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Genanalysen – Chancen und Risiken

Fluch und Segen zugleich birgt die Möglichkeit einer Gendiagnose, wie der Amerikaner Henry T. Lynch aus eigener Erfahrung zu berichten weiß. Der grauhaarige Wissenschaftler von der Creighton Universität im Bundesstaat Nebraska hat seine ganze Karriere der Untersuchung erblicher Krebserkrankungen gewidmet – eine besonders bösartige Form des Darmkrebses, das Lynch-Syndrom, trägt sogar seinen Namen.

Auf einem Fachkongreß in Bonn schilderte der Mediziner kürzlich die enormen Belastungen, unter denen die weiblichen Mitglieder einer Großfamilie aus Omaha zu leiden haben. Bei dieser Familie tritt eine aggressive, erbliche Krebsform seit Generationen mit erschreckender Häufigkeit auf. Jede zweite Frau in dieser Familie muß damit rechnen, daß sich in der Brust- oder in den Eierstöcken lebensbedrohliche Geschwüre bilden.

Ein molekularbiologisches Verfahren, das erst in den letzten Jahren entwickelt wurde, erlaubt es seit kurzem, die Frauen anhand ihrer Gene in zwei gleichgroße Gruppen zu trennen: Mitglieder der einen Gruppe werden von ihrer Angst erlöst; ihr Krebsrisiko ist nicht höher als das in der normalen Bevölkerung. Die Frauen der anderen Gruppe tragen dagegen mit 98-prozentiger Wahrscheinlichkeit ein defektes Gen. „Im Prinzip können wir das zum Zeitpunkt der Geburt feststellen“, sagt Lynch, der selbst einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung der Methode geleistet hat.

Für Frauen in der zweiten Gruppe ist das  Risiko drastisch erhöht, schon in mittlerem Alter an dem erblichen Brust-Ovariar Krebs-Syndrom (HBOC) zu erkranken. Auch durch halbjährliche Untersuchungen der bedrohten Organe und selbst die vorsorgliche operative Entfernung der Eierstöcke kann die Gefahr lediglich verringert werden. Nachdem Lynch die Frauen in ihrer vertrauten Umgebung in persönlichen Gesprächen über ihre Lage aufgeklärt hatte, stellte er eine Frage, die mit zunehmender Verbreitung genanalytischer Verfahren auf immer mehr Menschen zukommen wird: „Wollen Sie wirklich wissen, ob Sie in 15, 20 oder 40 Jahren damit rechnen müssen, an einer möglicherweise unheilbaren, tödlichen Krankheit zu leiden?“

Nach einer dreiwöchigen Bedenkzeit und eingehender Beratung entschieden sich die meisten Frauen schließlich für den Gentest. Menschliche Dramen hätten sich abgespielt, als die Resultate bekannt gegeben wurden, erinnert sich Lynch. Dramatisch auch ein weiteres Ergebnis: Unter den Frauen, bei denen ein defektes Gen gefunden wurde, verlangte die Hälfte, sämtliche Eintragungen in den Krankenakten zu löschen.

„Die Versicherungen sind ganz wild auf diese Daten, weil sie die Menschen mit erhöhtem Risiko am liebsten ausschließen würden“, erläutert Lynch. Um ähnliche Machenschaften in Deutschland bereits im Keim zu ersticken, streben Mitglieder aller im Bundestag vertretenen Fraktionen eine Ergänzung des Grundgesetzes an. Dort soll, gemäß einem Vorschlag der Verfassungskommission, in Artikel 74 die künstliche Befruchtung beim Menschen sowie die Untersuchung und die künstliche Veränderung von Erbinformationen aufgenommen werden. Ein Gesetz zur Genomanalyse würde damit auch der Zustimmung des Bundesrates bedürfen und hätte dann – im Gegensatz zu anderen gesundheitsrechtlichen Gesetzen – über die Ländergrenzen hinaus Gültigkeit.

Von einer bundeseinheitlichen Regelung erwartet die forschungspolitische Sprecherin der SPD, Edelgard Bulmahn zum Beispiel eine Garantie der „informationellen Selbstbestimmung“. Genetische Daten müßten demnach im Patienten-Arzt-Verhältnis verbleiben und dürften nicht an Dritte weitergegeben werden.

Nach Meinung von Kritikern wird es für solch eine Regelung höchste Zeit: Das „Human Genome Projekt“, mit dem in weltweiter Kooperation alle Erbanlagen des Menschen entschlüsselt werden sollen, schreitet schneller voran, als selbst Optimisten zu hoffen wagten. Schon Ende des nächsten Jahres könnten sämtliche geschätzt 75000 Gene des Homo sapiens kartiert sein (Anmerkung: Die Schätzung war viel zu hoch; derzeit geht man von ca. 21000 menschlichen Genen aus).

Die Versuchung, aufgrund der dann vorliegenden Daten, ungeborene Kinder, Ehepaare, Arbeitssuchende und Versicherungsnehmer anhand ihrer genetischen Daten zu beurteilen, wird auch unter Wissenschaftlern als ernsthafte Bedrohung empfunden. So befanden sich der amerikanische Gentherapie-Pionier French Anderson und sein Landsmann, der Gentechnik-Kritiker Jeremy Rifkin schon vor drei Jahren in seltener Übereinstimmung mit ihrer Forderung nach umfassendem Schutz für die genetischen Daten des Einzelnen.

Fundamentale ethische und soziale Probleme sieht auch der renommierte Molekularbiologe Benno Müller-Hill auf die Gesellschaft zukommen. In einem Beitrag für die britische Fachzeitschrift „Nature“ wagte der am Institut für Genetik der Universität zu Köln arbeitende Professor kürzlich einen Ausblick auf die nächsten dreißig Jahre. Er geht davon aus, daß Fortschritte in der Erkennung genetischer Eigenschaften am Anfang stehen, die Behandlung von Krankheiten dagegen möglicherweise um Jahrzehnte hinterher hinken wird.

Müller-Hill, der seine Kollegen neben der Arbeit als Grundlagenforscher auch mit Enthüllung über medizinische Verbrechen während des Dritten Reiches konfrontierte, lehnt Gentests keinesfalls grundsätzlich ab. „Wenn eine Person einen Gentest wünscht, dann soll sie den auch haben.“ Praktische Tests seinen aber sinnvoller. So wäre ein einfacher Rechentest bei der Aufnahme an der mathematischen Fakultät einer Universität sicherlich nützlicher als eine – derzeit noch nicht machbare – Genomanalyse. „Auch wenn es um den Arbeitsschutz geht, bin ich gegen erzwungene Gentests“, sagte Müller-Hill gegenüber den VDI-Nachrichten.  Allerdings räumt der Gen-Ethiker ein, daß Menschen, die ihrem Arbeitgeber oder der Versicherung freiwillig Daten präsentieren, welche auf ein geringes Risiko hinweisen, trotzdem im Vorteil wären.

Die Zuverlässigkeit derartiger Risikoanalysen wäre ohnehin begrenzt. Denn auch wenn ein Labortechniker in zehn Jahren möglicherweise in der Lage sein sollte, mit einem einfachen Test festzustellen, ob ein Embryo bereits eine Veranlagung für Krebs, Herzkrankheiten oder Fettleibigkeit hat – Zeitpunkt und Schweregrad der Erkrankung werden sich bestimmt nicht auf einer Farbskala ablesen lassen. Ein Großteil der menschlichen Eigenschaften scheint zudem von mehreren Genen gleichzeitig beeinflußt zu sein. Das, den Bundestag beratende Büro für Technikfolgen-Abschätzung weist darauf hin, daß die Wahrscheinlichkeit des Ausbruchs einer Krankheit trotz einer „genetischen Veranlagung“ häufig nur 10 bis 20 Prozent beträgt. Die pränatale Diagnose solch schwer zu quantifizierender Eigenschaften wie Intelligenz und Toleranz muß deshalb nicht prinzipiell unmöglich sein. Derzeit werden bereits Untersuchungen an verschiedenen Hunderassen durchgeführt mit dem Ziel, den Einfluß der Erbsubstanz auf die Charaktereigenschaften der Tiere zu ermitteln.

Auch ohne derartige Forschungsprojekte werden die sozialen Spannungen zunehmen, glaubt Müller-Hill. „Man kann sich vorstellen, daß es zu Protestbewegungen derjenigen kommt, die beschlossen haben, ihre genetische Identität nicht preiszugeben. Es wird auch Fundamentalisten geben, die sich niemals testen lassen, weil sie selbst die Resultate nicht wissen wollen. All diese Gruppen werden schwere soziale Nachteile in Kauf nehmen müssen.“

Die Wende werde erst kommen, prophezeit der Genetiker, wenn die obersten Gerichte entscheiden, daß die „genetische Ungerechtigkeit“ ungeheure Ausmaße annommen hat. Dann werde man es Angestellten und Versicherungsnehmern erlauben, falsche Daten zu präsentieren, ohne sie dafür gesetzlich zu belangen. Ein ganz ähnliches Urteil fällte übrigens im Frühjahr das Bundesverfassungsgericht: Schwangere Frauen dürfen beim Einstellungsgespräch über ihren Zustand lügen, befanden Deutschlands oberste Richter.

Der „Schatten genetischer Ungerechtigkeit“ wird nach der Prognose Müller-Hills vor allem auf diejenigen fallen, die von einem der zahlreichen Leiden des zentralen Nervensystems befallen sind. Erbanlagen, die für Schizophrenie, manische Depression oder niedrige Intelligenz verantwortlich sein können, vermutet er in Europa und den Vereinigten Staaten bei mindestens zehn Prozent der Bevölkerung. „Es wird nun behauptet, diese Eigenschaften seien vererbt. Tatsächlich ist aber sowohl der Einfluß der Familie als auch die Beitrag von Umweltfaktoren noch unklar.“

Eine Öffentlichkeit, die davon überzeugt ist, daß etwa eine bestimmte Geisteskrankheit ausschließlich auf defekte Gene zurückzuführen ist, wird die Erforschung und Beseitigung möglicher anderer Ursachen daher vernachlässigen, befürchtet der Molekularbiologe. „Es ist so viel einfacher, eine Pille zu verschreiben, als die sozialen Zustände zu ändern, die für die Schwere der Symptome verantwortlich sind.“

Den Schluß, daß man auf das Wissen über „gute“ und „schlechte“ Gene verzichten könne, hält Müller-Hill aber für falsch. Die neuen Kenntnisse würden seiner Meinung nach lediglich die Realität sichtbar machen und dadurch die Ungerechtigkeit in der Welt betonen. Dadurch würden dann Gesetze erforderlich, um die genetisch Benachteiligten zu schützen. „Soziale Gerechtigkeit muß genetische Ungerechtigkeit kompensieren.“

(Originalfassung eines Artikels für die VDI-Nachrichten, erschienen am 8. Oktober 1993)

Weitere Infos / Quellen:

  1. Müller-Hill B. The shadow of genetic injustice. Nature. 1993 Apr 8;362(6420):491-2. doi: 10.1038/362491a0.
  2. Hennen, Leo; Petermann, Thomas; Schmitt, J.-J.: TA-Projekt „Genomanalyse“: Chancen und Risiken genetischer Diagnostik. Endbericht (kostenlos abrufbar hier).

Politiker misstrauen Gentests

Die Genomanalyse ermöglicht die Früherkennung von Krankheiten. Doch je weiter die menschlichen Gene entschlüsselt werden, desto größer ist auch die Möglichkeit, das neue Wissen zu mißbrauchen. Das ergab eine Studie im Auftrag des Büros der Technikfolgenabschätzung des Bundestages (TAB). Für Forschungspolitiker entsteht daraus die Forderung nach gesetzlichen Regelungen für die Nutzung der Genomanalyse.

Die immer schneller voranschreitende Entschlüsselung des menschlichen Erbmaterials wird nach Meinung der Experten eine ganze Reihe ethischer und rechtlicher Probleme mit sich bringen. Für den Einzelnen werde diese Entwicklung von größerem Einfluß sein als beispielsweise die Entdeckung der Kernspaltung, mußmaßte Professor Karl-Hans Laermann vor der Bonner Wissenschaftspressekonferenz. „Eine freiwillige Selbstbeschränkung reicht deshalb nicht aus – wir streben eine bundesweite Regelung an“, sagte der forschungspolitische Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion.

Schon heute besteht die Möglichkeit, über 700 verschiedene Krankheiten durch einen Gentest festzustellen. Zum Teil handelt es sich dabei um Krankheiten mit tödlichem Ausgang, für die es noch keinerlei Therapie gibt.

In der TAB-Studie wird nicht nur der Trend erkennbar, die Möglichkeiten der vorgeburtlichen Diagnose immer mehr auszuschöpfen. Es zeichnet sich auch ab, daß unerwünschte Merkmale immer häufiger mit „krank“ gleichgesetzt werden. Edelgard Bulmahn, stellvertretende forschungspolitische Sprecherin der SPD-Bundestagsfraktion, verwies in diesem Zusammenhang auf eine Befragung von Schwangeren, die ergab, daß eine genetische Veranlagung des Embryos zur Fettleibigkeit für 18 % aller Frauen ein Grund zur Abtreibung wäre.

Um derartige Mißbräuche auszuschließen, forderte Frau Bulmahn, pränatale Genomanalysen nur in Ausnahmen zuzulassen, etwa dann, wenn es sich um schwerwiegende Krankheiten handelt, deren Erkennung eine Behandlung vor der Geburt ermöglicht. Ebenfalls erlaubt wäre ein Gentest zur Früherkennung schwerwiegender Krankheiten, die im Kindes-oder Jugendalter auftreten und nicht therapierbar sind. Ein entsprechender Indikationskatalog sollte von der ärztlichen Standesvertretung unter Beteiligung von Patienten-Selbsthilfegruppen erstellt werden, meinte die SPD-Abgeordnete.

Enge Grenzen müssen nach dem Willen aller Beteiligten auch bei den Versicherungsgesellschaften gezogen werden, die ein besonders großes Interesse daran haben, ihr Risiko durch den Ausschluß krankheitsgefährdeter Menschen zu minimieren, was in den USA schon heute der Fall ist. „Die exakte Kenntnis des individuellen Risikos ist mit dem Versicherungsgedanken der Solidargemeinschaft unvereinbar“, erklärte dazu Karl-Hans Laermann. Deshalb dürften genetische Analysen in diesem Zusammenhang nicht gefordert werden. Ob man sich mit diesen Vorstellungen auf EG-Ebene durchsetzen kann, wurde jedoch allgemein bezweifelt.

Am Arbeitsplatz soll eine Analyse des Erbguts nur dann möglich sein, wenn dadurch Risiken für den Arbeitnehmer vermieden werden. Beispiel: Für den Bäckerlehrling wäre es gesundheitsschädigend, wenn er seine Mehlstauballergie nicht rechtzeitig erkennt. Dem Arbeitgeber darf dagegen nach den Vorstellungen der Forschungspolitiker kein Anspruch auf die genetischen Daten seiner Angestellten gewährt werden.

Ergänzt werden soll der Schutz der persönlichen genetischen Daten durch das „Recht auf Wissen“. Demnach wird es dem Einzelnen prinzipiell erlaubt sein, einen Gentest in Anspruch zu nehmen, allerdings nur nach vorheriger Beratung durch einen Fachmann. Fraglich bleibt dann bloß, was ein gesunder junger Mensch macht, wenn er durch einen Test erfährt, daß er mit 40 an einer unheilbaren Krankheit leiden wird. Das ist die Kehrseite des Wissens.

(erschienen in den VDI-Nachrichten am 24. September 1993)

Polymerase-Kettenreaktion: Eine Idee für 300 Millionen

Selten hat eine Technik der Wissenschaft so schnell auf die Sprünge geholfen wie im Falle der Polymerasekettenreaktion . Die zündende Idee, welche es ermöglichte, Erbinformationen gezielt und praktisch nach Belieben zu vermehren, kam dem Amerikaner Dr. Kary Mullis auf der Fahrt ins Wochenende an einem lauen Maienabend im Jahr 1983. Nun erhielt er dafür den Robert-Koch-Preis.

Schon 1985 hatte Mullis seine Idee in die Praxis umgesetzt. Im letzten Jahr zahlte Hoffmann-La Roche dann die Rekordsumme von 300 Millionen Dollar für „alle Rechte und Patente, für alle bekannten und noch unbekannten Anwendungen“ der Polymerasekettenreaktion (PCR) an Mullis‘ ehemaligen Arbeitgeber, die kalifornische Cetus Corporation.

Die Investition wird sich rentieren, denn der PCR erschließen sich ständig neue Märkte. Von der Archäologie über die Diagnose von Erbschäden und Krankheitserregern bis zur Überwachung im Umweltschutz reichen die Anwendungen.

Auch anläßlich der Verleihung des diesjährigen Robert-Koch-Preises am 2. November in Bonn machte Mullis klar, daß das Potential der PCR noch lange nicht ausgereizt ist. Weil sich mit Hilfe der Technik, die dem zelleigenen Kopiermechanismus für DNA ähnelt, einzelne Abschnitte des Erbguts nach Belieben vermehren lassen, können Krankheitserreger auch dort nachgewiesen werden, wo serologische Methoden versagen.

Bei der Untersuchung HIV-positiver Säuglinge von HIV-positiven Müttern etwa reicht ein Antikörper-Test allein nicht aus, um zu überprüfen, ob das Kind infiziert ist oder nicht. Die PCR dagegen kann das Virus direkt nachweisen und liefert eine frühzeitige Antwort. Die Nachweisgrenze liegt etwa bei einer infizierten Zelle unter 100 000.

Der HIV-Nachweis durch die Polymerasekettenreaktion ist aber kein Einzelfall. So gelang es, bakterielle Krankheitserreger wie Bordetella pertussis, Legionella pneumophila, Heliobacter pylori, Mycobakterien und Chlamydien in asymptomatischen Trägern aufzuspüren. Auch Viren wie Hepatitis B und C, Papilloma- und Herpesviren, einzellige Erreger wie Toxoplasma gondii, Pneumocystis carinii und Entamoeba histolytica oder Pilzinfektionen durch Candida albicans und Cryptococcus neoformans wurden schon mit Hilfe der PCR entdeckt.

In naher Zukunft werden standardisierte Kits erwartet, welche die Nachweiszeiten gegenüber den gebräuchlichen Zellkulturmethoden um ein Vielfaches verkürzen sollen. In der forensischen Medizin steht der PCR ebenfalls eine große Zukunft bevor: Am Tatort verbliebene Haare, Blutspuren oder Spermien dienen in den USA immer häufiger als Beweismittel in Gerichtsverfahren. Bestimmte Teilabschnitte der DNA, die über Jahre hinweg intakt bleiben kann, werden dafür vervielfältigt und mit der DNA der Verdächtigen verglichen.

In Großbritannien wird das Verfahren inzwischen regelmäßig bei Vaterschaftsklagen und Einwanderungsverfahren eingesetzt, denn verwandtschaftliche Beziehungen können ebenfalls nachgewiesen werden. Auch nach Flugzeugabstürzen könnte sich die PCR als die Methode der Wahl zur Identifikation der Leichname erweisen. Viele Opfer von Mördern, Kriegsverbrechern und totalitären Machthabern müßten nicht länger unerkannt bleiben.

„Die beispiellose Sensitivität der PCR hat allerdings auch ihre Schattenseiten“, beklagte Mullis, der als Sachverständiger mehrfach Gerichtsprozessen beiwohnte.

Zum einen muß sichergestellt sein, daß die Analyse in einem fachlich kompetenten Labor vorgenommen wird, weil sonst möglicherweise das Erbmaterial des Laboranten und nicht das des Täters zum Vergleich herangezogen wird. Außerdem sei es generell problematisch, eine Methode als Beweismittel zuzulassen, deren Grundlagen weder Angeklagter noch Kläger, weder Richter noch Jury verstünden.

In der Archäologie und der Paläontologie bietet die PCR die faszinierende Möglichkeit, uraltes Erbmaterial zu untersuchen, das sich zum Beispiel aus Mumien oder tiefgefrorenen Mammutresten, aus fossilen Knochen oder Überbleibseln ausgestorbener Tierarten gewinnen läßt, die in Museen aufbewahrt werden. Kürzlich wurden sogar erste Meldungen bekannt, wonach es gelungen ist, DNA aus vierzig Millionen Jahre alten Insekten zu untersuchen, die in Bernstein eingeschlossen waren.

In naher Zukunft könnte DNA als weltweiter Herkunftsnachweis für Produkte aller Art zum Einsatz kommen. Man will sich dabei die Tatsache zunutze machen, daß jegliche Information – ähnlich wie beim Morse-Code – durch die Reihenfolge der vier verschiedenen DNA-Bausteine darstellbar wäre. An einem standardisierten Codierungssystem wird bereits gearbeitet.

Ein bestimmter, synthetisch hergestellter DNA-Abschnitt könnte dann mit PCR vervielfältigt und – in extremer Verdünnung – zum Beispiel in das Öl von Supertankern gegeben werden. Die Verursacher von Verschmutzungen ließen sich endlich zweifelsfrei nachweisen, denn auf der DNA wäre – nach Vervielfältigung mit der Polymerasekettenreaktion – für jedermann nachzulesen, aus welchem Tanker das Öl stammt.

(erschienen in der Pharmazeutischen Zeitung am 26. November 1992)

Was wurde daraus? Im Jahr darauf erhielt Mullis den Nobelpreis für Chemie, und bis auf den Herkunftsnachweis per DNA-Markierung ist die PCR bei allen genannten Anwendungen im Einsatz. Auch die Wikipedia bescheinigt ihr, eine der wichtigsten Methoden der Molekularbiologie zu sein. Mullis, der für seine 300-Million-Idee von seinem Arbeitgeber lediglich $ 10.000 bekommen hatte, starb 2019 mit 74 Jahren an den Folgen einer Lungenentzündung. Zuvor hatte er seinen Ruf als Exzentriker noch unterstrichen, indem er den Zusammenhang zwischen dem Immunschwächevirus HIV und der Entstehung von AIDS bestritt, den Konsens zum Klimawandel ablehnte und über angebliche Begegnungen mit Außerirdischen berichtete…