In den 1990er Jahren wurde ich häufig von meinen Kunden auf medizinische Fachkonferenzen geschickt, einschließlich sogenannter Satellitensymposien, die dort von den Herstellern neuer Medikamente veranstaltet wurden. Dabei traten reihenweise mehr oder weniger renommierte Ärzte auf, die – natürlich gegen Honorar – ihre Argumente für die neuen und gegen die alten Präparate vortrugen. Die Kosten der Journalisten für die Anreise und Unterbringung wurden in aller Regel ebenfalls von der Pharmaindustrie übernommen, was natürlich Zweifel an der Glaubwürdigkeit dieser Veranstaltungen weckt. Doch ganz so einfach ist es nicht, denn auch Satellitensymposien bieten oftmals hochwertige Informationen, wie das folgende Beispiel zeigt:

Trizyklische Antidepressiva (TCA) werden bei schweren Gemütskrankheiten noch immer häufiger verschrieben als Monoaminooxidase-Hemmer und die recht neue Klasse der selektiven Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer (SSRI) zusammen. Zwar gibt es keine Beweise für eine bessere Wirksamkeit der neuen Präparate gegenüber den „klassischen“ TCA; in puncto Sicherheit und Verträglichkeit ergeben sich jedoch deutliche Unterschiede zwischen den verschiedenen Medikamenten-Klassen. Die Frage, inwieweit diese Unterschiede neue Standards bei der Therapie von Depressionen rechtfertigen, stand im Mittelpunkt eines Satelliten-Symposiums der Firma SmithKline Beecham während des 6. Kongresses des European College of Neuropsychopharmacology in Budapest.

Als großen pharmakologischen Vorteil der SSRIs benannte Professor Yves Lecrubier vom Pariser Hôpital de la Salpêtrière deren niedrige Affinität für α- und ß-adrenerge Rezeptoren. Paroxetin, Fluvoxamin, Fluoxetin und das in Deutschland noch nicht zugelassene Sertralin hätten deshalb keine kardiovaskulären Wirkungen, was zur Sicherheit beitrage. Die ebenfalls geringe Affinität für muskarinische Rezeptoren verhindere ebenso wie die fehlenden Wechselwirkungen mit histaminischen Rezeptoren eine Beeinträchtigung der geistigen Leistungsfähigkeit. „Die Akzeptanz der SSRIs in den meisten Ländern beruht wahrscheinlich nicht auf deren Wirksamkeit, sondern auf dem günstigen Nebenwirkungsprofil“, mutmaßte Lecrubier. Die neuen Antidepressiva schienen ihm zwar gleichermaßen wirksam wie die älteren Substanzen, es fehle aber noch der Nachweis, daß Subpopulationen depressiver Patienten unter kurzfristiger Therapie mit SSRIs oder den neueren MOA-Hemmern besser ansprechen würden.

Zur oftmals postulierten „vergleichbaren Wirksamkeit“ von selektiven Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmern mit trizyklischen Antidepressiva wurden auf einer begleitenden Presseveranstaltung neue Daten präsentiert. So berichtete der niedergelassene Arzt Dr. Peter Stott aus dem britischen Tadworth über eine Studie Paroxetin (täglich 20 Milligramm) versus Amitriptylin (täglich 75 Milligramm) an über 500 Patienten im Alter von 18 bis 65 Jahren. Alle Probanden hatten zu Beginn der Untersuchung mindestens einen Wert von 16 auf der Montgomery-Asberg Depressionsskala und über 11 Einheiten auf der „Clinical Anxiety“-Skala.

Im Verlauf der achtwöchigen Therapie sanken die Werte in beiden Gruppen auf beiden Skalen praktisch parallel auf weniger als die Hälfte der Eingangswerte. Anticholinerge Nebenwirkungen wurden in der Amitriptylin-Gruppe signifikant häufiger beobachtet, ebenso Mundtrockenheit, welche unter dem trizyklischen Antidepressivum mit 27 Prozent die häufigste Nebenwirkung darstellte. Dagegen klagten in der Paroxetin-Gruppe 19 Prozent der Probanden über Übelkeit; hier ergab sich ein signifikanter Unterschied zuungunsten des SSRIs.

Abgebrochen wurde die Studie – meist wegen Nebenwirkungen und dem Ausbleiben eines klinischen Effektes, selten wegen mangelnder Compliance – von 37 Prozent der Patienten unter Amitriptylin, sowie 26 Prozent in der Paroxetin-Gruppe. Der Unterschied war statistisch nicht signifikant.

Die bessere Verträglichkeit von Paroxetin gegenüber TCA (meist Amitriptylin) betonte auch Professor Stuart Montgomery von der St. Mary´s Hospital Medical School, London. Unter knapp 4000 Patienten fand der Psychiater eine durch Nebenwirkungen bedingte Abbruchrate von 12,1 Prozent für Paroxetin gegenüber 15,8 Prozent für TCA. Dieses Ergebnis blieb signifikant auch unter Einbeziehung der Abbrüche wegen mangelnder Wirksamkeit (17,1 gegen 21,0 Prozent).

Immer wieder in den Vordergrund gestellt wurde in Budapest das erhöhte Suizid-Risiko für Patienten unter trizyklischen Antidepressiva. Professor Richard Farmer von der Charing Cross Hospital Medical School der Universität London zufolge sind bei jedem zehnten Selbstmord in England und Wales TCA im Spiel. Die enorm hohe Suizidalität unter schwer depressiven Patienten könnte laut Farmer um ein Fünftel reduziert werden, wenn nur noch Medikamente verschrieben würden, die auch in Überdosis gut toleriert werden. Der Mediziner mit dem Spezialgebiet Arzneimittelsicherheit präsentierte Daten für England und Wales, wonach für die TCA Amitriptylin, Imipramin und Clomipramin 73, 55 bzw. 26 Tote je Million ausgeschriebener Rezepte ermittelt wurden, für die verschiedenen SSRIs dagegen weniger als ein Todesfall.

„Die Sicherheit bei Überdosen sollte in Betracht gezogen werden bei der Verschreibung von Medikamenten an suizidgefährdete Patienten. Es gibt auch gute Gründe dafür, diesen Faktor bei der Zulassung von Arzneimitteln in Betracht zu ziehen“, sagte Farmer.

Gegen die Verschreibung von SSRIs sprechen auf den ersten Blick deren vergleichsweise hohe Kosten. Diesem Argument begegnete Professor John Feighner, San Diego mit der Behauptung, die Gesamtkosten pro erfolgreich behandeltem Patienten seien für Paroxetin niedriger als für Imipramin. Dies habe eine Studie mit über 700 schwer depressiven stationären Patienten für die Vereinigten Staaten ergeben, die auch nach Umrechnung auf britische Verhältnisse Bestand habe. Als Gründe für das überraschende Resultat nannte Feighner die schlechtere Compliance und die höhere Abbruchrate unter TCA.

(erschienen im Deutschen Ärzteblatt am 3. Dezember 1993)

Quelle: Satellitensymposium der Firma SmithKline Beecham beim 6. Kongress des European College of Neuropsychopharmacology in Budapest. 10.-14. Oktober 1993)