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Ärztliche Entscheidungen unter der Lupe

Fehlendes Wissen, fehlende Daten und fehlende Zeit sind die größten Hindernisse für unsere Ärzte, wenn es darum geht, immer wieder die bestmögliche Behandlung für jeden einzelnen Patienten zu ermitteln. Diese Erfahrung ist für Professor Gerhard Riecker, Direktor der Medizinischen Klinik I am Münchner Klinikum Großhadern Anlaß, die Medizin als „Kunst im Umgang mit unsicherem Wissen“ zu definieren.

Zusammen mit einer wachsenden Zahl von Kollegen beschäftigt sich Riecker mit der Frage, wie Ärzte zu ihren Entscheidungen gelangen, von denen Wohl und Wehe, manchmal auch Leben und Tod ihrer Patienten abhängen. Keine Bibliothek der Welt ist heute groß genug, um die gesammelten Weisheiten der Medizin auch nur zu lagern, die seit Hippokrates durch Heerscharen fleißiger Forscher zusammengetragen wurden. Über 30000 verschiedene Fachzeitschriften konkurrieren um die Aufmerksamkeit der Heilkundigen; Riecker schätzt, daß das verfügbare Wissen in der Medizin etwa alle zehn Jahre um die Hälfte zunimmt.

Natürlich muß nicht für jeden Patienten das gesamte medizinische Wissen der Neuzeit durchforstet werden. Bei einem erfahrenen Arzt genügen die sorgfältige Erhebung der Krankheitsgeschichte (Anamnese) und die Resultate der Eingangsuntersuchung, um in 60 bis 90 Prozent aller Fälle die richtige Diagnose zu stellen, so Riecker. Dabei spielen die Beurteilung und Verknüpfung der beobachteten Krankheitszeichen (Symptome) die entscheidende Rolle. Einzelne Daten wie Alter und Geschlecht des Patienten, die Häufung bestimmter Krankheiten in der Familie, die Einnahme von Arzneimitteln, Hinweise auf äußere Umstände wie verdorbene Lebensmittel oder eine umgehende Grippewelle bilden einige der Mosaiksteinchen, die im Idealfall durch den Scharfsinn des Mediziners zu einem umfassenden und eindeutigen Krankheitsbild ergänzt werden.

Im Vordergrund steht derzeit noch immer die Intuition des Arztes, die Fähigkeit, etwas zu verstehen, noch bevor alle Details bewußt wahrgenommen werden. Besonders gefragt ist diese Tugend in der Notfallambulanz, wo jede Sekunde zählt, um beispielsweise Verkehrsopfern mit inneren Verletzungen das Leben zu retten. Wie aber erwirbt man den klinischen Scharfsinn und was kann getan werden, um fatale Fehlentscheidungen zu verhindern?

Dieser Frage widmet sich an der Universität Marburg Professor Wilfried Lorenz, Leiter des Institutes für Theoretische Chirurgie. Er berichtete über eine Fallstudie an fünf Oberärzten. Intuition, so stellte sich dabei heraus, kann durchaus ein zweischneidiges Schwert sein. „Vier der fünf Ärzte stellten exzellente Diagnosen aus dem Bauch heraus. Einer aber lag bei 38 Prozent Richtigkeit.“ – Eine erschreckend niedrige Quote, die laut Lorenz zeigt, welche Vorteile für den Patienten von einer objektivierten Entscheidungsfindung zu erwarten sind.

In Zusammenarbeit mit der Allgemeinchirurgie versucht man deshalb in Marburg schon seit gut 20 Jahren, die Entscheidungsfindung der Kollegen durch neue Konzepte, Methoden und Strukturen zu erleichtern. Denn „großes technisches Vermögen in der Chirurgie ist zwar eine Notwendigkeit, aber nicht alles.“ Dem begegnete man in Marburg durch die Schaffung von kleinen Arbeitsgruppen, in denen theoretische und praktische Chirurgen, Studenten und technisches Personal wenigstens einmal pro Woche zusammentreffen, um die verschiedenen Methoden der Entscheidungsfindung auf aktuelle Probleme anzuwenden.

So ging es in einer Arbeitsgruppe um das relativ häufige Zwölffingerdarmgeschwür, für das mehrere Möglichkeiten der Behandlung zur Verfügung stehen: Läßt man den Dingen ihren natürlichen Lauf, so wird das Geschwür bei einigen Patienten von selbst ausheilen, bei der Mehrzahl der Kranken wird es wiederkehren, ohne großen Schaden anzurichten. Die Statistik verrät aber auch, daß es bei jedem sechsten unbehandelten Patienten zu Komplikationen kommen wird; jeder Zehnte aus dieser Gruppe bezahlt sie schließlich mit seinem Leben.

Verabreicht der Arzt Medikamente, so muß zwar mit Nebenwirkungen gerechnet werden, jeder zweite Kranke wird aber im ersten Anlauf vollständig geheilt. Die Sterblichkeit ist natürlich geringer als bei den unbehandelten Patienten, beträgt aber immer noch ein Prozent. Noch etwas besser schneidet die dritte Möglichkeit ab: Ein operativer Eingriff, bei dem verschiedene Abzweigungen des Eingeweidenervs gekappt werden. Allerdings ist die Operation selbst mit einem nicht unerheblichen Risiko verbunden, dem auch solche Patienten ausgesetzt wären, die womöglich ohne weiteres Zutun gesundet wären.

All diese Möglichkeiten werden nun in einem Entscheidungsbaum skizziert, einem Diagramm, das ausgehend von der Diagnose „Zwölffingerdarmgeschür“ sich immer weiter verzweigt bis zu einem vorgegebenen Endpunkt – in diesem Fall die Frage, ob die Patienten fünf Jahre nach Behandlungsbeginn noch am Leben sind. Die Entscheidung, einen bestimmten Weg zu gehen, ergibt sich dann nicht nur aus den unmittelbaren Folgen einer Entscheidung, sondern auch aus den Folgen der Folgen, die auf der Grundlage der Statistik in Zahlen gefaßt werden können.

Während früher als Endpunkt der Behandlung oft nur die zwei Extreme „Leben“ oder „Tod“ unterschieden wurden, versuchen neuere Modelle auch andere Aspekte zu berücksichtigen. So rückt bei der Behandlung von Krebspatienten die Lebensqualität immer mehr in den Mittelpunkt. Lorenz nennt als Beispiel Erkrankungen des Enddarms, bei denen durch eine radikale Operation die Schaffung eines künstlichen Darmausganges notwendig wird. „Wir haben bisher immer geglaubt, daß dies für einen Patienten das Schlimmste ist und wir haben deshalb alles versucht, Operationsverfahren zu entwickeln, um diesen Schritt zu vermeiden.“

Der Nachteil bestand darin, daß durch diese Haltung das Risiko wuchs, den Krebsherd nur unvollständig zu beseitigen, was tödliche Folgen haben kann. „Unsere Lebensqualitätsforschung hat nun ergeben, daß auch ältere Patienten den künstlichen Darmausgang oft gut vertragen. Das Gefühl, ´es ist alles ´raus´ hat die Lebensqualität dieser Menschen unglaublich positiv beeinflußt“, schildert Lorenz das überraschende Ergebnis.

Inzwischen wird die Theoretische Chirurgie in Deutschland an sechs Kliniken betrieben und kann sich im internationalen Vergleich durchaus sehen lassen. Ihre Resultate erreichen nach Schätzung von Lorenz etwa die Hälfte der Chirurgen. Wenig systematische Entscheidungsfindung wird dagegen in den Praxen niedergelassener Ärzte betrieben, wo die weitaus meisten Patienten behandelt werden. Ein „Riesendefizit“ sieht Lorenz auch in der Inneren Medizin. „Die muß das dringendst einführen; sie ist viel zu sehr biomedizinisch ausgerichtet“.

Der Einsatz von Computern zur Diagnose von Krankheiten steckt ebenfalls noch in den Kinderschuhen. Eine Deutung der vorliegenden Daten durch die Rechenknechte „liefert keine gewünschte Zusatzinformation, sondern bedroht scheinbar die geistige Leistung des Arztes“, erklärt Dr. Christian Ohmann von der Abteilung Theoretische Chirurgie der Chirurgischen Klinik der Düsseldorfer Heinrich-Heine-Universität.

Der theoretische Mediziner hat angesichts der oft umständlichen und zeitraubenden Bedienung der Geräte Verständnis für diese Haltung, verweist aber dennoch auf mehrere Systeme, deren Nutzen eindeutig nachgewiesen ist. „Die Einführung der computerunterstützten Diagnose bei akuten Bauchschmerzen hat zu einer erheblichen Reduktion diagnostischer und therapeutischer Fehler geführt.“ An acht englischen Kliniken konnte die Trefferquote bei der Ermittlung der Krankheitsursache von 57 auf 74 Prozent erhöht werden, gleichzeitig sank die Zahl der Eingriffe, bei denen die Bauchdecke unnötigerweise eröffnet wurde, von 25 auf 10 Prozent. Auch bei der Beurteilung von Brustschmerzen kann Kollege Computer Erfolge vorweisen: Durch Analyse der Beschwerden und des Elektrokardiogramms gelang es, die Zahl der Patienten, die ins Krankenhaus aufgenommen werden mußten, um fast ein Drittel zu senken, ohne daß dabei ernsthaft kranke Menschen übersehen wurden.

Neben diesen beiden Ausnahmen sei der Einsatz computerunterstützter Diagnosemodelle gegenwärtig aber weder für die Routinearbeit noch für die Aus- und Weiterbildung der Ärzte zu empfehlen, meint Ohmann. Der Grund für die Zurückhaltung liegt vor allem darin, daß die bestehenden Systeme bisher nicht ausreichend getestet wurden. Riecker ist dagegen optimistisch, daß Computer schon in fünf Jahren fast flächendeckend an der Entscheidungsfindung beteiligt werden. Ein Expertensystem für die Diagnose von Herz-Rhythmus-Störungen soll Ende des Jahres fertig sein und mit Unterstützung des Heidelberger Springer-Verlages als preiswertes und benutzerfreundliches PC-Programm vertrieben werden. Als weitere Fachrichtungen, auf denen der Computer sich als besonders hilfreich erweisen könnte, nennt der Mediziner Endokrinologie, Neurologie, Intensivmedizin, klinische Chemie und Vergiftungen.

Auch Riecker räumt ein, daß sich vor allem ältere Kollegen mit der Akzeptanz derartiger Systeme schwertun. „Die ältere Generation meidet das wie der Teufel, bei denen ist es ja schon verpönt, in Anwesenheit des Patienten in das Lehrbuch zu schauen. Aber unsere jüngeren Assistenten sind regelrechte Computerfreaks – da kann man nur staunen.“ Durch den stattfindenden Generationswechsel werde sich die rechnergestützte Entscheidungsfindung schnell durchsetzen. Die von Experten in Zusammenarbeit mit Informatikern erstellten Programme ließen sich auch schneller an aktuelle Entwicklungen anpassen; ein „Upgrade“ der entsprechenden Disketten könnte bei entsprechend großer Verbreitung etwa alle ein bis zwei Jahre für „rund 50 Mark“ geliefert werden, meint Riecker.

Im Gegensatz zum Rat eines Computers werden die Empfehlungen sogenannter Konsensuskonferenzen von allen Medizinern anerkannt. Dabei kommen Experten aus verschiedenen Teilgebieten der Medizin zusammen mit dem Ziel, ein Standardprotokoll zur Behandlung einer Krankheit zu entwickeln. Den größten Einfluß auf das Urteil dieser Experten haben in der Regel klinische Studien, die nach sehr strengen Regeln an einer großen Zahl von Patienten und gleichzeitig an mehreren Orten durchgeführt werden. Geht es zum Beispiel um den Vergleich zweier Medikamente, die den Bluthochdruck bekämpfen sollen, wird Verteilung und Verpackung der fraglichen Pillen so organisiert, daß weder die Patienten noch die behandelnden Ärzte wissen, wer welche Arznei erhält. Um eine Verfälschung der Resultate durch persönliche Meinungen und Erwartungen zu verhindern, werden diese Informationen bis zum Abschluß der Studie in einem geschlossenen Umschlag hinterlegt.

Erst dann wird kontrolliert, welches der beiden Medikamente den Blutdruck wie stark gesenkt hat, in welchem Zeitraum dies geschehen ist und welche Nebenwirkungen dabei auftraten. Natürlich werden diese Studien auch in den entsprechenden Fachzeitschriften veröffentlicht, doch dringt die Neuigkeit schneller zu den niedergelassenen Ärzten vor, wenn sie in Form von Leitlinien und Empfehlungen einer Konsensuskonferenz gefaßt wird. Unbestritten ist, daß Expertensysteme und Entscheidungsbäume, Lebensqualitätsanalysen und Konsensuskonferenzen dazu beitragen können, die Heilungschancen für den Patienten zu erhöhen. Sicher ist aber auch, daß trotz aller Entscheidungshilfen die Verantwortung für jeden Entschluß auch in Zukunft ganz allein auf den Schultern des behandelnden Arztes lastet.

(in gekürzter Form erschienen in der Süddeutschen Zeitung am 9. Dezember 1993)

BH gegen Brustkrebs

Mit einem Büstenhalter voll moderner Messelektronik soll das Risiko, an Brustkrebs zu erkranken, ermittelt werden. Der von dem Pathologieprofessor Hugh Simpson an der Universität Glasgow entwickelte BH verfügt über 16 Temperaturfühler, die ihre Messungen im Abstand von 64 Sekunden vornehmen. Bis zu 4000 Messwerte können gespeichert und zur Auswertung direkt in einen Computer eingespeist werden.

Simpson und sein Kollege Keith Griffiths vom Tenovus Institut in Cardiff werteten die Temperaturschwankungen in der Brust während des weiblichen Zyklus aus, die bei 15 Probandinnen ermittelt wurden. Gemäß den Vorhersagen der Forscher hatten vorbelastete Frauen, denen bereits einmal Krebsgewebe entfernt worden war, eine Temperaturkurve, die sich deutlich von der unbelasteter Probandinnen unterschied.

Bei Frauen, die keiner Risikogruppe angehören, ändert sich demnach die Brusttemperatur mit der Menge des Schwangerschaftshormons Progesteron im Blut. Dies führt dazu, dass die Brüste ihre höchste Temperatur vier Tage nach dem Hormonmaximum erreichen. In den vorbelasteten Frauen allerdings war dieser Zusammenhang zwischen Hormonzyklus und Brusttemperatur verloren gegangen.

Simpson und Griffiths halten es für möglich, dass ihre Erfindung Frauen mit erhöhtem Krebsrisiko schon Jahre vor der Entwicklung einer Geschwulst erkennen kann. Allerdings dämpften die Forscher allzu hohe Erwartungen mit dem Hinweis, dass die bisherigen Erkenntnisse noch durch weitere Forschungen bestätigt werden müssen.

(erschienen in der WELT vom 24. Juni 1990)

Quelle: Vines, G: Bra measures younger women’s risk of cancer. New Scientist, 17. März 1990

 

Die Spürhunde des Immunsystems

Warum gibt es trotz jahrzehntelanger Forschung immer noch nicht die „Pille gegen den Krebs“, jene „magischen Kugeln“, von denen zur Jahrhundertwende einer der Väter der Immunologie, Paul Ehrlich, träumte? Tumoren, so meinte er, wurden Strukturen aufweisen, die bei gesunden Zellen nicht vorkommen. Das Immunsystem würde diese „tumorspezifischen“ Strukturen (Antigene) erkennen und die meisten kranken Zellen vernichten.

Nach den tumorspezifischen Antigenen suchen die Wissenschaftler noch heute. Als wichtigstes Werkzeug dient ihnen dabei eine besondere Klasse von Biomolekülen, die der Organismus zur Abwehr fremder Substanzen herstellt, die Antikörper. Diese Y-förmigen Eiweißmoleküle werden von den B-Zellen des Immunsystems gebildet. Man schätzt, dass sie zwischen einer und hundert Millionen verschiedene Antikörper produzieren. Jeder dieser Antikörper erkennt nur eines von unzähligen möglichen Antigenen.

Georges Köhler entwickelte 1974 ein Verfahren, mit dem sich einzelne Antikörper beliebig vermehren ließen. Heute ermöglichen diese „monoklonalen“ Antikörper (mAKs) eine rasche Identifizierung von Mikroorganismen und helfen bei der Diagnose vieler Krankheiten. Auch für die Erkennung und Behandlung von Krebserkrankungen erhofften sich die Forscher Fortschritte von den mAKs. Doch der Optimismus war voreilig – diese Bilanz zog jetzt Prof. Sabine von Kleist (Freiburger Institut für Immunbiologie) auf der 62. Titisee-Konferenz des Boehringer Ingelheim Fonds.

Herstellung monoklonaler Antikörper am Nationalen Krebsforschungsinstitut der USA (NCI)

Einig waren sich die Forscher darin, dass mAKs zwar keine Wunder vollbringen können, dennoch aber schon heute in der Diagnose von Krebs eine wichtige Rolle spielen. „Ich glaube nicht, dass die Krebserkennung mit monoklonalen Antikörpern zur Routinetechnik wird, vielmehr wird dies immer nur eine zusätzliche diagnostische Maßnahme sein“, so dämpft Frau von Kleist die Hoffnungen. Denn obwohl es viele sogenannte Tumor-Marker gibt, Moleküle also, die auf Krebszellen gehäuft auftreten, blieb die Suche nach Molekülen, die ausschließlich auf Tumoren zu finden sind, beim Menschen bisher erfolglos. Die Hoffnung, mit mAKs alle Krebserkrankungen nachweisen zu können, bleibt daher Illusion.

Für Lungen-, Brust- und Leberkrebs etwa liegt die „Trefferquote“ zwischen 60 und 90 Prozent. Die meisten Tumoren werden heute durch Röntgenverfahren und mit Hilfe der Computertomographie entdeckt. Antikörper kommen besonders dann zum Einsatz, wenn Verdacht auf eine Krebserkrankung besteht, diese jedoch mit herkömmlichen Verfahren nicht nachgewiesen werden kann.

Auch bei Patienten, denen bereits ein Tumor entfernt wurde, sind mAKs zur Kontrolle wichtig. Sie können nämlich neu auftretende Geschwülste bereits in sehr frühem Stadium erkennen. Diese Information erleichtert es dem Arzt dann, seine Behandlung so abzustimmen, dass maximale Heilungschancen mit möglichst geringen Nebenwirkungen verbunden sind.

Um das Wiederfinden der Antikörper überhaupt zu ermöglichen, werden sie chemisch mit radioaktiven Substanzen oder mit Farbstoffen „gekoppelt“. Einmal in die Blutbahn des Patienten gelangt, suchen sie sich wie Spürhunde ihr Ziel und „beißen“ sich daran fest. Die Strahlung, die beim radioaktiven Zerfall entsteht, ermöglicht es dann, die Position zuvor unsichtbarer Krebszellen zu ermitteln. Die farbigen Antikörper dagegen verraten sich erst bei der mikroskopischen Betrachtung von Gewebeproben durch ein intensives grünes oder rotes Leuchten.

Schon bald nach der Aufklärung der komplizierten Regeln, nach denen diese Moleküle aus mehreren Eiweißketten zusammengesetzt werden, versuchten einige Forscher, die Eigenschaften der Antikörper gezielt zu verändern. So ist etwa die „Lebenserwartung“ eines Antikörpers von einem Baustein abhängig, der als „Konstante Region“ bezeichnet wird und etwa dem Stamm des Ypsilon entspricht. Jim Primus nutzt diese Erkenntnis, um Antikörper mit maßgeschneiderter Lebensdauer zu produzieren. Kurzlebige mAKs für die Tumorerkennung, langlebige für die gezielte Zerstörung von entarteten Zellen sind das Ziel dieser Arbeit.

Dazu bringt Primus jeweils eines von mehreren möglichen Genen für die Konstante Region in seine Zellen. An Mäusen erprobt Primus derzeit Antikörper, die nur aus einer, statt aus vier Eiweißketten bestehen. Diese Kunstprodukte sollten besser verträglich sein und wegen ihrer reduzierten Größe schneller in den Tumor eindringen können.

Langfristig sollen Antikörper nicht nur beim Nachweis, sondern auch bei der Zerstörung von Tumorzellen zum Einsatz kommen. Dabei werden die Antikörper mit einem „Sprengsatz“ versehen. Dazu koppelt man starke Gifte an die mAKs, die dann direkt am Tumor ihre tödliche Wirkung entfalten. Auch stark radioaktive Substanzen werden benutzt. Beim Zerfall dieser Stoffe werden die gebundenen Zellen mit energiereicher Strahlung bombardiert und – im Idealfall – abgetötet. In Tierversuchen wurden mit dieser Behandlungsform schon erste Erfolge erzielt, die Anwendung am Menschen aber macht nur langsame Fortschritte.

Jean-Piere Mach vom Biochemischen Institut der Universität Lausanne warnt vor allzu hohen Erwartungen. Der Mediziner war einer der ersten, der radioaktiv markierte Antikörper am Patienten erprobte. Das Problem besteht darin, das Zerstörungspotential der „vergifteten“ Eiweißstoffe auf die Tumorzellen zu begrenzen. Hier schließt sich der Kreis: Auch die mAKs sind nicht spezifisch genug; sie binden an gesunde Zellen und strahlen auf ihrem Weg durch die Blutbahn. In der Regel wird dabei das blutbildende Knochenmark derart in Mitleidenschaft gezogen, dass eine Transplantation erforderlich ist.

Obwohl Mach eine enorme Strahlungsdosis (2000 bis 3000 rad) auf die Krebszellen zu richten vermag, können Heilungserfolge nur bei einem kleinen Teil der Patienten erzielt werden. Gelänge es, durch verbesserte Antikörper die Belastung für gesundes Gewebe konstant zu halten und die Dosis für die Krebszellen nochmals zu verdoppeln, ließen sich deutlich bessere Resultate erzielen.

Vielleicht aber sind die mAKs gar nicht das Ei des Kolumbus. Mit einer „aktiven Immuntherapie“ will Volker Schirrmacher vom Deutschen Krebsforschungszentrum in Heidelberg die Killerzellen (zytotoxische T-Lymphozyten) des menschlichen Körpers aktivieren. Diese besonders schlagkräftigen Zellen sind ohne fremde Hilfe nicht in der Lage, Tumorzellen zu erkennen.

Schirrmacher entfernte bei Mäusen operativ einen Tumor, der bereits begonnen hatte, lebensbedrohliche Tochtergeschwüre zu bilden. Dann infizierte er die so gewonnenen Krebszellen im Reagenzglas mit einem für Menschen ungefährlichen Virus. Die infizierten Tumorzellen wurden schließlich bestrahlt, um sie an einer weiteren Vermehrung zu hindern, und den Mäusen als Impfstoff verabreicht. In verschiedenen Versuchsreihen überlebten zwischen 50 und 80 Prozent der so behandelten Tiere; Mäuse, denen nur der primäre Tumor entfernt worden war, starben dagegen allesamt an dessen aggressiv wuchernden Tochtergeschwüren.

„Wir glauben, dass wir die Tumorzellen ausgelöscht haben und nicht nur deren Wachstum verlangsamen konnten“, kommentiert der Immunologe. Doch was war passiert? Schirrmacher vermutet, dass die geheilten Mäuse ihr Leben den Viren verdanken. Offenbar wurden Tumorantigene in Kombination mit Virusbestandteilen so präsentiert, dass die Killerzellen die fremden Strukturen erkennen konnten. Zusätzlich könnten die Viren zur Produktion von Signalmolekülen wie Interferon und Interleukin geführt haben und somit ein ganzes Spektrum von verschiedenen Immunzellen aktiviert haben.

Mittlerweile wurde diese Art der Krebstherapie bereits an den ersten Patienten erprobt. Die Hinweise darauf, dass das Immunsystem auf diese Art der Impfung reagiert, sind deutlich, schwere Nebenwirkungen waren nicht zu beobachten. Noch ist aber nicht genug Zeit verstrichen, um auch einen möglichen Heilungserfolg der aktiven Immuntherapie zu beurteilen.

Mittlerweile wurde diese Art der Krebstherapie bereits an den ersten Patienten erprobt. Die Hinweise darauf, daß das Immunsystem auf diese Art der Impfung reagiert sind deutlich, schwere Nebenwirkungen waren nicht zu beobachten. Noch ist nicht genug Zeit verstrichen, um auch einen möglichen Heilungserfolg der aktiven Immuntherapie zu beurteilen.

„Krebs ist zu schwer“, soll Ehrlich resigniert haben, nachdem jahrelange Versuche gescheitert waren, einen Impfstoff zu entwickeln. Auch wenn die „Pille gegen den Krebs“ ein Wunschtraum bleiben wird: die Erfolge der letzten Jahre nähren die Hoffnung, den Altvater der Immunologie doch noch zu widerlegen.

(leicht gekürzt erschienen in der WELT am 9. Juni 1990. Letzte Aktualisierung am 12. März 2017)

Was ist daraus geworden? Der Besuch meiner ersten Titisee-Konferenz im Jahr 1990 hat mich damals fasziniert – auch wenn die Stimmung angesichts nur langsamer Fortschritte eher gedämpft war. Viele der dort versammelten Wissenschaftler sollten später bedeutende Beiträge im Kampf gegen den Krebs leisten. Der Eingangs erwähnte Georges Köhler hatte für seine Methode zur Zucht monoklonaler Antikörper im Jahr bereits im Jahr 1984 den Medizin-Nobelpreis bekommen und verstarb 1995 an einer Lungenentzündung. Sein Vermächtnis besteht aus einer gewaltigen Zahl von monoklonalen Antikörpern, die heute sowohl bei der Diagnose, als auch bei der Therapie vieler Krebsarten zum Einsatz kommen.