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USA: Pharmawerbung nimmt Patienten ins Visier

Umgerechnet 8,5 Milliarden Euro haben Pharmafirmen, Gerätehersteller und Verbände im Jahr 2016 in den USA ausgegeben, um direkt bei kranken Menschen und anderen „Verbrauchern“ für ihre Produkte zu werben. Die Ausgaben für diese sogenannte „Direct-to-Consumer (DCT)“-Werbung haben sich damit in nur 20 Jahren mehr als vervierfacht. Insgesamt wurden rund 30 Milliarden Dollar ausgegeben – das entspricht 26 Milliarden Euro.

Dies ist das Ergebnis einer Analyse der Gesundheitsforscher Lisa M. Schwartz und Steven Woloshin, die im Fachblatt JAMA des US-amerikanischen Ärzteverbandes veröffentlicht wurde. Während es in Deutschland und fast allen anderen Ländern verboten ist, rezeptpflichtige Medikamente direkt beim Verbraucher zu bewerben, ist dies in den USA erlaubt. Alleine für diesen Bereich wurden im Jahr 2016 insgesamt 4,6 Millionen Anzeigen geschaltet, davon 663.000 im Fernsehen. Der Trend, so berichten Schwartz und Woloshin, geht dabei immer mehr zu besonders teuren Behandlungen wie Immuntherapien gegen Krebs und biotechnologisch hergestellten Medikamenten.

Mit 20 Milliarden Dollar waren die Werbemaßnahmen für medizinische Fachkräfte zuletzt zwar etwa doppelt so hoch wie für die DTC-Werbung. Deren Anteil ist aber von ursprünglich 12 Prozent auf 32 Prozent gewachsen. Bei den Kampagnen geht es nicht nur darum, Ärzte und Patienten vom Nutzen bestimmter Pillen, Untersuchungen oder Labortests zu überzeugen. Teilweise zielen sie auch darauf ab, die Definition bestimmter Krankheiten zu verändern, sodass mehr Personen für eine Behandlung in Frage kommen.

Unter allen Ländern der Welt haben die USA im Verhältnis zum Bruttosozialprodukt mit 16,8 Prozent die zweithöchsten Gesundheitskosten. In Deutschland sind es 11,2 Prozent.

Genanalysen – Chancen und Risiken

Fluch und Segen zugleich birgt die Möglichkeit einer Gendiagnose, wie der Amerikaner Henry T. Lynch aus eigener Erfahrung zu berichten weiß. Der grauhaarige Wissenschaftler von der Creighton Universität im Bundesstaat Nebraska hat seine ganze Karriere der Untersuchung erblicher Krebserkrankungen gewidmet – eine besonders bösartige Form des Darmkrebses, das Lynch-Syndrom, trägt sogar seinen Namen.

Auf einem Fachkongreß in Bonn schilderte der Mediziner kürzlich die enormen Belastungen, unter denen die weiblichen Mitglieder einer Großfamilie aus Omaha zu leiden haben. Bei dieser Familie tritt eine aggressive, erbliche Krebsform seit Generationen mit erschreckender Häufigkeit auf. Jede zweite Frau in dieser Familie muß damit rechnen, daß sich in der Brust- oder in den Eierstöcken lebensbedrohliche Geschwüre bilden.

Ein molekularbiologisches Verfahren, das erst in den letzten Jahren entwickelt wurde, erlaubt es seit kurzem, die Frauen anhand ihrer Gene in zwei gleichgroße Gruppen zu trennen: Mitglieder der einen Gruppe werden von ihrer Angst erlöst; ihr Krebsrisiko ist nicht höher als das in der normalen Bevölkerung. Die Frauen der anderen Gruppe tragen dagegen mit 98-prozentiger Wahrscheinlichkeit ein defektes Gen. „Im Prinzip können wir das zum Zeitpunkt der Geburt feststellen“, sagt Lynch, der selbst einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung der Methode geleistet hat.

Für Frauen in der zweiten Gruppe ist das  Risiko drastisch erhöht, schon in mittlerem Alter an dem erblichen Brust-Ovariar Krebs-Syndrom (HBOC) zu erkranken. Auch durch halbjährliche Untersuchungen der bedrohten Organe und selbst die vorsorgliche operative Entfernung der Eierstöcke kann die Gefahr lediglich verringert werden. Nachdem Lynch die Frauen in ihrer vertrauten Umgebung in persönlichen Gesprächen über ihre Lage aufgeklärt hatte, stellte er eine Frage, die mit zunehmender Verbreitung genanalytischer Verfahren auf immer mehr Menschen zukommen wird: „Wollen Sie wirklich wissen, ob Sie in 15, 20 oder 40 Jahren damit rechnen müssen, an einer möglicherweise unheilbaren, tödlichen Krankheit zu leiden?“

Nach einer dreiwöchigen Bedenkzeit und eingehender Beratung entschieden sich die meisten Frauen schließlich für den Gentest. Menschliche Dramen hätten sich abgespielt, als die Resultate bekannt gegeben wurden, erinnert sich Lynch. Dramatisch auch ein weiteres Ergebnis: Unter den Frauen, bei denen ein defektes Gen gefunden wurde, verlangte die Hälfte, sämtliche Eintragungen in den Krankenakten zu löschen.

„Die Versicherungen sind ganz wild auf diese Daten, weil sie die Menschen mit erhöhtem Risiko am liebsten ausschließen würden“, erläutert Lynch. Um ähnliche Machenschaften in Deutschland bereits im Keim zu ersticken, streben Mitglieder aller im Bundestag vertretenen Fraktionen eine Ergänzung des Grundgesetzes an. Dort soll, gemäß einem Vorschlag der Verfassungskommission, in Artikel 74 die künstliche Befruchtung beim Menschen sowie die Untersuchung und die künstliche Veränderung von Erbinformationen aufgenommen werden. Ein Gesetz zur Genomanalyse würde damit auch der Zustimmung des Bundesrates bedürfen und hätte dann – im Gegensatz zu anderen gesundheitsrechtlichen Gesetzen – über die Ländergrenzen hinaus Gültigkeit.

Von einer bundeseinheitlichen Regelung erwartet die forschungspolitische Sprecherin der SPD, Edelgard Bulmahn zum Beispiel eine Garantie der „informationellen Selbstbestimmung“. Genetische Daten müßten demnach im Patienten-Arzt-Verhältnis verbleiben und dürften nicht an Dritte weitergegeben werden.

Nach Meinung von Kritikern wird es für solch eine Regelung höchste Zeit: Das „Human Genome Projekt“, mit dem in weltweiter Kooperation alle Erbanlagen des Menschen entschlüsselt werden sollen, schreitet schneller voran, als selbst Optimisten zu hoffen wagten. Schon Ende des nächsten Jahres könnten sämtliche geschätzt 75000 Gene des Homo sapiens kartiert sein (Anmerkung: Die Schätzung war viel zu hoch; derzeit geht man von ca. 21000 menschlichen Genen aus).

Die Versuchung, aufgrund der dann vorliegenden Daten, ungeborene Kinder, Ehepaare, Arbeitssuchende und Versicherungsnehmer anhand ihrer genetischen Daten zu beurteilen, wird auch unter Wissenschaftlern als ernsthafte Bedrohung empfunden. So befanden sich der amerikanische Gentherapie-Pionier French Anderson und sein Landsmann, der Gentechnik-Kritiker Jeremy Rifkin schon vor drei Jahren in seltener Übereinstimmung mit ihrer Forderung nach umfassendem Schutz für die genetischen Daten des Einzelnen.

Fundamentale ethische und soziale Probleme sieht auch der renommierte Molekularbiologe Benno Müller-Hill auf die Gesellschaft zukommen. In einem Beitrag für die britische Fachzeitschrift „Nature“ wagte der am Institut für Genetik der Universität zu Köln arbeitende Professor kürzlich einen Ausblick auf die nächsten dreißig Jahre. Er geht davon aus, daß Fortschritte in der Erkennung genetischer Eigenschaften am Anfang stehen, die Behandlung von Krankheiten dagegen möglicherweise um Jahrzehnte hinterher hinken wird.

Müller-Hill, der seine Kollegen neben der Arbeit als Grundlagenforscher auch mit Enthüllung über medizinische Verbrechen während des Dritten Reiches konfrontierte, lehnt Gentests keinesfalls grundsätzlich ab. „Wenn eine Person einen Gentest wünscht, dann soll sie den auch haben.“ Praktische Tests seinen aber sinnvoller. So wäre ein einfacher Rechentest bei der Aufnahme an der mathematischen Fakultät einer Universität sicherlich nützlicher als eine – derzeit noch nicht machbare – Genomanalyse. „Auch wenn es um den Arbeitsschutz geht, bin ich gegen erzwungene Gentests“, sagte Müller-Hill gegenüber den VDI-Nachrichten.  Allerdings räumt der Gen-Ethiker ein, daß Menschen, die ihrem Arbeitgeber oder der Versicherung freiwillig Daten präsentieren, welche auf ein geringes Risiko hinweisen, trotzdem im Vorteil wären.

Die Zuverlässigkeit derartiger Risikoanalysen wäre ohnehin begrenzt. Denn auch wenn ein Labortechniker in zehn Jahren möglicherweise in der Lage sein sollte, mit einem einfachen Test festzustellen, ob ein Embryo bereits eine Veranlagung für Krebs, Herzkrankheiten oder Fettleibigkeit hat – Zeitpunkt und Schweregrad der Erkrankung werden sich bestimmt nicht auf einer Farbskala ablesen lassen. Ein Großteil der menschlichen Eigenschaften scheint zudem von mehreren Genen gleichzeitig beeinflußt zu sein. Das, den Bundestag beratende Büro für Technikfolgen-Abschätzung weist darauf hin, daß die Wahrscheinlichkeit des Ausbruchs einer Krankheit trotz einer „genetischen Veranlagung“ häufig nur 10 bis 20 Prozent beträgt. Die pränatale Diagnose solch schwer zu quantifizierender Eigenschaften wie Intelligenz und Toleranz muß deshalb nicht prinzipiell unmöglich sein. Derzeit werden bereits Untersuchungen an verschiedenen Hunderassen durchgeführt mit dem Ziel, den Einfluß der Erbsubstanz auf die Charaktereigenschaften der Tiere zu ermitteln.

Auch ohne derartige Forschungsprojekte werden die sozialen Spannungen zunehmen, glaubt Müller-Hill. „Man kann sich vorstellen, daß es zu Protestbewegungen derjenigen kommt, die beschlossen haben, ihre genetische Identität nicht preiszugeben. Es wird auch Fundamentalisten geben, die sich niemals testen lassen, weil sie selbst die Resultate nicht wissen wollen. All diese Gruppen werden schwere soziale Nachteile in Kauf nehmen müssen.“

Die Wende werde erst kommen, prophezeit der Genetiker, wenn die obersten Gerichte entscheiden, daß die „genetische Ungerechtigkeit“ ungeheure Ausmaße annommen hat. Dann werde man es Angestellten und Versicherungsnehmern erlauben, falsche Daten zu präsentieren, ohne sie dafür gesetzlich zu belangen. Ein ganz ähnliches Urteil fällte übrigens im Frühjahr das Bundesverfassungsgericht: Schwangere Frauen dürfen beim Einstellungsgespräch über ihren Zustand lügen, befanden Deutschlands oberste Richter.

Der „Schatten genetischer Ungerechtigkeit“ wird nach der Prognose Müller-Hills vor allem auf diejenigen fallen, die von einem der zahlreichen Leiden des zentralen Nervensystems befallen sind. Erbanlagen, die für Schizophrenie, manische Depression oder niedrige Intelligenz verantwortlich sein können, vermutet er in Europa und den Vereinigten Staaten bei mindestens zehn Prozent der Bevölkerung. „Es wird nun behauptet, diese Eigenschaften seien vererbt. Tatsächlich ist aber sowohl der Einfluß der Familie als auch die Beitrag von Umweltfaktoren noch unklar.“

Eine Öffentlichkeit, die davon überzeugt ist, daß etwa eine bestimmte Geisteskrankheit ausschließlich auf defekte Gene zurückzuführen ist, wird die Erforschung und Beseitigung möglicher anderer Ursachen daher vernachlässigen, befürchtet der Molekularbiologe. „Es ist so viel einfacher, eine Pille zu verschreiben, als die sozialen Zustände zu ändern, die für die Schwere der Symptome verantwortlich sind.“

Den Schluß, daß man auf das Wissen über „gute“ und „schlechte“ Gene verzichten könne, hält Müller-Hill aber für falsch. Die neuen Kenntnisse würden seiner Meinung nach lediglich die Realität sichtbar machen und dadurch die Ungerechtigkeit in der Welt betonen. Dadurch würden dann Gesetze erforderlich, um die genetisch Benachteiligten zu schützen. „Soziale Gerechtigkeit muß genetische Ungerechtigkeit kompensieren.“

(Originalfassung eines Artikels für die VDI-Nachrichten, erschienen am 8. Oktober 1993)

Weitere Infos / Quellen:

  1. Müller-Hill B. The shadow of genetic injustice. Nature. 1993 Apr 8;362(6420):491-2. doi: 10.1038/362491a0.
  2. Hennen, Leo; Petermann, Thomas; Schmitt, J.-J.: TA-Projekt „Genomanalyse“: Chancen und Risiken genetischer Diagnostik. Endbericht (kostenlos abrufbar hier).

Ethische Fragen drängen sich auf

Im jüngsten Kino-Kassenschlager, dem „Terminator II„, wird der Zuschauer mit einer recht gewalttätigen Vision geschockt: Intelligente Maschinen, von Menschen erdacht und gebaut, sollen im Jahr 1997 die amerikanische Verteidigung übernehmen. Als die Militärs feststellen, daß die Supercomputer ein eigenes Bewußtsein entwickeln, versucht man den Stecker zu ziehen. Die Maschinen antworten mit einem atomaren Gegenschlag; drei Milliarden Menschenleben werden ausgelöscht.

Die Geschichte von den Robotern, die durchdrehen und die Kontrolle an sich reißen, ist zwar alles andere als neu, dennoch gibt es Grund zur Vorsicht. Als die Computer des amerikanischen Lenkwaffenkreuzers Vincennes am 3. Juli 1988 einen iranischen Airbus nicht von einem Militärjet zu unterscheiden vermochten, verloren 290 Zivilisten ihr Leben. Wenn schon „gewöhnliche“ Technologie zu derartigen fatalen Verwechselungen führen kann, ist dann die Gefahr durch denkende, lernfähige und somit auch unberechenbare Computer nicht ungleich größer?

Eine neue Broschüre des Bundesforschungsministeriums räumt hierzu ein, daß die Anwendungsmöglichkeiten neuronaler Netzcomputer „natürlich auch den Keim zu unkontrollierbarer Eigendynamik“ in sich bergen. Aus diesem Grunde sei eine die technische Entwicklung begleitende Technikbewertung erforderlich, formulierte eine zehnköpfige Expertenkommission. An eine Einschränkung der Forschungstätigkeit oder gar an ein Verbot der Entwicklung neuronaler Netze wird aber nicht gedacht. Zu vielfältig sind offensichtlich die Vorteile der neuen Technologie, die von medizinischen Anwendungen über Spracherkennung und -übersetzung bis hin zur Erkundung des Weltalls reichen, um nur einige Beispiele zu nennen.

Schon länger als die Neuroinformatiker machen sich Biologen und Mediziner Gedanken über die Konsequenzen ihres Tuns. Denn einerseits finden die Resultate der Neurobiologie ja unmittelbaren Eingang bei der Entwicklung künstlicher Neuronaler Netze; andererseits bringt die Erforschung des menschlichen Gehirns auch eine Vielzahl eigener ethischer Probleme mit sich.

Schon die Experimente selbst, die ja in den weitaus meisten Fällen an Versuchstieren durchgeführt werden, stoßen oft auf heftige Kritik in der Öffentlichkeit. Bilder von jungen Katzen oder von Menschenaffen, deren Hirnströme mit Hilfe von implantierten Elektroden gemessen werden, haben – nicht nur auf den Tierfreund – eine stark emotionalisierende Wirkung. Ob die Tiere bei diesen Experimenten nun Schmerz empfinden oder nicht, ob die Experimente zu meßbaren Fortschritten in der Medizin führen und ob diese Art der Nutzung von Mitgeschöpfen mehr oder weniger grausam ist als die gemeinhin akzeptierte Massentierhaltung, danach wird nur in Ausnahmefällen gefragt.

Der Frankfurter Hirnforscher Wolf Singer ist sicher kein Einzelfall: „Wenn Rundfunk oder Fernsehen anrufen, heißt es immer nur: Hier haben wir was gegen Sie vorliegen. Sie können, wenn Sie wollen, um fünf vorbeikommen und noch schnell ein Statement zu Ihrer Verteidigung abgeben.“ Zu komplex sind wohl die Probleme, mit denen die Neuroforscher zu kämpfen haben, zu gering der „Unterhaltungswert“, um die notwendige öffentliche Diskussion anzustoßen, an der beide Seiten brennend interessiert sein sollten.

Denn je mehr wir über die Funktion der grauen Zellen herausfinden, umso größer werden auch die Chancen zur Manipulation. Einer Ratte, der man die Möglichkeit gegeben hatte, durch Tastendruck eine Elektrode im eigenen Hirn zu stimulieren, betätigte den „Lustschalter“ an die 5000-mal in der Stunde – bis sie erschöpft zusammenbrach.

Buchautor Johannes Holler („Das neue Gehirn“) bezeichnet das Hirn zu Recht als den größten Drogenhersteller und -Konsumenten. Die dort hergestellten Botenstoffe verändern im Zusammenspiel mit ihren Ankerplätzen in jeder Sekunde unsere Wirklichkeit; erzeugen Liebe und Lust, Haß und Depression. Rund 70 Botenstoffe und 50 Ankerplätze sind bisher bekannt, und ständig werden neue dazu entdeckt.

Durch die gezielte Entwicklung neuer Medikamente könnte beispielsweise die Wirkung des Rauschgiftes Cannabis aufgehoben werden, indem man den seit kurzem bekannten Ankerplatz blockiert. Auch einem Eiweiß, an dem Kokain seine Wirkung entfaltet, sind die Forscher auf der Spur. Ein Ersatzstoff für Nikotin, das ebenfalls bestimmte Rezeptoren im Gehirn aktiviert, könnte Millionen Raucher von ihrer Sucht befreien.

Doch nicht nur Suchtkranke, sondern auch Millionen von Patienten, die alleine in Deutschland an Depressionen, Schizophrenie, Epilepsie und der Alzheimer´schen Krankheit leiden, wollen die Möglichkeiten der Neuroforschung nutzen. Sie vertrauen darauf, daß unsere Gesellschaft mit den Risiken und Versuchungen dieser Wissenschaft besser zurechtkommt als lustbesessene Laborratten.

(erschienen in „DIE WELT“ am 8. November 1991)

Mangelware Organspender

Ein Kind – Ausdruck der Liebe und des Vertrauens zwischen zwei Menschen, Ausdruck auch der Hoffnung in die Zukunft. Ein Baby – gezeugt und geboren, weil sein Blut oder seine Organe das Leben eines anderen Menschen retten sollen. Kann es einen größeren Gegensatz geben?

Die enormen Fortschritte der biomedizinischen Grundlagenforschung haben dazu geführt, daß heute mehr Transplantationen durchgeführt werden als je zuvor. Die Erfolgsquoten steigen, auch Eingriffe, die noch vor wenigen Jahren als unmöglich galten, werden zur Routine. Doch zusammen mit dieser erfreulichen Entwicklung wächst die Angst vor Organhandel und dem Mißbrauch der neuen Techniken.

Während Organe in der Vergangenheit zumeist von toten Spendern gewonnen wurden, hat in den Vereinigten Staaten jetzt ein Fall für Schlagzeilen gesorgt, in dem ein Kind erklärtermaßen gezeugt und geboren wurde, um das Leben eines anderen Familienmitgliedes zu retten.

Trotz aller Fortschritte in der Transplantationsmedizin fehlt es nämlich in den USA wie überall an Organen, um den rapide gestiegenen Bedarf zu befriedigen. Obwohl jährlich rund 15000 Operationen vorgenommen werden, stehen mehr als 23000 Menschen auf der Warteliste der zuständigen US-Behörde. Zu häufig verlieren die Patienten das Rennen gegen die Zeit; wahrscheinlich werden 2000 unter ihnen sterben müssen, weil kein geeigneter Spender gefunden werden kann.

Ein Einzelfall veranschaulicht das menschliche Leiden hinter den nackten Zahlen: Vor drei Jahren hatten die Ärzte der 16-jährigen Anissa Ayala die Diagnose „chronische myeloische Leukämie“ gestellt, eine Form des Blutkrebses, die binnen fünf Jahren zum Tode führt (Anmerkung: heutzutage liegt die 5-Jahres-Überlebensrate bei 90 %). Die einzige Chance für das Mädchen bestand in einer Knochenmarktransplantation, doch war trotz verzweifelter Suche in den gesamten USA kein geeigneter Spender zu finden.

Mehr als bei allen anderen Geweben kommt es bei Transplantationen des Knochenmarks darauf an, daß die blutbildenden Zellen von Spender und Empfänger sich möglichst ähnlich sehen. Eiweißstrukturen auf der Oberfläche dieser Zellen werden sonst als fremd erkannt, es kommt zum „Krieg“ zwischen den vermeintlichen Eindringlingen und den Immunzellen des Empfängers.

Eine Art Zufallsgenerator im Erbgut sorgt dafür, daß nur etwa zehn unter einer Million Menschen identische Eiweißstrukturen auf den Oberflächen ihrer Zellen aufweisen. Nur zwischen diesen Menschen ist ein Krieg der Abwehrzellen mit Sicherheit auszuschließen. Die einzige Ausnahme von dieser Regel bilden nahe Verwandte: Weil die väterlichen und mütterlichen Erbanlagen nach der Befruchtung der Eizelle gemäß fester Spielregeln neu gemischt werden, haben Geschwister eine 25prozentige Chance auf „baugleiche“ Abwehrzellen.

Ausgehend von dieser Überlegung beschlossen Anissas Eltern, diese Chance zu nutzen. Nachdem der Vater Anissas eine Vasektomie hatte rückgängig machen lassen wurde Mary Alaya im Alter von 43 Jahren schwanger und brachte im April 1990 Marissa zur Welt, deren Immunzellen sich glücklicherweise als passend erwiesen.

Vor wenigen Wochen war es dann soweit: Ärzte entnahmen der 14 Monate alten Marissa in einer Routineoperation etwa einen achtel Liter Knochenmark, das direkt anschließend der kranken Schwester injiziert wurde. Die Operation am City of Hope National Medical Center im kalifornischen Duarte war für die Spenderin völlig ungefährlich, wenn auch mit vorrübergehenden Schmerzen verbunden. Die behandelnden Ärzte beziffern Alayas Chancen auf eine vollständige Genesung jetzt mit 70 Prozent.

Im Gefolge des aufsehenerregenden Falles ist in den Vereinigten Staaten die Diskussion über die ethischen Aspekte der Transplantationsmedizin neu entbrannt. Eine Umfrage für das Nachrichtenmagazin „Time“ ergab, daß 47 Prozent der Bevölkerung keine moralischen Bedenken dagegen haben, wenn Eltern ein Kind empfangen, um damit das Leben eines anderen Kindes zu retten. 37 Prozent der Befragten hielten diese Vorgehensweise dagegen für unmoralisch.

Als wesentlich problematischer wird dagegen die Verwendung von embryonalem Gewebe zur Behandlung von Krankheiten angesehen. Die Zellen, die sich noch in einem sehr frühen Entwicklungsstadium befinden, sind sehr anpassungsfähig. Transplantate werden vom Immunsystem des Empfängers meist nicht als fremd erkannt.

Eine ganze Reihe von medizinischen Untersuchungen haben ergeben, daß Zellen aus dem Gehirn eines frühzeitig abgetriebenen Föten den Zustand von Patienten verbessern können, die an der Parkinson´schen Schüttellähmung leiden. Knapp die Hälfe der Amerikaner hält derartige Experimente allerdings für unakzeptabel, nur 36 Prozent würden ein solches Vorgehen befürworten.

Der sehr begrenzte Einsatz fötalen Gewebes hat bereits Anlaß zu heftigen Auseinandersetzungen gegeben. Während die Kritiker mit Schrecken feststellen, daß Aldous Huxleys utopischer Roman „Schöne neue Welt“ bereits eingeholt wird vom biomedizinischen Alltag, sehen Patienten mit unheilbaren, aber weit verbreiteten Leiden wie der Alzheimer´schen Krankheit einen Silberstreifen am Horizont.

„Warum“, so fragen sie, „sollte das Gewebe aus einem totgeborenen Fötus nicht benutzt werden dürfen, um das Leiden schwerkranker Menschen zu mildern?“ In den USA aber besteht zur Zeit ein gesetzliches Verbot, öffentliche Gelder zur Erforschung dieser Möglichkeit bereitzustellen. In Deutschland schließt das Embryonenschutzgesetz diese Forschung ebenfalls aus.

Auch Neugeborene, die mit einer tödlichen Mißbildung des Gehirns – einer Anenzephalie – zur Welt kommen, wurden bereits als mögliche Organspender ins Gespräch gebracht. Diese „Gehirnlosigkeit“ tritt bei etwa drei von 10000 Neugeborenen auf und führt in den allermeisten Fällen zu einem Schwangerschaftsabbruch.

Nur in seltenen Ausnahmefällen (etwa bei Zwillingsschwangerschaften, in denen das zweite Kind gesund ist) kommen diese Kinder lebend zur Welt; doch sie sterben dann nach wenigen Tagen im Krankenhaus. Ihre Körper werden anonym bestattet oder enden im Krematorium. Nun wären einige Eltern prinzipiell bereit gewesen, die Organe ihrer hirnlosen Kinder zur Transplantation freizugeben in der Hoffnung, dem schrecklichen Schicksal der Anencephalen doch noch einen Sinn zu geben.

Von dieser Möglichkeit wurde auch in der Vergangenheit schon mehrmals Gebrauch gemacht, in Einzelfällen auch in der Bundesrepublik. Zu den wenigen Ärzten, die sich offen zu dieser Vorgehensweise bekannten, gehört der Münsteraner Gynäkologe Fritz Beller, der aber mit seiner Vorstellung unter den Kollegen überwiegend auf Ablehnung traf. 1989 erklärte die Arbeitsgemeinschaft der Transplantationszentren der Bundesrepublik, anencephale Kinder nicht als Organspender in Betracht zu ziehen.

Bei dieser Entscheidung spielte auch die Tatsache eine Rolle, daß selbst die „hirnlosen“ Kinder nicht hirntot im medizinischen Sinne sind und damit die gesetzliche Voraussetzung für eine Organspende nicht erfüllen. Da nach dem Hirntod dieser Kinder allenfalls noch die Nieren zu nutzen wären, wollte man diese Überlegung trotz des akuten Organmangels in Deutschland nicht weiter verfolgen.

Obwohl noch in weiter Zukunft besteht dennoch die Hoffnung, daß weitere Fortschritte in der Grundlagenforschung es eines Tages ermöglichen könnten, Ärzte, Angehörige und Patienten aus dem ethischen Dilemma zu befreien, das letztlich durch die moderne Medizin heraufbeschworen wurde. Die Zucht großer Mengen spezialisierter Zellen im Reagenzglas etwa könnte die Abhängigkeit von lebenden oder toten Organspendern vermindern helfen.

Wissenschaftler der Universität Sussex im Süden Englands und der schottischen Universität Strathclyde arbeiten derzeit an diesem Problem: Die größte Schwierigkeit bei der Anzucht von Zellen besteht darin, daß diese nur dann zu vermehren sind, wenn sie sich in einem frühen Entwicklungsstadium befinden. Für Transplantationen würden aber spezialisierte Zelltypen wie Leber-, Pankreas- oder auch Nervenzellen benötigt. Dem steht entgegen, daß Zellen in der Regel mit der Spezialisierung ihre Teilungsfähigkeit einbüßen. Caroline MacDonald, Julien Burke und Lynne Mayne glauben, das Problem überwinden zu können, indem sie spezialisierten Zelltypen zur „Unsterblichkeit auf Widerruf“ verhelfen.

Dazu führen die Forscher fremde Gene in ihre Zellen ein. Eines dieser Gene (T) trägt die Anweisung, die Zellteilungen trotz Spezialisierung fortzusetzen – ein Vorgang, der sonst nur in entarteten Zellen beobachtet wird. Das Gen, ein Bruchteil der Erbinformation des Affenvirus SV40, ist schon lange Zeit bekannt und trägt die Bauanleitung für ein Eiweiß – das große T-Antigen -, welches offensichtlich in die Regulation der Zellteilung eingreift.

Die größte Herausforderung besteht für die britischen Wissenschaftler darin, das Fremdgen nach Gutdünken wieder abzuschalten, so daß die Zellen nach einer Transplantation aufhören, sich zu vermehren und den Platz im Körper einnehmen, der ih1en von den behandelnden Ärzten zugewiesen wird. Auch dieses Ziel scheint im Bereich des Machbaren zu legen: Versehen mit einem „genetischen Schalter“ – einem Promotor – kann das Gen für das große T-Antigen nach Belieben an- und ausgeschaltet werden, einfach indem bestimmte Hormone oder Antibiotika zur Nährflüssigkeit der Zellen hinzugefügt werden.

Noch raffinierter ist ein Trick, den der New Yorker Forscher Harvey Ozer erproben will: Er will einen temperaturabhängigen Promotor benutzen, der beispielsweise bei 28 Grad in der Zellkultur den Befehl zur Teilung gibt und sich nach dem Transfer in einen menschlichen Körper bei 37 Grad selbständig abschalten würde.

Derzeit stecken diese Versuche noch in den Kinderschuhen. Die beteiligten Forscher aber könnten uns einen guten Schritt näher bringen an eine „schöne neue Welt“. Eine Welt vielleicht, in der lebensrettende Organe, Gewebe und Zellen in ausreichender Menge und für alle zur Verfügung stehen, ohne daß menschliche Körper als Ersatzteillager dienen müßten.

(erschienen in „DIE WELT“ am 6. Juli 1991)

Was wurde daraus? Die Transplantationsmedizin hat sich ständig weiterentwickelt, doch der Organmangel kostet weiterhin unzähligen Menschen das Leben. Der spektakuläre Fall von Anissa und Marissa Alaya hatte ein Happy-End; beide sind heute wohlauf und die Geschichte wurde unter dem Titel „For the Love of my Child“ sogar verfilmt. Die chronisch myeloische Leukämie, die zum Zeitpunkt des Artikels noch beinahe einem Todesurteil gleichkam, wird heute in der Mehrzahl der Fälle erfolgreich behandelt. Die 5-Jahres-Überlebensraten liegen bei über 90 %.