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Neues vom „Aids-Skandal“

Im Skandal um den Vertrieb von nicht ausreichend auf HIV getestetem Blutplasma sind in den vergangenen Tagen neue Details bekannt geworden. Im Falle der Koblenzer Firma UB Plasma wurden jeweils zwei bis vier Proben von verschiedenen Einzelspendern zusammen getestet, sagte der leitende Oberstaatsanwalt Norbert Weise. Durch dieses Vorgehen sei die Sensitivität des Antikörpertests vermindert worden. „Wir vermuten, daß bei dieser Methode das diagnostische Fenster um etwa sechs Wochen verlängert wird.“

Eine weitere gravierende Verletzung der Vorschriften war das sogenannte „visuelle Testen“, bei dem eine mögliche Verfärbung der Teströhrchen zunächst nur mit dem bloßen Auge abgeschätzt wurde. „Wenn eine Verfärbung sichtbar war, hat man den kompletten Test gemacht; wenn nicht ging man davon aus, daß die Proben HIV-negativ seien“, erklärte Weise. Vorgeschrieben ist dagegen eine exakte maschinelle Bestimmung der optischen Dichte.

Bei den drei bekannt gewordenen Infektionen, die mit Spender Nummer 2505 in Verbindung gebracht wurden, hätten zwei womöglich vermieden werden können, wenn entsprechend den Vorschriften getestet worden wäre, mutmaßte Weise. Das Plasma eines weiteren HIV-positiven Spenders ist vermutlich nie in den Verkehr gelangt. Eine Niederlassung der Koblenzer Firma im rumänischen Bukarest hatte die zugehörige Blutprobe zum Testen nach Deutschland eingeschickt, wobei die Infektion erkannt wurde. Hinweise darauf, daß Plasma dieses Spenders vertrieben wurde, gibt es laut Schmidt bisher nicht.

Mittlerweile wurden von den 24000 sichergestellten Rückstellproben, die eine Überprüfung der ursprünglichen Testergebnisse gestatten, an der Universitätsklinik Mainz gut 10000 untersucht und mit den Eintragungen in den sichergestellten Laborbüchern verglichen. „Bis jetzt stimmen alle Ergebnisse mit denjenigen der Firma überein“, sagte Dr. Franz-Josef Schmidt, leitender Regierungsdirektor im Bezirk Koblenz gegenüber dem Deutschen Ärzteblatt.

Auch dem Testlabor der Firma Haemoplas im niedersächsischen Osterrode wird vorgeworfen, die einschlägigen Vorschriften verletzt zu haben. Laut dem Sprecher im Gesundheitsministerium, Thomas Steg, sind in diesem Fall jedoch keine Rückstellproben vorhanden, die einen Vergleich der Testergebnisse ermöglichen würden. Die „Aufwandsentschädigungen“ in Höhe von etwa 50 Mark pro Spende, die sowohl von UB Plasma als auch von Haemoplas gezahlt wurden, bringen nach Meinung von DRK-Sprecher Fritz Duppe ein erhöhtes Infektionsrisiko mit sich und sollte deshalb abgeschafft werden. Duppe zitierte eine Studie, wonach in Deutschland etwa jeder Hundertausendste unbezahlte Spender HIV-infiziert ist. Bei den bezahlten Spendern seien Infektionen dagegen acht Mal häufiger anzutreffen.

(erschienen im Deutschen Ärzteblatt am 3. Dezember 1993)

Hepatitis C: Die lange Suche nach dem Virus

Während der „Aids-Skandal“ in der vorigen Woche seinen vorläufigen Höhepunkt erreichte, wurden in Bonn zwei Männer geehrt, die sich abseits der großen Schlagzeilen um die Sicherheit von Blutpräparaten verdient gemacht haben. Daniel Bradley und Michael Houghton gelang es in zwei Jahrzehnten hartnäckiger Detektivarbeit, das Hepatitis C-Virus aufzuspüren – einen Erreger, der ebenso wie das Immunschwächevirus HIV durch Blut und Blutprodukte übertragen werden kann. Für ihre Arbeiten erhielten die beiden Biochemiker jetzt zusammen mit dem Deutschen Hans-Georg Rammensee den mit 100000 Mark dotierten Robert-Koch-Preis, eine der höchsten wissenschaftlichen Auszeichnungen der Bundesrepublik Deutschland.

Das Hepatitis C-Virus (HCV) ruft bei der Mehrzahl der Infizierten eine langwierige Leberentzündung hervor. Bei jedem Zehnten entwickelt sich eine Zirrhose – eine Krankheit bei der Leberzellen zerstört und die Funktion des Organs gefährdet werden. In einigen wenigen Prozent der Fälle kommt es 15 bis 25 Jahre nach der Infektion sogar zum Leberkrebs.

Diesem Risiko standen Ärzte und Patienten bis vor kurzem noch relativ hilflos gegenüber: Zwar wurden Schutzmaßnahmen und Impfungen gegen das ebenfalls auf dem Blutwege übertragene Hepatitis B-Virus, und das vergleichsweise harmlose, über Fäkalien verbreitete Hepatitis A-Virus schon in den 1970er Jahren entwickelt. Trotzdem kam es auch weiterhin nach Bluttransfusionen zu Hepatitiserkrankungen. Vier Fünftel dieser, per Ausschlußdiagnose als „Nicht-A-Nicht-B-Hepatitis“ (NANBH) benannten Infektionen gingen, wie man heute weiß, auf das Konto von HCV.

In Deutschland ging die Zahl der dem Bundesgesundheitsamt gemeldeten Fälle von 7396 im Jahre 1980 auf 851 im Jahr 1990 drastisch zurück. Einen Beitrag zu diesen Erfolg bildete dabei die immer strengere Auswahl der Blutspender während der sich ausbreitenden Aids-Epidemie. Ein Bluttest, mit dem man die an HCV Erkrankten direkt hätte nachweisen können, stand aber nicht zur Verfügung. Einerseits wurden deshalb viele Infizierte übersehen, andererseits wurden willige Spender unnötigerweise zurückgewiesen.

Die NANBH war zwar als schwerwiegendes Gesundheitsproblem erkannt worden, die Fahndung nach dem Erreger erwies sich jedoch als ebenso frustrierend wie die Suche nach der sprichwörtlichen Nadel im Heuhaufen. Bis zum heutigen Tag ist es auch mit den modernsten Elektronenmikroskopen nicht gelungen, das Virus sichtbar zu machen.

Für Bradley begann die Suche 1977, als wieder einmal eine Lieferserie des hochkonzentrierten Blutgerinnungsfaktor VIII aus dem Verkehr gezogen werden mußte. Zwei Bluterpatienten hatten sich mit NANBH infiziert, was früh genug festgestellt wurde, um den noch nicht verbrauchten Teil der Charge dem Zentrum für Krankheitskontrolle (CDC) im amerikanischen Atlanta zur Verfügung zu stellen. Dort erhielt Bradley den Auftrag, den geheimnisvollen Erreger aus dem Material zu isolieren und dessen Eigenschaften zu ermitteln.

Zwar gelang es, mehrere Schimpansen zu infizieren und krankhafte Veränderungen der Leber festzustellen, ansonsten tappte man aber weiter im Dunkeln. Immerhin konnte man zeigen, daß Blutplasma seine infektiösen Eigenschaften verlor, wenn es mit Chloroform behandelt wurde. Da Chloroform die fetthaltigen Hüllen anderer Viren aufzulösen vermag, schloß Bradley auf ein sehr kleines, umhülltes Virus.

Die typischen Veränderungen in den infizierten Zellen verglich der Amerikaner dann sorgfältig mit dem Krankheitsbild bei zahlreichen anderen Virusinfektionen. Er fand Parallelen zu bestimmten Pflanzen-, Insekten- und Tierviren, die alle eines gemeinsam hatten: Das Erbmaterial bestand aus Ribonukleinsäure (RNS). Ein Großteil der bekannten Virusfamilien, die stattdessen Desoxyribonukleinsäure (DNS) benutzen, wurde deshalb von der weiteren Suche ausgenommen. Schließlich fand Bradley heraus, daß der oder die Erreger der NANBH ein eher kleines Virus sein mußte: Selbst Filter, deren Poren kleiner als ein Zehntausendstel Millimeter war, konnten sie noch passieren.

Die Arbeitsgruppe um Bradley versuchte dann, im Blut infizierter Menschen und Schimpansen Antikörper gegen den großen Unbekannten zu finden. 40000 Versuchsreihen später war klar, daß viel zu wenige Virusbestandteile im Blut waren, um die „Spürhunde“ des Immunsystems in ausreichender Menge zu binden und damit sichtbar zu machen. „Man kann aus Steinen kein Blut pressen“, sagte Bradley jetzt in Bonn mit Rückblick auf die zahlreichen Fehlschläge und Enttäuschungen.

Schließlich setzte er in seinem Labor in Atlanta alles daran, zellfreie Blutflüssigkeit (Plasma) mit möglichst vielen „infektiösen Einheiten“ zu gewinnen. Dahinter stand die Idee, einzelne Abschnitte des Erbmaterials „blind“ zu isolieren und durch molekularbiologische Verfahren zu vermehren. Den Schimpansen „Don“ und „Rodney“ wurde deshalb während ihrer Krankheitsschübe bis zu 11 Jahre lang immer wieder Plasma abgenommen und auf Infektiosität getestet. Die gesammelten Fraktionen höchster Aktivität enthielten schließlich eine Million infektiöser Einheiten je Milliliter.

Um aus den gut drei Litern Flüssigkeit das Erbmaterial des Erregers herauszufischen, bedurfte es der Zusammenarbeit mit einem Spezialisten: Bei der im kalifornischen Emeryville ansässigen Chiron Corporation machte sich der gebürtige Brite Michael Houghton an die Aufgabe, die von seinen immer wieder gescheiterten Kollegen als reine Zeitverschwendung abqualifiziert wurde.

Nach fünf ergebnislosen Jahren verfiel man auf den Trick, alle Nukleinsäuren aus einem Teil des wertvollen Plasmas durch Zentrifugation zu konzentrieren und diese Erbinformationen in sogenannte Expressionsvektoren einzuschleusen. Expressionsvektoren sind gentechnisch hergestellte „Sklavenmoleküle“ aus DNS, deren Aufgabe darin besteht, die in fremden Nukleinsäuren verschlüsselten Botschaften lesbar zu machen.

Verpackt in Expressionsvektoren wurden die Bruchstücke genetischen Materials in Bakterien eingeschleust, welche dann die Übersetzung in zahllose Eiweiße besorgten. Mit Antikörpern aus dem Blut eines NANBH-Patienten gelang es schließlich, unter einer Million Bakterienkolonien eine einzige Kolonie herauszufischen. Sie produzierte relativ große Mengen von einem Eiweiß des gesuchten Parasiten und enthielt folglich zumindest ein Bruchstück von dessen Erbanlagen.

Die fehlenden Teile konnten dann mit Standardmethoden der molekularen Biologie schnell gefunden und zusammengesetzt werden. Man hatte mit der neu entwickelten „Schrotschuß-Technik“ einen unsichtbaren Erreger identifiziert, über dessen Eigenschaften man vorher nur spekulieren konnte. Das Verfahren eignet sich auch zum Aufspüren anderer, noch unbekannter Krankheitserreger.

Aus den viralen Eiweißen, die jetzt in großer Menge hergestellt werden konnten, entwickelte die Firma Chiron einen Bluttest, der 1989 auf den Markt kam. Durch Anwendung dieses Test bei der Auswahl von Blutspendern habe man die Häufigkeit der Posttransfusionshepatitis weltweit um 90 Prozent senken können, verkündete Houghton in Bonn.

Einen perfekten Schutz vor HCV gibt es zwar immer noch nicht, der größte Teil der Infektionen wird aber inzwischen vermieden, wie Gregor Caspari vom Institut für Medizinische Virologie der Justus-Liebig-Universität in Gießen bestätigte. Mittlerweile ist auch die zweite Generation von Bluttests im Einsatz. Eine großangelegte Untersuchung an 200000 deutschen Blutspendern belegt, daß die unvermeidlichen Lücken weiter geschlossen wurden.

Ein anderes Problem rückt jetzt in den Mittelpunkt des Interesses: HCV ist nämlich auch für viele Leberleiden verantwortlich, die nicht durch Blut oder Blutprodukte übertragen werden – es sind also noch nicht alle Übertragungswege bekannt. Weltweit dürfte HCV eine der wichtigsten Ursachen von Leberkrebs sein, mutmaßte Hoechst-Vorstandschef Wolfgang Hilger in seiner Laudatio bei der Preis-Verleihung. Für Bradley und Houghton ist die Arbeit deshalb noch lange nicht zu Ende: Sie haben inzwischen mit der Entwicklung eines Impfstoffes gegen den noch immer unsichtbaren Erreger begonnen.

(erschienen in der Süddeutschen Zeitung am 2. Dezember 1993)

Wege zu sauberem Blut

Horst Seehofer hat keine Angst vor Bluttransfusionen. „Niemand kann absolute Sicherheit versprechen“, räumte der Bundesgesundheitsminister zwar gegenüber dem Nachrichtensender n-tv ein. Dennoch würde er sich bei Bedarf eine Transfusion verabreichen lassen. Kaum ein Drittel der Bundesbürger teilt indessen die Zuversicht des umstrittenen Politikers, wie eine Umfrage des Wickert-Instituts ergab.

Selbst die Zahl der Blutspenden ist im Gefolge des „Aids-Skandals“ zurückgegangen. Obwohl dabei wegen der einmaligen Verwendung sterilisierter Nadeln jegliches Infektionsrisiko ausgeschlossen ist, bleiben laut einem Sprecher des Deutschen Roten Kreuzes (DRK) bis zu 20 Prozent der Spender lieber zu Hause. Viele Bundesbürger, so scheint es, betrachten inzwischen jeglichen Umgang mit dem lebensspendenden Saft als tödliche Gefahr.

Dagegen betonen Experten auch nach der Verhaftung führender Mitarbeiter der Koblenzer Firma UB-Plasma das äußerst geringe Risiko deutscher Transfusionsempfänger für eine Infektion mit dem Immunschwächevirus HIV seit dem 1. Oktober 1985. Ab diesem Datum durften Blutpräparate nur noch dann in Verkehr gebracht werden, wenn das Ausgangsmaterial zuvor auf das Immunschwächevirus HIV getestet wurde. Entdeckt wurde HIV zwar schon im Mai 1983, die Rolle des Erregers bei der Entstehung von Aids war damals aber unter Fachleuten umstritten, einen Bluttest gab es nicht.

Die 2300 Menschen, die sich in Deutschland durch verseuchtes Blut und Blutprodukte infiziert haben, stellen unter den 60000 gemeldeten HIV-Infizierten eine kleine Minderheit dar. Angesteckt wurden – fast ausschließlich vor Einführung des Bluttests – 1843 Bluter, die wegen der benötigten hochkonzentrierten Gerinnungsfaktoren besonders gefährdet waren. Auf dem Transfusionsweg wurden 462 Menschen infiziert, davon laut Auskunft des BGA „maximal 20“ nach Einführung des Bluttests.

Nicht Schlamperei ist die Ursache für diese „Ausreißer“, sondern die verspätete Reaktion des menschlichen Immunsystems auf den Eindringling: Die gebräuchlichen Tests weisen nämlich das Virus nicht direkt nach, sondern nur die – verspätete – menschliche Abwehrreaktion darauf. Vier bis sechs Wochen, in sehr seltenen Fällen auch sechs Monate können vergehen, bis im Blut genügend Antikörper schwimmen, um das Virus nachzuweisen. Ein zusätzlicher neuer Bluttest (p24 Antigen-Test), der in manchen Bundesländern bereits eingeführt wurde, spürt ein Viruseiweiß direkt auf, und verringert dadurch theoretisch die Dauer des „diagnostischen Fensters“.

Gregor Caspari vom Institut für Medizinische Virologie der Justus-Liebig-Universität Gießen hat allerdings errechnet, daß jede zusätzlich aufgespürte Infektion mindestens 50 Millionen Mark kosten würde, im ungünstigsten Fall bis 400 Millionen. Zum Vergleich: Das Bundesministerium für Gesundheit hat zur Aids-Bekämpfung in den letzten drei Jahren jeweils circa 50 Millionen Mark bereitgestellt. Außerdem befürchtet Caspari eine Anlockung von Risikogruppen durch den neuen Test. Der kann eine Infektion zwar früher anzeigen, aber auch er erfaßt längst nicht alle Infizierten.

Ulrich Kania, leitender Oberarzt an der Chirurgischen Universitätsklinik Bonn beziffert das Risiko einer Ansteckung durch Blut und Blutplasma aus Einzelspenden heute auf etwa eins zu dreihunderttausend bis eins zu einer Million, Caspari hält den letzteren Wert für realistischer. Diese Zahlen müssten allerdings in Bezug gesetzt werden zu den ungleich größeren Gefahren die vielen Patienten drohen, wenn die Behandlung schwerwiegender Erkrankungen verzögert wird oder ganz unterbleibt, sagte Kania. Auch der Marburger Bund, die Vertretung von rund 57000 Krankenhausärzten, betonte, es gebe keinen Anlaß zu Angst vor Blutübertragungen oder Operationen.

Die Zweckmäßigkeit verschiedener Maßnahmen, die mittlerweile zur Reduktion des verbleibenden Risikos gefordert, geplant oder im Eilverfahren bereits umgesetzt umgesetzt wurden, wird von Medizinern vielfach skeptisch beurteilt. Die Sicherheitsvorkehrungen hängen davon ab, welche Bestandteile des Blutes verarbeitet, und in welcher Menge diese dann an die unterschiedlichen Patientengruppen verabreicht werden.

Nach großem Blutverlust werden vor allem rote Blutkörperchen (Erythrozyten) gebraucht, die für den Sauerstofftransport ins Gewebe verantwortlich sind, außerdem Blutplättchen (Thrombozyten), die für die Gerinnung sorgen und beispielsweise nach einer Chemotherapie oft ergänzt werden müssen. Beide sind nur kurzfristig haltbar; die Erythrozyten drei bis sieben Wochen, die Thrombozyten nur einige Tage. Jede Form von Virusabtötung mit Hitze oder Chemikalien würde diese empfindlichen Blutbestandteile zerstören, das Restrisiko des „diagnostischen Fensters“ muß hier also in Kauf genommen werden.

Unter Plasma versteht man den „Blutsaft“ ohne die zellulären Bestandteile. Er enthält mehrere hundert verschiedene Eiweiße, darunter Antikörper und verschiedene Gerinnungsfaktoren. Das Plasma ist tiefgefroren bis zu einem Jahr haltbar. Vor der Verwendung als „Einzelspenderplasma“ fordert das BGA entweder eine Quarantäne oder ein Verfahren zur Virusinaktivierung. Bei der Quarantäne wird der ursprüngliche Spender nach Ablauf von mindestens vier Monaten ein zweites Mal getestet. Nur wenn er dabei wie schon bei der ersten Blutentnahme „HIV-negativ“ ist, wird das Plasma zur weiteren Verwendung freigegeben. Diese Methode wird von Zentren, die nur Blutplasma sammeln, favorisiert, weil diese einen hohen Anteil regelmäßig wiederkehrender Spender haben.

Die Blutspendedienste befürchten allerdings große Versorgungslücken bei Einführung dieser Maßnahme. Gerade Organisationen wie das Rote Kreuz, die einen auch im internationalen Vergleich sehr niedrigen Anteil HIV-infizierter Spender haben, sind auch abhängig von Menschen, die sporadisch und oft nur ein einziges Mal spenden. Sie tun dies meist aus Verantwortungsbewußtsein und erhalten dafür lediglich einen Imbiß, bei kommunalen Diensten dagegen eine „Aufwandsentschädigung“ von fünfzig Mark.

Die Spenden dieser Personen könnten nicht nachgetestet werden und würden nach einem Jahr ungenutzt verderben. Die entstehende Lücke müßte dann durch Importe – vorwiegend aus den USA – geschlossen werden. Dort findet aber ebenfalls keine Doppeltestung statt; der Anteil von HIV-Infizierten an der Gesamtbevölkerung ist außerdem deutlich höher als in Deutschland.

Als Alternative zur Quarantäne wird deshalb von einigen DRK-Diensten die Virusinaktivierung von gefrorenen Frischplasma bereits praktiziert, mit der die wichtigen transfusionsübertragenen Viren (neben HIV auch verschiedene Hepatitis-Viren) abgetötet werden.

Mindestens die Hälfte allen gespendeten Blutes wird in Deutschland zur Herstellung von sogenannten „Pool-Produkten“ verbraucht. Dies sind hochkonzentrierte Eiweiße wie der für die Blutgerinnung unverzichtbar Faktor VIII. Bis zu 60000 Plasma-Einzelspenden werden dabei zusammengeführt und gemeinsam verarbeitet. Vier verschiedene Inaktivierungsverfahren stehen zur Verfügung, von denen das teuerste – die „feuchte Hitze-Inaktivierung bei 60 Grad“ – sich als das Sicherste erwiesen hat.

Der für einen Großteil der Bluter lebenswichtige Faktor VIII kann seit kurzem auch gentechnisch, also ohne die Verwendung von Blut, hergestellt werden. Umstritten ist, ob dieses Produkt wirklich – wie die etablierten Hersteller von Faktor VIII behaupten – weniger verträglich für das Immunsystem der Patienten ist, oder ob es sich dabei nur um ein vorgeschobenes Argument handelt, mit dem bestehende Marktanteile verteidigt werden.

Prinzipiell ist das nach einer Inaktivierung verbleibende Restrisiko von Plasmapools natürlich davon abhängig, wieviele Krankheitserreger vor der Inaktivierung vorhanden waren. „Der entscheidende Faktor bei der Sicherheit von Blutprodukten ist deshalb die Auswahl der Spender,“ sagt Wolfram Gehrlich in seiner Eigenschaft als Vorsitzender der Kommission für Virussicherheit von Arzneimitteln der Deutschen Gesellschaft für Virologie. Hier liegt auch der Grund für die Ablehnung bezahlter Spenden durch viele Fachleute im Gesundheitswesen:  Durch die Bezahlung, so wird argumentiert, schafft man eine Motivation, mögliche Gebrechen – und damit Infektionsrisiken – zu verschweigen.

Drogen- und Alkoholabhängige, Strafgefangene und die Partner HIV-infizierter Personen zählen zu den Risikogruppen, die in Deutschland permanent von der Blutspende ausgeschlossen werden müssen. Nach den Richtlinien von Bundesärztekammer und Bundesgesundheitsamt sind außerdem für mindestens sechs Monate gesperrt alle neu Operierten und Empfänger von Blut- und Blutprodukten. Auch das Durchstechen von Ohrläppchen oder Nasenflügel, Tätowierungen, Tropenreisen und zurückliegende Hepatitisinfektionen sind Ausschlußgründe.

Der „vertrauliche Selbstausschluß“ zielt auf Spender unter Gruppendruck wie beispielsweise die Mitglieder freiwilliger Feuerwehren in kleineren Ortschaften, die einmal im Jahr geschlossen zur Blutabnahme gehen. Angehörige von Risikogruppen können nach der Spende durch eine Art Kreuzchen in der Wahlkabine ihr Blut von der weiteren Verwendung ausschließen, ohne sich gegenüber den Kollegen offenbaren zu müssen.

Die in jeder Zehnten Klinik bereits angebotene Eigenblutspende wäre ebenfalls eine Möglichkeit zur Senkung des Infektionsrisikos. Allerdings wird vielfach übersehen, das die dafür nötige viermalige Blutentnahme den Spender unter Umständen stärker gefährden kann, als eine Übertragung von Fremdblut. Die Gefahr eines Herz-Kreislaufversagens während der Prozedur ist besonders bei vorbelasteten älteren Spendern mit ins Kalkül zu ziehen. Minister Seehofers Erkenntnis „Niemand kann absolute Sicherheit versprechen“, trifft bei näherer Betrachtung nicht nur auf den „Aids-Skandal“ zu, sondern auf jede Art von ärztlicher Behandlung.

(Original-Manuskript zu einem Artikel, der am 11. November 1993 in der Süddeutschen Zeitung erschienen ist.)

„AIDS-Impfstoff noch vor dem Jahr 2000“

Kurz vor der 8. Internationalen AIDS-Konferenz konnte ich in Paris am ehrwürdigen Institut Pasteur mit Luc Montagnier sprechen, der das Virus neun Jahre zuvor entdeckt hatte. Es ging um die Sicherheit der Bluttransfusionen und das Sexualverhalten junger Menschen, um die Hoffnung auf einen Impfstoff und die Rolle der Politik, aber auch um den Streit mit dem Amerikaner Robert Gallo und millionenschweren Verwertungsrechte…

Als Sie 1983 das Aids-Virus entdeckten, waren weltweit „nur“ 2500 Infektionen registriert. Nach den jüngsten Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation WHO sind es jetzt bereits 13 Millionen, für das Jahr 2000 werden gar 38 Millionen HIV-Infizierte erwartet, davon 18 Millionen, bei denen die Krankheit ausgebrochen ist. Das würde bedeuten, daß jeder 200. Mensch betroffen wäre. Angesichts dieser Zahlen fragen viele, wer für diese Entwicklung verantwortlich ist. Handelt es sich bei der weltweiten AIDS-Epidemie nur um eine Laune der Natur? Oder haben die Wissenschaft, die Politiker, die Gesellschaft versagt?

Montagnier: Ich denke, daß in der Wissenschaft nichts schiefgelaufen ist. Obwohl der Fortschritt auf diesem Gebiet rasant ist, sind wir jedoch immer noch nicht schnell genug, um mit der Entwicklung der Seuche in der Dritten Welt Schritt zu halten.

Die Zahlen sind natürlich sehr alarmierend. Es muß aber auch gesagt werden, daß sie fast ausschließlich auf die heterosexuelle Übertragung in einigen Entwicklungsländern zurückzuführen sind. In den letzten fünf Jahren haben sich in Asien, vor allem in Indien und Thailand, neue Brennpunkte der Epidemie gebildet, ebenso in Südamerika. Das erklärt die erschreckend hohen Zahlen.

Ist denn die Wissenschaft völlig machtlos?

Montagnier: Unser Problem ist, daß wir mit der Geschwindigkeit der Epidemie in diesen Gebieten einfach nicht Schritt halten können. Es gibt wenig, was wir daran ändern können. Es stimmt zwar, daß die Forschung in den ersten drei Jahren nach der Isolierung des Aids-Virus sehr schnell vorangekommen ist – der Erreger wurde charakterisiert, seine Gene untersucht; wir haben einen Bluttest entwickelt und mit der Substanz AZT die ersten Therapieversuche gemacht. Jetzt sind wir auf der Suche nach einem Impfstoff.

Allerdings war es von Anfang an klar, daß die Entwicklung einer Vakzine schwierig sein würde. Der Grund dafür liegt darin, daß gegen diese Gruppe von Viren noch nie ein Impfstoff entwickelt worden ist. Außerdem mußten wir schon sehr früh erkennen, daß es viele verschiedene Varianten des Virus gibt.

Aber man liest doch immer wieder von Impfstoffen, die in Labors entwickelt werden.

Montagnier: Wir haben hier einige sehr wichtige Fortschritte gemacht. Mehrere Schimpansen, die wir mit HIV-1 infiziert haben, konnten bis zu einem gewissen Grade geschützt werden. Wir haben erstmals gezeigt, daß mit einem Impfstoff, der aus einem Eiweiß aus der Hülle des Virus besteht, Erfolge zu erzielen sind.

Einen hundertprozentigen Schutz des Menschen würde man damit aber noch nicht erreichen?

Montagnier: Nein.

Nun meinen einige Forscher, daß HIV nicht alleine für den Ausbruch der tödlichen Immunschwäche verantwortlich sei. Auch Sie reden von „Kofaktoren“, die dabei eine Rolle spielen könnten.

Montagnier: Ja, sie werden von uns auch „verstärkende Faktoren“ genannt. Wenn es sie wirklich gibt und sie bei vielen HIV-Infektionen eine Rolle spielen, dann müssen wir auch über die Produktion von Impfstoffen gegen die Kofaktoren nachdenken. Es wäre faszinierend, wenn sich dadurch eine Heilung oder gar Vorbeugung von Aids erreichen ließe.

Sie denken dabei an Mykoplasmen?

Montagnier: Ja, diese Bakterien, die oft unbemerkt in menschlichen Zellen leben, könnten ein Kofaktor sein. Aber auch Pneumocystis carinii, ein Bakterium, das Lungenentzündungen verursacht und bei Aids-Kranken häufig zum Tode führt.

Was weiß man darüber, wie HIV das Immunsystem schädigt?

Montagnier: Hier haben wir im letzten Jahr die wichtigsten Fortschritte gemacht. Wir arbeiten an einem Phänomen, das Apoptose genannt wird – der programmierte Zelltod. Es gelang uns zu zeigen, daß bei Infizierten viele weiße Blutzellen darauf programmiert sind, früher zu sterben, als es normalerweise der Fall ist. Wenn bestimmte Eiweiße aus der Hülle des Virus an diese Zellen binden, wird wahrscheinlich ein Signal erzeugt, daß die Zellen vorprogrammiert.

Beim Kontakt mit bestimmten körperfremden Stoffen, die von Bakterien oder Mykoplasmen kommen können, wird die Selbstzerstörung der weißen Blutzellen in Gang gesetzt – das Immunsystem bricht zusammen. Dies und andere Befunde deuten darauf hin, daß Aids auch eine Autoimmunkomponente hat.

Die fehlgeleitete körpereigene Abwehr schädigt sich also selbst. Aids ist demnach anders als „gewöhnliche“ Viruskrankheiten?

Montagnier: Ja, und diese Erkenntnis ist von großer Bedeutung bei der Behandlung der Patienten. Das bedeutet nämlich, daß es nicht genügt, das Virus zu bekämpfen. Wenn Aids eine Autoimmunkrankheit ist, könnte es passieren, daß man das Virus erfolgreich bekämpft, und das Immunsystem wird trotzdem völlig zerstört. Diese neuen Vorstellungen sind sehr wichtig; und als einer der Pioniere auf diesem Gebiet bin ich froh, daß andere Forscher mittlerweile zum gleichen Ergebnis kommen.

Es gab eine Phase, in der die Aids-Forschung nur auf der Virologie basierte; mittlerweile betreibt man mehr Immunologie als Virologie; und das ist gut so, denn Aids ist beides: eine Viruskrankheit und eine Autoimmunkrankheit.

Wie wird man denn in Zukunft bei der Behandlung von Aids-Patienten verfahren?

Montagnier: Neben der Bekämpfung des Virus, der Kofaktoren und der Stärkung des Immunsystems durch die Gabe von Antikörpern gibt es noch eine weitere Überlegung: Man hofft, eine Technik einzusetzen, die in ähnlicher Form schon heute von dem Amerikaner Steve Rosenberg im Kampf gegen verschiedene Krebsformen erprobt wird.

Dazu müßte man Immunzellen des Patienten vermehren, indem man sie aus dem Blut herausfiltert und anschließend im Labor mit Wachstumsfaktoren stimuliert. Wir wissen, daß zytotoxische Lymphozyten – das sind weiße Blutzellen – solche Körperzellen angreifen, die das Virus in sich tragen. Diese Zellen könnte man zu Beginn einer Infektion isolieren, sie einfrieren und zu einem späteren Zeitpunkt, um ein Vielfaches vermehrt, wieder in die Blutbahn des Patienten spritzen.

Welche Rolle spielt denn bei diesen Überlegungen die Gentherapie?

Montagnier: Für die Zukunft wäre es denkbar, Lymphozyten durch eine Genmanipulation vor einer Infektion mit HIV zu schützen. Auf diese Weise könnte man die Immunzellen vielleicht auch vor der Zerstörung durch das fehlgeleitete Abwehrsystem des Körpers bewahren.

Die Anwendung der Gentechnik, die für solche Eingriffe notwendig wäre, ist in Deutschland stark umstritten. Ihre Befürworter dagegen behaupten, ohne Gentechnik sei es undenkbar, jemals einen Impfstoff gegen Aids zu entwickeln. Wenn Sie nun versuchen sollten, Ihre Arbeit nur mit den Methoden der Biochemie und der „klassischen“ Mikrobiologie fortzuführen, welche Auswirkungen hätte das?

Montagnier: Im Falle eines Impfstoffes ist es zutreffend, daß dieser letztlich auf der Molekularbiologie des Virus aufbaut. Ein Aids-Impfstoff wird wahrscheinlich auf der Analyse des Erbguts beruhen und auf „gentechnisch“ hergestellten Eiweißen. Es ist klar, daß die Gentechnik hilfreich war und für die Gewinnung eines Impfstoffes unentbehrlich ist.

Wann wird ein Impfstoff zur Verfügung stehen?

Montagnier: Ich zögere; hier ein Datum zu nennen, weil das sehr schwer vorherzusagen ist. Wenn ich mir aber anschaue, welche Fortschritte wir in den letzten zwei Jahren gemacht haben, dann halte ich es für vernünftig zu denken, daß wir noch vor dem Jahr 2000 einen Impfstoff haben werden. Das bedeutet allerdings nicht, daß diese Vakzine bis dahin weltweit eingesetzt werden wird.

Die Entdeckerrechte von HIV waren jahrelang umstritten. Robert Gallo vom Nationalen Gesundheitsinstitut der USA hat ebenso wie Sie den Anspruch erhoben, HIV als erster entdeckt zu haben. Mittlerweile scheint klar, daß Sie und Ihre Kollegen vor zehn Jahren das Virus als erste isolierten. Das Virus, mit dem Gallo den Bluttest mitentwickelte, stammt eindeutig aus Ihrem Labor.

Montagnier: Ich glaube, vom wissenschaftlichen Standpunkt gibt es heute darüber keine Zweifel mehr. Eine andere Frage ist es allerdings – und das ist ein amerikanisches Problem-, ob Gallo wirklich eine „versehentliche Verseuchung“ in seinem Labor hatte. Er behauptet das. Oder haben sie die Namen auf den Proben absichtlich vertauscht? Diese Frage ist noch offen, derzeit laufen mehrere Untersuchungen. Es scheint klar, daß Gallo und seine Mitarbeiter im Laufe der Zeit widersprüchliche Angaben gemacht haben. Einmal sagten sie, daß es ihnen nicht gelang, unser Virus, das wir ihnen geschickt hatten, zu vermehren. Sie behaupteten, es wäre nutzlos in ihrem Kühlschrank gestanden. Jetzt ist offensichtlich, daß sie es doch häufig benutzt haben. Warum haben sie das verschwiegen?

Es geht bei dieser Auseinandersetzung ja nicht nur um Ruhm und Ehre, sondern auch um viel Geld. Schließlich beruht der Bluttest für HIV ebenfalls auf dem Virus, das Sie isoliert haben. Das Pasteur-Institut hat jetzt von den Amerikanern die Rückerstattung von 20 Millionen Dollar gefordert. Worum geht es bei diesem Streit?

Montagnier: Ich denke, mittlerweile ist es wissenschaftlich erwiesen, daß alle Bluttests für HIV-1, die weltweit vorgenommen werden, das gleiche Virus benutzen. Wir haben ihm unterschiedliche Namen gegeben, aber es handelt sich um das gleiche Virus, und Gallo hat dies auch anerkannt. Nun wird noch diskutiert, welchen Beitrag beide Labors für die Entwicklung des Bluttests geleistet haben. Ich denke noch immer, daß auch Gallos Labor einen Anteil hat. Es besteht aber kein Zweifel daran, daß es sich dabei mehr um die Erweiterung und Bestätigung unserer Arbeit gehandelt hat und weniger um eine eigene Entwicklung.

Auf dieser Grundlage denke ich, daß Gallo und seine Kollegen noch immer das Recht haben, am wissenschaftlichen Ruhm ebenso teilzuhaben wie an den Patentrechten für den Bluttest. Umstritten ist aber weiterhin die Verteilung der Tantiemen. Da feststeht, daß die amerkanischen Firmen das Virus aus dem Pasteur-Institut nutzen, glauben wir Anspruch zu haben auf einen höheren Anteil. Gegenwärtig bekommt die amerikanische Gesundheitsbehörde NIH die eine Hälfte der Einnahmen, das Pasteur-Institut die andere Hälfte. Ich glaube, wir sollten mehr bekommen. Das wird jetzt diskutiert, aber ich bin daran eigentlich nicht beteiligt.

Das Pasteur-Institut hat seine Patentansprüche aber lange vor dem NIH angemeldet, auch in den USA. Trotzdem bekamen zuerst die Amerikaner die Patentrechte zugesprochen, erst 1987 haben Sie dann den Kompromiß ausgehandelt. Warum haben Sie sich damals überhaupt darauf eingelassen?

Montagnier: Wir hätten mit einem Gerichtsverfahren von drei bis fünf Jahren Dauer rechnen müssen, bei dem wir viel Geld für die Rechtsanwälte hätten ausgeben müssen, ohne einen Pfennig Geld zu sehen. Der Kompromiß erlaubte es uns, wenigstens einen Anteil des Geldes sofort zu bekommen.

Für Ihr Institut bedeuten die Tantiemen aber eine wichtige Einnahmequelle.

Montagnier: Noch nicht. Erst im vergangenen Jahr hatten wir hier die ersten Gewinne, und es war nicht besonders viel Geld. Davor haben die Anwaltsgebühren alles aufgebraucht. Es stimmt aber, daß die Aids-Forschung dem Pasteur-Institut ordentlichen Profit gebracht hat, weil zu den Tantiemen ja noch die Lizenzgebühren kommen. Wie Sie wissen, haben wir beide Typen des Aids-Virus zuerst gefunden, HIV-1 und HIV-2. Viele Firmen, die Bluttests verkaufen, nutzen dabei Bestandteile beider Viren, und sie bezahlen dabei unser Institut für die Nutzung von HIV-2.

Welche Rolle spielte denn die Politik bei der Ausbreitung der Seuche? Trotz wiederholter Warnungen der Wissenschaftler wurden HIV-verseuchte Blutproben benutzt, nicht nur in den USA, sondern auch in Frankreich. Tausende haben sich deshalb infiziert, viele sind bereits gestorben. Wer ist schuld an dieser Tragödie?

Montagnier: Ursprünglich, im Jahre 1984/85, wurde die Ernsthaftigkeit der Lage unterschätzt. In Frankreich gab es 1983 nur eine Handvoll Menschen, denen das Problem überhaupt bewußt war, die saßen im Gesundheitsministerium. Zu diesem Zeitpunkt war uns Wissenschaftlern nicht wirklich klar, was es bedeutete, mit dem Virus infiziert zu sein. Der menschliche Körper bildet ja zunächst Antikörper gegen HIV, und einige Leute sagten uns: „Wenn jemand Antikörper hat, dann ist er vor der Krankheit geschützt.“ Zum damaligen Zeitpunkt war das schwer zu beantworten, denn bei vielen Viruskrankheiten ist das der Fall – wenn Sie Antikörper haben, sind Sie ein Leben lang geschützt. Als wir dann anhand der Antikörper nachwiesen, daß bereits jeder zweite Bluter mit dem Virus infiziert war, hieß es: „Natürlich haben sie Antikörper, darum sind sie auch geschützt.“ Man machte sich also zum einen keine großen Sorgen, auf der anderen Seite befürchtete man wohl eine Panik und eine Ausgrenzung der HIV-Infizierten, wenn wir Alarm schlagen würden. Also haben die Öffentlichkeit, die Medien und die Politiker den Ernst der Lage unterschätzt.

Wir waren zu wenige Forscher und Mediziner, und wir waren zu schwach, um unseren Standpunkt zu den Bluttransfusionen durchzusetzen. Heute ist es natürlich leicht zu sagen, daß jede Übertragung von HIV mit Blutkonserven oder Blutprodukten unterbunden werden muß. Vielleicht hätten wir stärker sein müssen. Aber Aids war damals auch ein politisches Problem, denn zu diesem Zeitpunkt war Aids eine Krankheit der Homosexuellen und der Fixer.

Ist der Vorwurf, daß die öffentliche Reaktion verzögert wurde, weil Aids eine „Schwulenkrankheit“ war, gerechtfertigt?

Montagnier: Ja, das war ganz sicher so.

Wie groß ist die Gefahr, sich heute noch bei einer Bluttransfusion mit HIV zu infizieren?

Montagnier: Es gibt immer noch einige Länder, etwa in Afrika, in denen Blutkonserven nicht sicher sind. Die Gefahr ist bekannt, trotzdem werden weiter wissentlich Transfusionen mit verseuchtem Blut vorgenommen. In den westlichen Industrieländern ist das mittlerweile völlig ausgeschlossen.

Bluttests messen die Antwort des Körpers auf die Infektion. Mit einer neuen Technik, der Polymerasekettenreaktion (PCR), ließe sich HIV direkt und möglicherweise früher nachweisen. Warum benutzt man nicht die bessere Technik?

Montagnier: Die PCR ist sehr teuer, sie kann nur von spezialisierten Labors durchgeführt werden, und sie ist manchmal zu empfindlich, so daß Menschen, die gar nicht infiziert sind, trotzdem als „Falsch-Positive“ identifiziert werden. Die Technik hat noch andere Nachteile, daher glaube ich nicht, daß PCR die beste Lösung ist.

Man sollte weiterhin das Blut auf Antikörper testen, die Spender aber zusätzlich einer detaillierten Befragung unterziehen, in der ermittelt wird, ob sie in den drei Monaten vor der Blutspende möglicherweise Kontakt mit HIV-infizierten Personen hatten. Als weitere Vorsichtsmaßnahme sollte man Bluttransfusionen auf die dringendsten Fälle beschränken.

Um das nochmals zu sagen: Das Risiko, bei einer Bluttransfusion mit dem Aids-Virus infiziert zu werden, ist gering. Es ist nicht gleich Null, aber es ist klein.

Sie haben kürzlich erklärt, daß nach Aids möglicherweise weitere, verheerende Krankheiten kommen werden. Brauchen wir ein Frühwarnsystem, um für die nächste Epidemie besser gewappnet zu sein?

Montagnier: Ich denke, Europa braucht solch eine Institution. Im Moment gibt es das noch nicht, nur einige Kontrollzentren auf nationaler Ebene. Wir sollten aber eine gemeinsame Einrichtung haben, welche Entstehung und Entwicklung von Krankheiten in ganz Europa ständig überwacht. Das kann ein zentrales Institut sein oder ein Netzwerk von Einzelzentren. Das ist wie mit dem Wetter oder der Flugüberwachung.

Könnte solch ein Netzwerk den Ausbruch weiterer Epidemien verhindern?

Montagnier: Nicht nur das. Man könnte auch Infektionen untersuchen, die im Gefolge der Aids-Epidemie auf uns zukommen. Die Tuberkulose beispielsweise kehrt im Gefolge von Aids zurück.

Wie steht es um die Finanzierung der Aids-Forschung? Die meisten Wissenschaftler beklagen zwar, daß nicht genug Geld zur Verfügung gestellt wird, es gibt aber auch einige Kritiker.

Montagnier: Nein, ich glaube nicht, daß zu viel Geld für die Aids-Forschung ausgegeben wird. Man muß bedenken, daß unsere Ergebnisse auch der Bekämpfung anderer Krankheiten zugutekommen, auch des Krebses. Auch für die Bekämpfung von Immun- und Autoimmunkrankheiten sind unsere Resultate wichtig. Ich bin daher strikt gegen eine Kürzung der Forschungsgelder. Im Gegenteil, wir brauchen in Zukunft mehr Geld, um die Entwicklung der Krankheit bei den Infizierten zu verfolgen.

Möglicherweise gibt es eine AIDS-Lobby – sagen wir lieber ein Establishment -, die eine sehr konservative Art der Forschung betreibt. Es bekommt nur für gewöhnliche Projekte Geld. Ich bin ein Gegner dieser Praxis, man sollte lieber mehr Geld für viele riskante Ideen ausgeben. Dafür sind wir aber auf Spenden angewiesen. Das ist ein Problem, denn in Frankreich kommen auf diese Weise jährlich gerade 20 Millionen Franc zusammen. Im Verhältnis zu den 700 Millionen Franc für die Krebsforschung ist das gar nichts. Der Grund: Die Leute denken bei Aids immer noch an eine Krankheit Homosexueller. Das müssen wir ändern, und darum bemühen wir uns.

Noch vor wenigen Jahren hatten die Menschen große Angst, sich mit HIV zu infizieren. Jetzt hat das nachgelassen, in Deutschland wird die Bedrohung kaum mehr ernst genommen.

Montagnier: Wir müssen mehr Geld für Aufklärungskampagnen ausgeben, und zwar kontinuierlich. Dadurch läßt sich die Ausbreitung der Seuche zwar nicht vollständig stoppen, aber wir können einige Leben retten; vielleicht die Leben von jungen Menschen. Sie fühlen sich nicht bedroht, aber sie sind es.

Sexuelle Freizügigkeit ist bei jeder Art von Geschlechtskrankheit ein Risikofaktor. Wir wissen, daß Geschlechtskrankheiten bei Jungen und Mädchen sehr häufig sind. Natürlich spielt die Erziehung eine große Rolle, wenn es darum geht, das Sexualverhalten zu ändern. Das ist eine langwierige Anstrengung, aber die Sitten verändern sich eben nicht so schnell.

Für junge Leute ist es natürlich, Sex mit mehreren Partnern zu haben. Es ist nicht in, abstinent zu leben, Jungfrau zu bleiben oder nur einen Partner zu haben. Diese Einstellung müssen wir ändern, aber das wird einige Zeit dauern.

Es scheint, daß die Menschen zu Lebzeiten von Louis Pasteur mehr über Hygiene wußten als heute.

Montagnier: Ja, es herrscht ein falsches Gefühl der Sicherheit. Grundprinzipien der Hygiene gehen heute verloren. Selbst in manchen Kliniken Osteuropas werden elementare Regeln verletzt, manche Leute benutzen dort noch nicht einmal sterilisierte Spritzen. Wir müssen die Menschen wieder zu mehr Hygiene erziehen, auch auf sexueller Ebene.

(erschienen in „DIE WELT“ am 24. Juli 1992)

Was wurde daraus? Bekanntlich gibt es auch im Jahr 2020 noch keinen Impfstoff gegen das AIDS-Virus HIV. Ganz offensichtlich sind nicht alle Krankheitserreger gleich gut zu bekämpfen, und im Rückblick hatten die Skeptiker recht, die darauf hingewiesen haben, dass ein Virus, welches das Immunsystem befällt, eine besondere Herausforderung sein würde. Dennoch gab es in den Jahrzehnten nach der Entdeckung des Virus atemberaubende Fortschritte bei der Therapie, sodass die Krankheit inzwischen mit einer Reihe von Medikamenten in Schach gehalten werden kann – und zwar auch zu bezahlbaren Preisen in vielen Entwicklungsländern. Dass Montagnier neuerdings „umstrittene Positionen“ vertritt, wie die Wikipedia anmerkt, hat er mit einigen weiteren Nobelpreisträgern gemeinsam. Vielleicht ist das ja eine der Nebenwirkungen bei hochintelligenten Menschen, die neue Ideen entwickeln, um schwierige Probleme zu lösen 😉