Nach der Diagnose sollten Patienten mit Multipler Sklerose (MS) möglichst schnell behandelt werden. Das fordert einer der renommiertesten Experten auf diesem Gebiet, Professor Ludwig Kappos, Chefarzt Neurologie am Universitätsspital in Basel. Er stützt sich dabei auf eine Studie, bei der Patienten mit unterschiedlichem Behandlungsbeginn über elf Jahre hinweg verfolgt und auf ihren Gesundheitszustand hin überprüft wurden.

„Unsere Studie bestärkt uns darin, Betroffenen bereits beim ersten Auftreten von hochverdächtigen MS-Symptomen dringend eine vorbeugende Therapie zu empfehlen. Ein früher Behandlungsbeginn hat gegenüber einer verzögerten Therapieeinleitung nachweisbare Vorteile, weil damit der Ausbruch von MS verzögert oder sogar verhindert werden kann“,

sagte Kappos in einer Pressemitteilung. Im Hintergrund der Studie stehen auch Meinungsverschiedenheiten zwischen den Neurologen angesichts sehr unterschiedlicher Verlaufsformen der Krankheit. Bei manchen Patienten schreiten die Behinderungen wie Schwäche, Koordinations- und Sprachstörungen nur langsam fort. Meist entwickelt sich die Krankheit auch in Schüben. Beschwerden wie Taubheit, eingeschränktes Sehvermögen, Kraftminderung oder Gleichgewichtsstörungen tauchen plötzlich auf und vergehen wieder, manchmal sogar ohne Behandlung. Dies hatte in der Vergangenheit einige Experten dazu bewogen, bei der Gabe von Medikamenten Zurückhaltung zu fordern. Immerhin können Beta-Interferone, die als Standard-Arzneien gegen die MS gelten, auch Nebenwirkungen wie Schwäche und Müdigkeit hervorrufen, die die Lebensqualität der Patienten beeinträchtigen.

Die Einschätzung des Behandlungserfolgs ist auch deshalb schwierig, weil nach den Krankheitsschüben im Gehirn offenbar ein Reparaturprozess statt findet, der die Schäden zumindest teilweise kompensiert. Angesichts eines in der Regel jahrzehntelangen Krankheitsverlaufs konnten die bisherigen Studien mit ihren wenigen Jahren Laufzeit Kosten und Nutzen einer möglichst frühen Behandlung daher nicht zuverlässig beurteilen, sagen die Forscher um Kappos. Hier schafft die neue Untersuchung nun Klarheit, deren Ergebnisse ich wie folgt zusammenfassen und übersetzen möchte:

Teilgenommen haben 468 Personen mit ersten verdächtigen MS-Symptomen, die aber noch nicht ausreichten, um eine sichere Diagnose zu stellen. Immerhin konnten andere Ursachen ausgeschlossen werden und Magnetresonanzaufnahmen des Gehirns hatten mindestens zwei asymptomatische „Herde“ nachgewiesen – also Regionen mit MS-typischen Veränderungen.

Die Teilnehmer erhielten dann nach dem Zufallsprinzip innerhalb von maximal 60 Tagen ab Beginn der Symptome entweder das Medikament Interferon β-1b oder ein Scheinmedikament. Nach spätestens zwei Jahren oder früher, wenn bei den Betreffenden nach einem zweiten Schub MS diagnostiziert wurde, konnte die Placebo-Gruppe ebenfalls auf die Einnahme von Interferon β-1b oder eines vergleichbaren Medikaments umsteigen.

Elf Jahre nach dem Beginn der Studie konnten die Forscher die Daten von fast 300 Patienten auswerten. Es  zeigte sich, dass jene mit früher Therapie eine um 33 Prozent niedrigere Wahrscheinlichkeit hatten, definitiv an MS zu erkranken als jene, die erst später behandelt wurden. Außerdem verstrich bei der frühen Gruppe deutlich mehr Zeit bis zum ersten Rückfall der Krankheit, nämlich 1888 Tage im Vergleich zu 931 Tagen bei der späteren Gruppe. Schließlich war auch die Häufigkeit von Krankheitsschüben in der frühen Gruppe um 19 Prozent geringer gewesen. Diese Unterschiede spiegelten sich allerdings nicht beim Vergleich der Behinderung. „Insgesamt hatten beide Gruppen nach elf Jahren nur wenig dauerhafte Beeinträchtigungen“, teilen die Forscher mit. Die durchschnittliche Verschlechterung auf der zehnstufigen Behinderungsskala EDSS hatte jeweils nur 0,5 Punkte betragen, und nur rund acht Prozent der Teilnehmenden waren nach elf Jahren vorzeitig berentet.

Originalartikel:

Kappos L, Edan G, Freedman MS, et al. The 11-year long-term follow-up study from the randomized BENEFIT CIS trial. Neurology. 2016;87:1-10.  (noch kein Link verfügbar)

(veröffentlicht auf hinstimulator.de am 11. August 2016)