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Google weiß, wo es die Deutschen juckt

Mit einer ziemlich ungewöhnlichen Methode haben Forscher ermittelt, an welchen Stellen die Deutschen der Juckreiz (Pruritus) plagt und welche Krankheiten dafür vermutlich verantwortlich sind. Wie sie in der Fachzeitschrift „Hautarzt“ berichten, nutzten sie dafür ein Werkzeug, das eigentlich vom Suchmaschinenbetreiber Google für die Werbung entwickelt wurde.

Der sogenannte Google-AdWords-Keyword-Planner soll helfen, Websitebesucher zu gewinnen, die Onlineverkäufe zu steigern, oder mehr Anrufe zu erhalten. Dabei werden den Nutzern, die nach bestimmten Themen suchen, maßgeschneiderte Anzeigen auf den Bildschirm gespielt. Gleichzeitig speichert Google aber auch die Suchbegriffe und liefert seinen Kunden detaillierte Auswertungen. Auf diese Datenberge haben die Forscher um den Dermatologen Dr. Alexander Zink von der Technischen Universität München zugegriffen und den Gebrauch von exakt 701 Stichworten rund um den Juckreiz ausgewertet.

Über 2 Jahre – vom Januar 2015 bis zum Dezember 2016 wurde von Rechnern, Smartphones und Tablets in Deutschland demnach exakt 7.531.890 Mal nach Juckreiz & Co. gegoogelt. Ganz oben in der Hitliste der häufigsten Anfragen standen:

  • Neurodermitis (24 Prozent)
  • Schuppenflechte (18 Prozent)
  • Psoriasis (13 Prozent) und
  • Ekzem (7 Prozent)

Da es sich bei Schuppenflechte und Psoriasis um die gleiche Krankheit handelt, und viele Ekzeme der Neurodermitis zugeordnet werden können, lässt sich schließen, dass diese beiden Leiden die Deutschen wohl am häufigsten mit Juckreiz plagen. Wenig überraschend: Dort, wo man aus den Anfragen auf mögliche Ursachen des Juckreizes schließen konnten, waren dies ganz überwiegend Hauterkrankungen (87 %). Erstaunlich dagegen: Im Winter wurde bis zu doppelt so häufig nach „Juckreiz“ gesucht, wie in den warmen Monaten des Jahres.

Und wo genau hat es die Deutschen gejuckt? Bei einem Viertel der diesbezüglichen Anfragen war es der ganze Körper, bei fast jedem Fünften der Analbereich (also am Hintern), außerdem an den Beinen, Händen, Ohren, Kopf und an den Genitalien. Danke Google – damit wäre das auch geklärt.

Zink A et al.: Pruritus in Deutschland – eine Google-Suchmaschinenanalyse. Hautarzt. 2018 Jun 6. doi: 10.1007/s00105-018-4215-5.

Crowdfunding statt Krankenkasse?

Auf der Internetplattform GoFundMe werben schwerkranke Krebspatienten um Spender für Therapien, die Krankenkassen nicht bezahlen wollen. Eine Studie in der Fachzeitschrift Lancet Oncology fand heraus, dass mehr als 13000 Menschen bereit waren, dafür zu bezahlen – obwohl die Wirkung dieser Therapien nicht bewiesen ist, und sie möglicherweise sogar das Leben verkürzen.

Dass die Arbeiten von Philosophen in medizinischen Fachzeitschriften veröffentlicht werden, hat Seltenheitswert. Dass Professor Jeremy Snyder von der Simon Fraser University im kanadischen Burnaby es trotzdem geschafft hat, liegt an seinem Spezialgebiet: Wie Menschen die Hoffnungen anderer ausbeuten. Gemeinsam mit seinem Kollegen, dem Rechtsprofessor Timothy Caulfield von der Universität Alberta hat Snyder sich deshalb auch bei GoFundMe umgesehen, der mit Abstand größten Internetplattform für das sogenannte Crowdfunding – also die Finanzierung von Erfindungen, Projekten und Kampagnen aller Art durch eine große Anzahl Menschen.

Die beiden Forscher machten ihre Stichprobe auf der englischsprachigen Hauptseite von GoFundMe am 8. Juni 2018 und durchsuchten die Inhalte nach Worten wie „Krebs“ und „Homöopathie“, um Kampagnen für eindeutig unbewiesene Krebsbehandlungen zu finden. In ihrer Momentaufnahme fanden sie 220 Kampagnen, die von 13621 Geldgebern unterstützt wurden. Die weitaus meisten Antragsteller (85 Prozent) kamen aus den USA, mehrere aus Kanada und Großbritannien, und jeweils eine Person aus Deutschland, Irland und Spanien.

Die Treffer wurden unter anderem bezüglich des erbetenen und gespendeten Geldes, der Weiterverbreitung in sozialen Medien wie Facebook und demographischer Daten der Antragsteller ausgewertet. Dabei zeigte sich, dass die Antragsteller insgesamt etwas mehr als 5 Millionen Euro erbeten hatten ($ 5.795602). Dem standen 13621 Spender gegenüber, die sich verpflichtet hatten, mehr als 1,2 Millionen Euro zu zahlen ($ 1.413482) – also knapp ein Viertel der Gesamtsumme aller Anträge. Zusätzlich hatten die Besucher von GoFundMe die Kampagnen auf Facebook exakt 112353 Mal weiter verbreitet, indem sie diese teilten.

Bei 85 der 220 Patienten ruhten die Hoffnungen auf organischen Nahrungsmitteln und dem „Juicing“, also kalt gepressten Obst- und Gemüsesäften. 68 gaben an, sich mit dem Geld Nahrungsergänzungsmittel, Vitamine und Kräuter kaufen zu wollen, 30 hofften auf Infusionen von Vitamin C. Andere glaubten an Sauerstoff- und Ozonkuren, an die Akupunktur, Cannabis, Naturheilkunde, nicht zugelassene Immuntherapien, „Entgiftungen“, Geistheilungen, die chinesische Medizin, Misteln, Yoga, „Magnettherapie“ und zahlreiche weitere Verfahren, die von den Autoren allesamt als Krebsbehandlungen ohne Wirkungsnachweis betrachtet werden.

Der größte Teil der Antragsteller (38 Prozent) wollte ihre alternativen Therapien zusätzlich zur Schulmedizin anwenden. Fast ein Drittel (29 Prozent) lehnten die Schulmedizin jedoch generell ab. Sie hatten Angst vor den Folgen und/oder bezweifelten deren Wirkung. Ebenfalls fast ein Drittel lobte die Alternativmedizin mit falschen Behauptungen wie „Es ist bewiesen, dass die Homöopathie/Naturmedizin außergewöhnliche Heilungen erzielt und dass zahlreiche Patienten ihr das Leben verdanken.“

Tatsächlich hatte eine Studie erst vor kurzem gezeigt, dass krebskranke Anhänger der Alternativmedizin geringere Überlebensraten haben und ein höheres Risiko, zu versterben. Die Verzweiflung unter den Antragsstellern war offenbar groß, und viele sehr krank. Dies hatten die Forscher anhand der Informationen der Webseite festgestellt, aber auch durch die Auswertung von Sterberegistern, wo die genannten Namen auftauchten. So fanden sie heraus, dass mindestens 28 Prozent – also mehr als ein Viertel – der Patienten bereits verstorben waren.

Dieses Bild hat ein leeres Alt-Attribut. Der Dateiname ist 96-book@2x.png   Quelle
  • Snyder J, Caulfield T. Patients‘ crowdfunding campaigns for alternative cancer treatments. Lancet Oncol. 2019 Jan;20(1):28-29. doi: 10.1016/S1470-2045(18)30950-1.

Kombiprogramm hält Senioren länger fit

Wie kann man die Selbstständigkeit von Senioren erhalten, die noch in ihrer eigenen Wohnung leben, aber schon Probleme mit Alltagsaktivitäten haben, wie zum Beispiel kochen, das Bett oder die Wäsche zu machen? Diese Frage haben sich Forscher und Ärzte an der Johns-Hopkins-Universität im US-amerikanischen Baltimore gestellt. Das Besondere daran ist, dass das Team um Professor Sarah L. Szanton sich nicht mit gut gemeinten Ratschlägen begnügte, sondern die Wirkung der vorgeschlagenen Maßnahmen systematisch ausgetestet und bewiesen hat.

In einer sogenannten randomisierten klinischen Studie verteilten sie 300, meist weibliche, Senioren ab 65 Jahren nach dem Zufallsprinzip auf 2 Gruppen. Beide Gruppen bekamen innerhalb von 5 Monaten 10 Mal Besuch. Während jedoch in der einen Gruppe lediglich ein Forschungsassistent vorbei schaute, der mit den Senioren darüber sprach, welche Aktivitäten sie gerne lernen oder ausüben möchten, bekam die andere Gruppe Besuch von bis zu 3 Spezialisten, die sich untereinander über die beste Vorgehensweise abstimmten: Ein Ergotherapeut, eine Krankenschwester, und ein Handwerker.

Das Programm trägt den Namen “Community Aging in Place—Advancing Better Living for Elders”, was sich etwa mit “Altern daheim – für ein besseres Leben der Senioren“ übersetzen lässt und mit CAPABLE (englisch für „fähig“) abgekürzt wird. Zuerst prüft der Ergotherapeut dabei, unter welchen Einschränkungen die Betroffenen leiden, welche Ziele sie haben, und inwiefern die Wohnungseinrichtung dabei hinderlich ist. Die Krankenschwester fragt nach Beschwerden wie Schmerzen, Depressionen, den eingenommen Medikamenten sowie Kraft und Balance. Gemeinsam wird dann überlegt, wie man den Senioren helfen kann, die selbst gesteckten Ziele zu erreichen – einschließlich von Reparaturen im Haus und baulichen Veränderungen, die das Leben erleichtern sollen.

Gemessen wurde das Ergebnis auf einer Skala, die die Fähigkeit beschreibt, Aktivitäten des täglichen Lebens (engl. Activities of daily live, ADL) zu bewältigen. Die Schwere der so erfassten Behinderungen verringerte sich dabei in der intensiv betreuten Gruppe um 30 %. Jeweils etwa 80 Prozent der Senioren in dieser Gruppe sagten auf Nachfrage, ihr Leben sei jetzt leichter geworden, sie könnten sich jetzt besser um sich selbst kümmern, und sie hätten mehr Vertrauen darin, die täglichen Aufgaben zu meistern. In der Vergleichsgruppe hatten dagegen nur etwa halb so viele Senioren (etwa 40 %) entsprechende Verbesserungen bemerkt.

Gekostet hat das „Rundum-Paket“ etwas weniger als € 2500 pro Teilnehmer. Darin eingeschlossen waren die Reparaturen und Veränderungen der Wohnung, die man auf etwa € 1100 Euro begrenzt hatte. Finanziert wurde die Studie von den US-Nationalen Gesundheitsinstituten (National Institutes of Health, NIH).

Begeistert kommentieren die beiden Altersmediziner Marlon J.R. Aliberti und Kenneth E. Covinsky die der Fachzeitschrift JAMA Internal Medicine erschienene Studie: CAPABLE sei ein innovatives Programm, um die Behinderungen und Einschränkungen bei älteren Menschen mit niedrigem Einkommen zu verringern. Außerdem rechnen sie vor, dass CAPABLE zumindest in den USA auch helfen könnte, die Kosten für das Gesundheitswesen zu senken. Ein Platz in einem Pflegeheim wird dort nämlich mit umgerechnet etwa € 4400 Euro pro Monat veranschlagt. Man würde also fast das Doppelte der Programmkosten einsparen, wenn es damit gelänge, die Einweisung um durchschnittlich auch nur einen Monat zu verzögern.

Quellen:

  • Szanton SL et al.: Effect of a Biobehavioral Environmental Approach on Disability Among Low-Income Older Adults: A Randomized Clinical Trial. JAMA Intern Med. 2019 Jan 7. doi: 10.1001/jamainternmed.2018.6026.
  • Aliberti MJR, Covinsky KE. Home Modifications to Reduce Disability in Older Adults With Functional Disability. JAMA Intern Med. 2019 Jan 7. doi: 10.1001/jamainternmed.2018.6414.

Training reduziert Sturzgefahr bei Älteren

Ältere Menschen, die mindestens ein Jahr lang zwei bis drei Mal wöchentlich trainieren, erleiden weniger Stürze und Sturzverletzungen. Dies berichten Dr. Philipe de Souto Barreto von der Universitätsklinik Toulouse und seine Kollegen in der Fachzeitschrift JAMA Internal Medicine.

Die Wissenschaftler haben allerdings keine eigene Untersuchung gemacht, sondern die Ergebnisse anderer Leute in einer sogenannten Meta-Analyse zusammengefasst.

In fünf verschiedenen Literaturdatenbanken suchten sie nach Studien mit Menschen ab 60 Jahren, die mindestens ein Jahr lang trainiert hatten, und bei denen man die Zahl der Stürze, Verletzungen, Brüche, Klinikeinweisungen und die Sterblichkeit mit einer Kontrollgruppe ohne solch ein Training verglichen hatte.

Die Ergebnisse von insgesamt 40 solcher Studien wurden bislang veröffentlicht. Sie hatten zusammen 21868 Teilnehmer (zwei Drittel davon Frauen), die im Durchschnitt 73 Jahre alt waren. Typischerweise waren diese Senioren drei Mal pro Woche für jeweils etwa 50 Minuten ins Training gegangen und hatten dort mit mittlerer Intensität Aerobic, Balance- und Kraftübungen gemacht.

Heraus kam, dass Senioren, die trainierten, ein zwölf Prozent niedrigeres Risiko hatten, zu stürzen. Stürze mit Verletzungen waren sogar um mehr als ein Viertel seltener (26 Prozent), und das Risiko für einen Knochenbruch schien um 16 Prozent kleiner. Hinweise auf schädliche Effekte des Trainings gab es keine. Damit wurde auch die Befürchtung entkräftet, dass der Sport bei den Senioren zu mehr Klinikeinweisungen oder gar Todesfällen führen könnte – etwa weil sie einen Herzinfarkt erleiden.

Besonders überraschend ist das Ergebnis nicht, denn andere Studien hatten zuvor schon gezeigt, dass weniger lange Fitnessprogramme die Sturzrate bei Senioren senken können. Neu ist jedoch die Erkenntnis, dass die längerfristigen Übungen auch für Menschen mit Herzerkrankungen und Nervenkrankheiten sinnvoll sein können.

Die Forscher selbst sprechen von einer „bescheidenen“ Verringerung des Sturzrisikos. Um dies zu erreichen sollten Senioren demnach zwei bis drei Mal pro Woche für jeweils 50 Minuten trainieren. Ein absoluter Schutz ist das allerdings nicht. In einem Kommentar zur Studie rechnen die US-Ärzte Ryan R. Kraemer und C. Seth Landefeld vor, dass für jeweils eine vermiedene Sturzverletzung 27 Senioren mindestens ein Jahr trainieren müssten. Und zur Verhinderung eines Bruches müssten sogar 100 Alte ein Jahr lang Sport treiben. Trotzdem sind Kraemer und Landefeld sich in ihrer Empfehlung an die Kollegen einig: „Ärzte sollten sportliches Training mittlerer Intensität in einer Häufigkeit von zwei bis drei Mal pro Woche verschreiben.“

Quellen:

Harrison´s – Die Mutter aller Medizinbücher

Zwei Bände, sechs Kilogramm, 476 Kapitel, fast 4000 Seiten im Großformat – Das ist für mich derzeit das Non-Plus-Ultra unter den Standardwerken der Medizin. Bestellt hatte ich Harrison´s Principles of Internal Medicine vorab bereits im April via Amazon, und dabei von dem garantierten Niedrigstpreis profitiert. Nu ja, so niedrig war er dann auch wieder nicht: Ich habe € 176 berappt statt der aktuell € 199. Und musste eine dreimalige Verschiebung des Liefertermins erdulden. Aber was tut man nicht alles, um auf dem neuesten Stand zu bleiben und seinen Lesern die zuverlässigsten Infos bieten zu können.

Mein liebstes Medizinbuch: Harrison´s Principles of Internal Medicine in der 20. Auflage.

Anfang Oktober waren die beiden Wälzer dann endlich da, und trotz einiger Schwächen möchte ich sagen: Ja, der ist sein Geld wert, der Harrison. Natürlich sollte man englisch können, aber dann ist die Lektüre streckenweise ein wahres Vergnügen. Sinnvoll strukturiert, übersichtlich und präzise werden sowohl die wissenschaftlichen als auch die „handwerklichen“ Aspekte der Inneren Medizin erläutert. Beschrieben werden die neusten Erkenntnisse zu Krankheitsmechanismen, aktualisierte Studienergebnisse und (amerikanische) Leitlinien. Hinzu gekommen sind neue, zeitgemäße Kapitel zur Gesundheitsvorsorge, Verhaltensökonomie – sehr zeitgeistig auch die „Gender-Issues“ – und für mich besonders interessant neue Technologien und Forschungsgebiete wie die Epigenetik, Mikrobiomik, personalisierte Medizin, Neuro-Therapien und Medizinische Informatik.

Unter den gedruckten Werken ist „Der Harrison“ nun wieder in punkto Aktualität ganz vorne. Es ist die 20. Ausgabe, und es hat sich einiges getan seit dem Vorläufer, der 2015 publiziert wurde. So wurden Kapitel, die zuletzt nur noch in einer Online-Version verfügbar waren, wieder ins Buch geholt, ebenso die weiterführenden Literaturangaben. Der Harrison in der 20. Auflage hätte das perfekte Medizin-Lehrbuch und -Nachschlagewerk für mich sein können, ABER: Die absolut sinnvolle Ergänzung durch eine ständig aktualisierte Online-Version ist nicht im stolzen Kaufpreis enthalten. Bei accessmedicine.com lässt man sich dies mit $ 299 vergolden – pro Jahr! Das ist mir entschieden zu viel, und so muss ich weiter mit der Unsicherheit leben, ob ich tatsächlich die neuesten praxisrelevanten Informationen auf der Hand habe. Und natürlich wächst diese Unsicherheit angesichts der rapiden Fortschritte in der Medizin von Tag zu Tag. Aus einer Rezension bei Amazon.com entnehme ich z.B., dass die im Oktober 2017 verabschiedete, heiß diskutierte neue US-Leitlinie zum Bluthochdruck in der Printausgabe noch nicht angekommen ist.

Nun ja. Medizinjournalisten wie ich sollten ja ohnehin alles neu recherchieren – schließlich besteht unser Job nicht darin, aus Lehrbüchern abzuschreiben. Aber eine solide Grundlage ist halt doch unverzichtbar. Und weil die medizinische Praxis nicht überall gleich ist, steht bei mir neben der englischsprachigen Mutter-Ausgabe auch noch die deutsche Variante „Harrisons Innere Medizin„, in der 19. Auflage (wann die Nr. 20 komt, habe ich nicht herausgefunden). Die gibt es zum Glück in einer sehr ordentlichen Softcover-Version in 4 Bänden für vergleichsweise bescheidene € 140. Oder in luxuriös als gebundene Ausgabe, dann allerdings nah ´dran an der € 300-Grenze.

Mir gefällt an meiner Softcover-Ausgabe das große Format und das angenehme Schriftbild, was das Lesen per se angenehmer macht als im US-Original. Die Übersetzung ist für meinen Geschmack manchmal etwas holprig geraten, aber es gibt – und das ist eigentlich das beste Argument für den Kauf der deutschen Ausgabe – jeweils einen oder mehrere hiesige Fachleute, die die einzelnen Kapitel überprüft und mit den relevanten deutschen Zahlen, Leitlinien und Literaturverweisen ergänzt haben. Die sind dann auch noch grau unterlegt, sodass man die deutschen Besonderheiten auf den ersten Blick erkennt. Also Daumen hoch: das ist wirklich gelungen.

Und schließlich habe ich noch einen Tipp für die Kollegen, die nicht ganz so viel ausgeben wollen, um Up-to-Date zu sein: Soeben ist der „Herold Innere Medizin 2019“ erschienen. Der wird jedes Jahr aktualisiert, bringt es mittlerweile auch schon auf fast 1000 eng bedruckte Seiten ohne Schnick-Schnack und darf trotz (oder wegen?) seines ultrakonzentrierten Schreibstils ebenfalls als Standardwerk der Inneren Medizin gelten.

Multiple Sklerose früh behandeln

Nach der Diagnose sollten Patienten mit Multipler Sklerose (MS) möglichst schnell behandelt werden. Das fordert einer der renommiertesten Experten auf diesem Gebiet, Professor Ludwig Kappos, Chefarzt Neurologie am Universitätsspital in Basel. Er stützt sich dabei auf eine Studie, bei der Patienten mit unterschiedlichem Behandlungsbeginn über elf Jahre hinweg verfolgt und auf ihren Gesundheitszustand hin überprüft wurden.

„Unsere Studie bestärkt uns darin, Betroffenen bereits beim ersten Auftreten von hochverdächtigen MS-Symptomen dringend eine vorbeugende Therapie zu empfehlen. Ein früher Behandlungsbeginn hat gegenüber einer verzögerten Therapieeinleitung nachweisbare Vorteile, weil damit der Ausbruch von MS verzögert oder sogar verhindert werden kann“,

sagte Kappos in einer Pressemitteilung. Im Hintergrund der Studie stehen auch Meinungsverschiedenheiten zwischen den Neurologen angesichts sehr unterschiedlicher Verlaufsformen der Krankheit. Bei manchen Patienten schreiten die Behinderungen wie Schwäche, Koordinations- und Sprachstörungen nur langsam fort. Meist entwickelt sich die Krankheit auch in Schüben. Beschwerden wie Taubheit, eingeschränktes Sehvermögen, Kraftminderung oder Gleichgewichtsstörungen tauchen plötzlich auf und vergehen wieder, manchmal sogar ohne Behandlung. Dies hatte in der Vergangenheit einige Experten dazu bewogen, bei der Gabe von Medikamenten Zurückhaltung zu fordern. Immerhin können Beta-Interferone, die als Standard-Arzneien gegen die MS gelten, auch Nebenwirkungen wie Schwäche und Müdigkeit hervorrufen, die die Lebensqualität der Patienten beeinträchtigen.

Die Einschätzung des Behandlungserfolgs ist auch deshalb schwierig, weil nach den Krankheitsschüben im Gehirn offenbar ein Reparaturprozess statt findet, der die Schäden zumindest teilweise kompensiert. Angesichts eines in der Regel jahrzehntelangen Krankheitsverlaufs konnten die bisherigen Studien mit ihren wenigen Jahren Laufzeit Kosten und Nutzen einer möglichst frühen Behandlung daher nicht zuverlässig beurteilen, sagen die Forscher um Kappos. Hier schafft die neue Untersuchung nun Klarheit, deren Ergebnisse ich wie folgt zusammenfassen und übersetzen möchte:

Teilgenommen haben 468 Personen mit ersten verdächtigen MS-Symptomen, die aber noch nicht ausreichten, um eine sichere Diagnose zu stellen. Immerhin konnten andere Ursachen ausgeschlossen werden und Magnetresonanzaufnahmen des Gehirns hatten mindestens zwei asymptomatische „Herde“ nachgewiesen – also Regionen mit MS-typischen Veränderungen.

Die Teilnehmer erhielten dann nach dem Zufallsprinzip innerhalb von maximal 60 Tagen ab Beginn der Symptome entweder das Medikament Interferon β-1b oder ein Scheinmedikament. Nach spätestens zwei Jahren oder früher, wenn bei den Betreffenden nach einem zweiten Schub MS diagnostiziert wurde, konnte die Placebo-Gruppe ebenfalls auf die Einnahme von Interferon β-1b oder eines vergleichbaren Medikaments umsteigen.

Elf Jahre nach dem Beginn der Studie konnten die Forscher die Daten von fast 300 Patienten auswerten. Es  zeigte sich, dass jene mit früher Therapie eine um 33 Prozent niedrigere Wahrscheinlichkeit hatten, definitiv an MS zu erkranken als jene, die erst später behandelt wurden. Außerdem verstrich bei der frühen Gruppe deutlich mehr Zeit bis zum ersten Rückfall der Krankheit, nämlich 1888 Tage im Vergleich zu 931 Tagen bei der späteren Gruppe. Schließlich war auch die Häufigkeit von Krankheitsschüben in der frühen Gruppe um 19 Prozent geringer gewesen. Diese Unterschiede spiegelten sich allerdings nicht beim Vergleich der Behinderung. „Insgesamt hatten beide Gruppen nach elf Jahren nur wenig dauerhafte Beeinträchtigungen“, teilen die Forscher mit. Die durchschnittliche Verschlechterung auf der zehnstufigen Behinderungsskala EDSS hatte jeweils nur 0,5 Punkte betragen, und nur rund acht Prozent der Teilnehmenden waren nach elf Jahren vorzeitig berentet.

Originalartikel:

Kappos L, Edan G, Freedman MS, et al. The 11-year long-term follow-up study from the randomized BENEFIT CIS trial. Neurology. 2016;87:1-10.  (noch kein Link verfügbar)

(veröffentlicht auf hinstimulator.de am 11. August 2016)

Computer gegen Retinitis pigmentosa

Mit den unterschiedlichsten Ansätzen versuchen Forscher, die Ursache für die Augenkrankheit Retinitis pigmentosa (RP) aufzuhalten: den fortschreitenden Zerfall der Fotorezeptor-Zellen in der Netzhaut auf der Rückseite des Auges. Erste Anzeichen sind meist eine Verkleinerung des Gesichtsfeldes und eine Verschlechterung der Nachtsicht

Zwar gibt es einige Erfolgsmeldungen aus frühen Versuchen, das Leiden mit einer Gentherapie zu lindern. Auch die Transplantation von Stammzellen ins Auge wird erprobt. Und man hat man herausgefunden, dass die Einnahme von Vitamin A das Fortschreiten der RP womöglich verlangsamen kann. Einige einige Patienten haben durch sogenannte Retina-Implantate sogar einen Teil ihres Sehvermögens zurückgewonnen.

Eine echte Heilung für das Gros der Patienten, deren Zahl alleine in Deutschland auf 30000 bis 40000 geschätzt wird, ist aber noch nicht in Sicht. Umso mehr freue ich mich über eine gute Nachricht, die ich von der Deutschen Ophthalmologischen Gesellschaft (DOG) erhalten habe, der wissenschaftlichen Vereinigung deutscher Augenärzte. Ich zitiere in Auszügen:

Tübinger Augenärzte haben … ein computerbasiertes Training entwickelt, das die Wahrnehmung und das Orientierungsvermögen der Betroffenen innerhalb von sechs Wochen deutlich verbessert. Die Deutsche Ophthalmologische Gesellschaft (DOG) sieht in der Software eine Chance, die Sicherheit und die Lebensqualität von Menschen mit Retinitis pigmentosa zu steigern und empfiehlt, das Training in die Behandlung dieser Patienten mit einzubinden.

„Die Patienten erkennen Hindernisse zu spät, sie stürzen häufiger, und das Risiko, als Fußgänger im Straßenverkehr zu Schaden zu kommen, ist erhöht“, sagt Professor Susanne Trauzettel-Klosinski, die an der Universität Tübingen die Forschungseinheit für visuelle Rehabilitation leitet. Darunter leidet die Lebensqualität: „Viele Menschen mit Tunnelblick trauen sich kaum mehr ihre Wohnung zu verlassen und am öffentlichen Leben teilzunehmen“, sagt sie.

Dagegen hilft offenbar ein Trainingsprogramm, bei dem die Patienten vor einem Bildschirm sitzen, auf dem zufallsgesteuert Zahlen erscheinen. Die Aufgabe besteht darin, die Zahlen mit der Maus wegzuklicken. Dabei erscheinen einige Zahlen auch außerhalb des Gesichtsfeldes der Patienten. Durch gezielte Bewegungen der Augäpfel lernen sie aber, auch diese Zahlen zu erfassen. Ein ähnliches Training nutzen bereits Schlaganfallpatienten, bei denen der Hirnschaden zu einem Gesichtsfeldausfall geführt hat.

In einer ersten klinischen Studie testeten 25 Patienten mit Retinitis pigmentosa das PC-Programm zu Hause am Laptop. Sie trainierten an fünf Tagen pro Woche für jeweils 30 Minuten. Die Ergebnisse wurden nun im Fachblatt PLOS One veröffentlicht: Nach sechs Wochen Training hatten die Patienten ihre Reaktionszeiten im PC-Training um 37 Prozent gesenkt. Die Patienten konnten danach einen Gehtest mit Hindernissen schneller und mit weniger Fehlern absolvieren als eine Vergleichsgruppe, die nur an einem Lesetraining teilgenommen hatte. Während des Gehtests trugen alle Teilnehmer ein Gerät, das die Augenbewegungen registrierte.

Die Ergebnisse zeigen, dass die Probanden vermehrt die Umgebung ihres eingeschränkten Gesichtsfeldes erkunden, erklärt Trauzettel-Klosinski: „Durch das Training haben sie gelernt, die Bewegung ihrer Augäpfel bewusst zu steuern – so nehmen sie Hindernisse besser wahr als untrainierte Patienten.“ Ein solches Training kann die Mobilität auch nach einem bereits erfolgten Orientierungs- und Mobilitätstraining mit dem Langstock verbessern. Die Tübinger Ophthalmologen arbeiten die Trainingssoftware nun zu einem benutzerfreundlichen Programm aus. Die Kosten dafür schätzt Trauzettel-Klosinski auf etwa 300 Euro und hofft, dass die Krankenkassen sich daran beteiligen.

Übertriebene Hoffnungen möchten die Tübinger Augenärzte trotzdem nicht aufkommen lassen. Das Training kann die RP weder aufhalten noch heilen. Aber es hilft offenbar, trotz des fortschreitenden Sehverlustes im Alltag besser zurecht zu kommen. „Die Übungen helfen den Betroffenen ihr verbliebenes Blickfeld effektiver zu nutzen und sich so im Alltag besser zurechtzufinden“, erklärt Professor Frank G. Holz vom Vorstand der Stiftung Auge, die die Tübinger Studie unterstützt hat. Für die Patienten böte das Training spürbare Vorteile: sie können aktiv etwas gegen die Folgen der Erkrankung unternehmen und gewinnen an Lebensqualität.

(veröffentlicht bei hirnstimulator.de am 11. August 2016)

Originalliteratur:

Ivanov IV, Mackeben M, Vollmer A, Martus P, Nguyen NX, Trauzettel-Klosinski S. Eye Movement Training and Suggested Gaze Strategies in Tunnel Vision – A Randomized and Controlled Pilot Study. PLoS One. 2016 Jun 28;11(6):e0157825.

Asthma – Wege zur Vorbeugung

Vom Sport über die Hundehaltung bis zum „Genuss“ von Rohmilch reicht die Liste der Maßnahmen, die dem Asthma vorbeugen oder Beschwerden bei bereits Erkrankten lindern sollen. Dies zeigen mehrere Studien, die Arbeitsgruppen aus Deutschland, Schweden und Kanada in den vergangenen Monaten veröffentlicht haben.

Ein Grund für die Suche nach Präventionsmöglichkeiten dürfte sein, dass die Häufigkeit des Leidens in den vergangenen Jahrzehnten ständig zugenommen hat – besonders in den 1980er und 1990er Jahren. In manchen Regionen der Welt sind bis zu 30 Prozent der Bevölkerung davon betroffen. Epidemiologen beobachten deshalb Menschen mit unterschiedlichen Lebensumständen und vergleichen dann die Häufigkeit, mit der die verschiedenen Gruppen später im Leben an Asthma erkranken.

„Nur 30 Minuten am Tag: Regelmäßige Übungen erleichtern Asthma-Symptome“, vermeldeten beispielsweise Forscher der Concordia Universität in Montreal und deren Kollegen. Sie haben dazu 643 Asthma-Patienten untersucht und nach Zusammenhängen zwischen der Aktivität und der Schwere der Symptome gesucht. Tatsächlich hatten diejenigen, die sich mindestens 30 Minuten am Tag zu Fuß oder auf dem Fahrrad bewegten, eindeutig weniger Atemprobleme als ihre unsportlichen Leidensgenossen. Sogar ein halbe Stunde Yoga am Tag vermochte die Symptome zu lindern.

Wie der Studienleiter Professor Simon Bacon erläutert, besteht ein Teil des Problems darin, dass Asthmatikern meist vom Sport abgeraten wird, aus Sorge, dies könne Kurzatmigkeit und Atemnot hervorrufen. Die Angst vor den so genannten Bronchospasmen sei zwar nicht völlig unbegründet, dem könne man jedoch durch die Einnahme seiner Medikamente vor dem Sport und durch langsames Abkühlen danach vorbeugen, sagt Bacon. „Auch wenn Sie Asthma haben ist das keine Entschuldigung dafür, sich nicht sportlich zu betätigen.“

Eine andere Spur haben Forscher der Universität von Uppsala in Schweden verfolgt: Sie nutzten die umfangreichen Datenbanken ihres Landes, in denen sowohl medizinische als auch soziale Informationen für alle Einwohner gespeichert sind. Die Studienkoordinatorin Tove Fall vom Department of Medical Sciences and the Science for Life Laboratory konnte dadurch bei mehr als einer Million Kindern überprüfen, ob sie an Asthma erkrankt waren, und ob sie mit oder ohne Hunde in ihren Familien aufgewachsen waren. Das Ergebnis war, dass Kinder, die mit Hunden aufwuchsen um etwa 15 Prozent seltener an Asthma erkrankten.

Wie sie überhaupt auf die Idee gekommen ist, begründete Fall folgendermaßen: „Frühere Studien haben gezeigt, dass sich das Asthmarisiko für Kinder in etwa halbiert, wenn sie auf einem Bauernhof aufwachsen. Wir wollten sehen, ob dieses Verhältnis auch auf Kinder zutrifft, die in ihrem Zuhause mit Hunden aufwachsen.“ Weil die Forscher Zugang zu solch einer großen und detailreichen Datenbank hatten, konnten sie auch ausschließen, dass Faktoren wie Asthmaerkrankungen der Eltern, der sozioökonomische Status oder der Wohnort das Ergebnis verfälschten. Aus der Studie folgt allerdings nicht, dass alle Kinder mit Hunden aufwachsen sollten. Im Gegenteil sollten Kinder, die bereits an einer Katzen- oder Hundeallergie leiden, diese Tiere vermeiden.

Auch eine deutsche Arbeitsgruppe hat sich an der Suche nach möglichen Schutzfaktoren gegen das Asthma beteiligt. Erika von Mutius, Leiterin der Asthma- und Allergieambulanz am Dr. von Haunerschen Kinderspital der Ludwigs-Maximilians-Universität in München entdeckte dabei, dass Kinder, die Rohmilch trinken seltener erkranken als solche, die mit „normaler“, industriell bearbeiteter, Milch aufwachsen. Etwa 1000 Mütter hatten für die Studie namens „Pasture“ notiert, was ihre Kinder bis zum sechsten Lebensjahr gegessen und getrunken hatten, und an welchen Krankheiten sie litten. Die Forscher vermuten, dass der Schutzeffekt zumindest teilweise mit dem höheren Fettanteil der Rohmilch und den darin enthaltenen Omega-3-Fettsäuren erklärt werden kann. Je intensiver die Milch nämlich bearbeitet wird, umso mehr zersetzen sich diese Säuren.  Trotzdem empfehlen die Wissenschaftler nicht, den Kindern Rohmilch zu geben, weil sie Keime enthalten kann, die Infektionskrankheiten verursachen könnten.

Originalarbeiten:

Bacon SL, Lemiere C, Moullec G, Ninot G, Pepin V, Lavoie KL. Association between patterns of leisure time physical activity and asthma control in adult patients. BMJ Open Respir Res. 2015 Jul 24;2(1):e000083.

Fall T, Lundholm C, Örtqvist AK, Fall K, Fang F, Hedhammar Å, Kämpe O, Ingelsson E, Almqvist C. Early Exposure to Dogs and Farm Animals and the Risk of Childhood Asthma. JAMA Pediatr. 2015 Nov;169(11):e153219.

Brick T, Schober Y, Böcking C, Pekkanen J, Genuneit J, Loss G, Dalphin JC, Riedler J, Lauener R, Nockher WA, Renz H, Vaarala O, Braun-Fahrländer C, von Mutius E, Ege MJ, Pfefferle PI; PASTURE study group. ω-3 fatty acids contribute to the asthma-protective effect of unprocessed cow’s milk. J Allergy Clin Immunol. 2016 Jun;137(6):1699-1706.e13.

(veröffentlicht auf Simmformation.de am 10. August 2016)

Am Patienten vorbei

Über ein Drittel aller vom Arzt verschriebenen Medikamente werden nicht eingenommen. Von den ausbleibenden Heilerfolgen einer ärztlichen Behandlung ganz abgesehen, beläuft sich allein der wirtschaftliche Schaden in den alten Bundesländern nach einer Schätzung auf fünf bis sieben Milliarden Mark.

Einige Leitlinien für das ärztliche Verhalten, mit denen dieses Problem der „Non-compliance“ abgemildert werden kann, präsentierte Privatdozent Dr. Uwe Gieler, Oberarzt des Zentrums für Haut- und Geschlechtskrankheiten der Philipps-Universität in Marburg, jetzt auf einem vielbeachteten Vortrag anläßlich der Tagung „Fortschritte der Allergologie, Immunologie und Dermatologie“ in Davos.

Prinzipiell gehe es darum, so Gieler, sich mit dem Patienten gegen die Krankheit zusammenzuschließen, der Arzt dürfe nicht gegen die Krankheit operieren, ohne den Patienten zu berücksichtigen. So zeigte eine Studie bei jugendlichen Patienten, daß in der Behandlung der Alopecia areata die Compliance umso besser ist, je mehr der Patient davon überzeugt ist, daß er selbst den Verlauf der Krankheit beeinflussen kann. „Wenn er das als Zufall oder Schicksal ansieht, dann sind die therapeutischen Möglichkeiten natürlich schlecht. Man muß in diesem Fall erst an dem Krankheitskonzept arbeiten, bevor man zu einer gezielten topischen oder gar systemischen Therapie kommen kann.“

In mehreren Studien wurde eine direkte Korrelation zwischen der Compliance und dem Bildungsgrad des Patienten festgestellt. Bei Dermatosen fand man auch einen Zusammenhang mit der Intensität und der Ausbildung der Dermatose. Der Vorstellung, daß der behandelnde Arzt schon abschätzen könne, inwieweit sich der Patient an die Anweisungen hält, widersprach Gieler.

Auf Seiten des Arztes oder Apothekers gibt es nach Gielers Ansicht eine ganze Reihe von Maßnahmen, um die Compliance zu verbessern. Dem Verhalten des Arztes kommt in diesem Zusammenhang eine besondere Bedeutung zu. Kann er sich optimal auf den Patienten einstellen, wirkt sympathisch und motiviert, so wird sich dies in der Regel auch auf die Einstellung des Kranken niederschlagen. „Faktoren, die mit dem Verhalten des Patienten zu tun haben, müßen wir ebenfalls kennen. Natürlich gibt es Patienten, die hypochondrisch veranlagt sind, und deshalb nur schwer für die Therapie zu gewinnen. Es gibt solche, die große Ängste haben etwa vor einer Cortisonanwendung, oder diejenigen, die eine sehr passive Einstellung gegenüber der eigenen Gesundheit haben.“

Besonders wichtig, und auch vom Arzt zu beeinflussen sind diejenigen Faktoren, die mit der Art und dem Inhalt der ärztlichen Instruktionen zu tun haben. Kurioserweise glauben einige Ärzte manchmal selbst nicht, daß ihre Instruktionen auch befolgt werden. „Wir müßen natürlich auch selbst daran glauben, daß die verordneten Therapien anschlagen und nur die Behandlungsschemata anwenden, von denen wir auch wirklich überzeugt sind. Auf der anderen Seite dürfen die Erwartungen auch nicht zu hoch werden, wir müßen die Erfolgschancen realistisch einschätzen.“

Die Instruktionen selbst seien häufig unverständlich. „Fachausdrücke wie ‚prognostische Faktoren‘ oder ‚ubiquitäre Allergene‘ können die meisten Patienten einfach nicht verstehen obwohl sie in den ’normalen‘ Sprachgebrauch des Arztes Eingang gefunden haben.“ Zu häufig läßt man sich nach Gielers Meinung auch dazu verführen, ein Zuviel an Informationen zu geben und den Patienten damit zu überladen. „Besser wenig kleine Informationen gezielt, als alles auf einmal“ rät der Dermatologe. Falsch sei es auch, unpräzise Informationen zu liefern, etwa dem Patienten zu raten, er solle ein Präparat solange einnehmen, wie er es selbst für nötig halte. Vermieden werden sollte der erhobene Zeigefinger („wenn Sie kein Cortison nehmen, brauchen Sie gar nicht wiederzukommen“) ebenso wie eine Verletzung des Selbstwertgefühls („andere Patienten haben es auch geschafft“).

Auch die Fähigkeit des Arztes, dem Patienten zuzuhören sei manchmal unterentwickelt, kritisierte Gieler. „Es ist nicht hilfreich, den Patienten mit schriftlichen Informationen vollzustopfen. Die schriftliche Information sollte ein Hilfsmittel sein, die nach der Sprechstunde nochmals konsultiert werden kann.“

Zusammenfassend betonte Gieler, daß eine Vielzahl von Studien erwiesen hätten, daß in punkto Compliance noch sehr viel Raum für Verbesserung sei. „Grundregeln sind: Einfache, klare Anweisungen, sympathisches Verhalten, der Versuch auf den Patienten einzugehen und das Umfeld der Erkrankung zu verstehen. Man sollte im Gespräch ein klares Ziel definieren und bei flankierenden Maßnahmen gegebenenfalls auch Bezugspersonen einzuschalten. Wenn diese Punkte ausreichend berücksichtigt werden, kann die Compliance des Patienten sicherlich deutlich verbessert werden.“

(offenbar unveröffentlichter Artikel von der Tagung „Fortschritte der Allergologie, Immunologie und Dermatologie“ in Davos, September 1991. Besucht für die Pharmazeutische Zeitung.)