielt. Jeweils drei bis vier Impfungen mit gentechnisch hergestellten Viruseiweißen waren für eine gute Stimulation der Immunantwort nötig. Streng genommen ist es derzeit aber nicht möglich vorherzusagen, ob die Geimpften „im Ernstfall“ auch wirklich geschützt sind.

Eine andere Strategie verfolgt Jonas Salk, der bereits 1954 den ersten Impfstoff gegen die Kinderlähmung entwickelte. Sein „therapeutischer Impfstoff“ soll das Fortschreiten der Infektion bremsen. Der Altmeister benutzt dazu chemisch inaktivierte Aidsviren, die bereits infizierten Patienten gespritzt wurden. Seit einem Jahr läuft der Versuch an 103 Freiwilligen, aber noch ist es zu früh für eine Bewertung. Bei den ominösen CD4-Zellen zeigte sich kein Unterschied zwischen behandelten und unbehandelten HIV-Infizierten. Das Erbmaterial des Virus scheint sich aber in geimpften Personen wesentlich langsamer zu vermehren. Ob dieser schwierig zu bestimmende Meßwert ein besserer Marker ist als die Zahl der CD4-Zellen, ist unter den Experten jedenfalls umstritten.

In den Laboratorien arbeiten unterdessen weltweit zehntausende von Molekularbiologen an neuen Ideen, die noch vor wenigen Jahren in den Bereich der Science-Fiction verwiesen wurden. Robert Gallo, Abteilungsleiter am Nationalen Krebsinstitut der USA gab den Delegierten einen Vorgeschmack auf mögliche Therapien des nächsten Jahrtausends.

Gallo, der von Kollegen und Konkurrenten gleichermaßen als brillant und wenig zimperlich in der Wahl seiner Mittel beschrieben wird, schlug unter anderem vor, Viren mit Viren zu bekämpfen. Das vergleichsweise harmlose Herpesvirus HHV7 benutzt nämlich die gleichen Bindungsstellen auf der Oberfläche der CD4-Zellen wie HIV. Mit Bruchstücken von HHV7 könnte man die Bindungsstellen besetzen und die Aidsviren vielleicht daran hindern, ins Zellinnere zu gelangen, um dort ihr zerstörerisches Werk zu beginnen.

Ein zweiter Vorschlag wurde, wie Gallo betonte, erstmals in Berlin vorgestellt. „Es mag ein wenig seltsam klingen, aber man könnte auch bestimmte Bestandteile der CD4-Zellen ins Visier nehmen, statt immer nur auf das Virus zu zielen.“ Da Viren zur Vermehrung auf die unfreiwillige Mitarbeit der infizierten Zellen angewiesen sind, könnte es genügen, die Hilfsaktion im entscheidenden Moment zu blockieren.

Natürlich hat Gallo bereits ein Ziel ins Auge gefaßt. Mit einer einfachen und billigen Substanz, die schon seit zwanzig Jahren zur Behandlung von Blutkrebs benutzt wird (Hydroxyharnstoff), läßt sich ein wichtiges Eiweiß lahmlegen, ohne die befallene Zelle oder ihre gesunden Nachbarn abzutöten. Ribonukleotid-Reduktase heißt das komplizierte Molekül; es produziert die Bausteine, aus denen die Gene von Menschen und Viren zusammengesetzt sind. Mit Hydroxyharnstoff ließe sich das Virus zwar nicht völlig beseitigen, räumt Gallo ein. Wenn es allerdings gelänge, HIV so weit in Schach zu halten, daß es nur noch im Dämmerschlaf in einigen wenigen Immunzellen existiert, wäre dies ein enormer Fortschritt.

Zukunftsmusik ist für den Superstar der amerikanischen Aidsforschung gegenwärtig noch die Gentherapie zur Verhinderung oder Behandlung einer HIV-Infektion. Mit „umgebauten“ Viren sollen dabei schützende Gene auf die gefährdeten Immunzellen übertragen werden. Das Prinzip funktioniert bereits bei der Behandlung einer seltenen Immunschwäche, der ADA-Defizienz. Dort genügt es allerdings, das fehlende Gen in einige wenige Zielzellen zu transportieren, um den Zustand des Patienten merklich zu bessern.

Bei Aids müßten dagegen 100 Prozent der gefährdeten Immunzellen erreicht werden, um einen zuverlässigen Schutz zu erreichen. Selbst Gallo ist sich nicht sicher, ob solch ein Unternehmen nicht für immer Zukunftsmusik bleibt.

So unterschiedlich die Strategien auch sein mögen, alle Ansätze haben eines gemeinsam: die Kosten machen sie für den überwiegenden Teil der Betroffenen unerschwinglich. Vier von fünf Infizierten leben bereits heute in Ländern der Dritten Welt. Aids droht, eine Seuche der Armen zu werden. Doch selbst reiche Länder wie die Bundesrepublik werden bluten müssen. Schon jetzt zahlen Versicherungsunternehmen jährlich 500 Millionen Mark für die Versorgung der rund 2000 Menschen, die bei uns pro Jahr an Aids erkranken. Dabei steht Deutschland dank intensiver Aufklärungsmaßnahmen im internationalen Vergleich sehr gut da. Meinrad Koch, Leiter des Aids-Zentrums des Bundesgesundheitsamtes ist „persönlich sehr stolz“ auf diesen Erfolg, glaubt aber, daß sich die Zahl der Neuinfektionen nochmals halbieren ließe, wenn nur genug Geld für Aufklärungsmaßnahmen zur Verfügung stünde.

Geld will auch Michael Merson, Hauptverantwortlicher für die Aids-Bekämpfung bei der Weltgesundheitsorganisation. Mit jährlich 2,5 Milliarden Dollar könnten bis zur Jahrtausendwende 10 Millionen Menschen vor der Ansteckung bewahrt werden, so seine Hochrechnung. Die Zahl der Neuinfektionen könnte also praktisch halbiert werden. „Die Summe von 2,5 Milliarden Dollar mag Ihnen astronomisch erscheinen“, sagte Merson. „Tatsächlich ist das etwa ein Zwanzigstel des Betrages, der für den Golfkrieg ausgegeben wurde.“

(redigierte Fassung erschienen in der Süddeutschen Zeitung)

Kommentar: Das Sterben geht weiter

Das alljährliche Aids-Spektakel geht zu Ende, das Sterben geht weiter. Auf der 9. Internationalen Aids-Konferenz in Berlin wurden, wie auch schon bei den acht vorangegangenen Treffen, zahlreiche Maßnahmen vorgestellt, mit denen sich die Seuche ohne Zweifel eindämmen ließe. Die wichtigste Forderung: Geld. Geld für Aufklärungsmaßnahmen würde nach einer Schätzung der Weltgesundheitsorganisation die Zahl der Neuinfektionen halbieren. Etwa zehn Millionen Menschen könnten dadurch bis zur Jahrtausendwende vor der Infektion mit dem tödlichen Virus bewahrt werden.

Rund zehn Millionen Menschenleben hängen also davon ab, ob die Völker der Welt bereit sind, jährlich etwa vier Milliarden Mark zur Verfügung zu stellen. Die Agrarsubventionen der EG belaufen sich auf das Zehnfache dieses Betrags, um nur ein Beispiel von vielen zu nennen. Durch eine systematische und breitgefächerte Aids-Prävention könnte weltweit unendlich viel Leid vermieden werden, und das, zum Unterschied von Eingriffen in Krisengebieten und Bürgerkriegsherden, ohne das Risiko, daß dabei auch nur ein Tropfen Blut vergossen wird. Zukünftige Generationen werden uns daran messen, ob wir imstande und bereit sind, diese einmalige Chance zu erkennen und zu nutzen.

(meine Gedanken zum Umgang der Politik mit der AIDS-Krise durfte ich am 11. Juni 1993 in der Stuttgarter Zeitung äußern)