Müllkippe und Speisekammer, Rohstoffquelle und Naturgewalt – die Ozeane der Erde haben viele Gesichter. Jedes Kind weiß heute, daß über zwei Drittel der Erdoberfläche von Wasser bedeckt sind. Wie wichtig die Erforschung jener 361 Millionen Quadratkilometer ist, wurde auch auf der internationalen Konferenz „Ozeane, Klima und Menschen“ der San Paolo-Stiftung deutlich, die gestern in Turin zu Ende ging. Denn die Meere der Welt sind derzeit noch die größte Unbekannte im Klimageschehen der Erde.

3800 Meter beträgt deren durchschnittliche Tiefe; im pazifischen Marianengraben geht es sogar 11 521 Meter hinab. Diese unvorstellbare Wassermenge nimmt den weitaus größten Teil der Sonnenenergie auf, speichert diese in Form von Wärme und kann sie später wieder abgeben. Das Wechselspiel zwischen Meer und Atmosphäre ist die treibende Kraft für Wetterentwicklung und Klima, das sich als Mittelwert des Wetters über einen längeren Zeitraum definieren läßt.

Obwohl Wasser rund 800-mal schwerer als Luft und wesentlich zähflüssiger ist, zeigen die Luftmassen der Atmosphäre und das Wasser der Ozeane in mancher Hinsicht ähnliches Verhalten. Ein Zyklon, der einen Durchmesser von etwa 1000 Kilometern hat, läßt sich durchaus mit einem ozeanischen Wirbel von rund 20 Kilometern vergleichen. Ebenso haben marine Wirbel zwar nur ein Fünfzigstel der Größe ihrer atmosphärischen Verwandten, sind dafür aber auch über Monate hinweg stabil.

Ein weiteres Beispiel für den Energietransfer zwischen Meer und Atmosphäre ist das Phänomen El Niño, eine warme Strömung, die für die Fischer der peruanischen Küstenregion einen wichtigen Wirtschaftsfaktor darstellt. Das Christkind – so die deutsche Übersetzung von El Niño – taucht etwa alle drei bis vier Jahre zur Weihnachtszeit vor der Westküste Südamerikas auf und unterbricht dabei die Zufuhr kalter und nährstoffreicher Wassermassen an die Oberfläche. Für die Fischer Perus bedeutet das einen drastischen Rückgang ihrer Fänge, der sich durch einen Temperaturanstieg des Oberflächenwassers ankündigt.

El Niño wandert dann weiter in Richtung Australien und Asien, was regelmäßig zu Sturmfluten und Dürrekatastrophen führt, die 1982/83 besonders verheerend waren. Während Ozeanographen und Klimatologen El Niño früher als isoliertes Phänomen ansahen, ist Dr. David Anderson von der Universität Oxford heute der Meinung, daß die Meeresströmung eine periodische Schwankung in einem zusammenhängenden System aus Ozean und Atmosphäre darstellt. So ließe sich auch ein Zusammenhang mit dem zeitweiligen Ausbleiben des indischen Monsuns erklären. Das Gesamtphänomen El Niño und die als „südliche Oszillation“ bekannte Luftdruckschwankung werden daher neuerdings als „Enso“ bezeichnet, ein Kunstwort für die beiden Aspekte der gleichen Klimaerscheinung.

„In unserer Computersimulation deutet alles darauf hin, daß Enso 1991/92 wieder besonders stark sein wird“, warnt Anderson. Ein anderes Problem brennt allerdings noch dringender auf den Nägeln – die Frage nach der Rolle, welche die Weltmeere bei der kaum noch bestrittenen globalen Erwärmung spielen.

Dr. Philip Jones vom Labor für Klimaforschung der Universität East Anglia im britischen Norwich darf sich rühmen, den Datendschungel besonders gründlich durchforstet zu haben. Rund 80 Millionen Temperaturmessungen aus den Ozeanen unseres Planeten sichtete der Klimaforscher in zehnjähriger Kleinarbeit und korrigierte dabei die teilweise erheblichen Fehler, die sich über 140 Jahre hinweg in die Datenbank eingeschlichen hatten. Denn die Meßmethoden waren in diesem Zeitraum alles andere als einheitlich.

Während man vor dem Zweiten Weltkrieg beispielsweise das Wasser noch mit einem Eimer an Bord holte und dort nach wenigen Minuten die Temperatur von einem Quecksilberthermometer ablas, sind die Sensoren heute meist in das Ansaugrohr für das Kühlwasser integriert. Dort aber – so ergab der direkte Vergleich – sind die Meßwerte zwischen 0,3 und 0,7 Grad höher als die im Eimer bestimmten.

Auch ist Eimer nicht gleich Eimer. Seitdem nämlich 1853 in Brüssel die „Internationale Vereinbarung über Messung, Sammlung und Austausch maritim meteorologischer Beobachtungen“ unterzeichnet wurde, holte man das Wasser mal mit Säcken aus Segeltuch, dann mit Holz- oder Metalleimern und seit dem Zweiten Weltkrieg endlich auch mit Plastikeimern an Bord. Da diese Behältnisse jeweils unterschiedlich gute Isolatoren sind und die genaue Meßmethode erst seit 1970 registriert ist, war Jones gezwungen, die meisten Meßwerte zu korrigieren und nicht wenige völlig außer Acht zu lassen. Dennoch ist das Ergebnis der Detektivarbeit eindeutig: „Die Durchschnittstemperatur der Erde ist in den letzten 100 Jahren um 0,5 Grad gestiegen“, sagt Jones.

Die Erwärmung – auch darin lind sich die Experten einig – ist auf die Freisetzung großer Mengen von Treibhausgasen durch den Menschen zurückzuführen. Zwar gibt es einen geradezu lebenswichtigen, natürlichen Treibhauseffekt, verursacht durch Wasserdampf md Kohlendioxid, ohne den die Erde ein kalter und unbewohnbarer Planet wäre. „Aber der Mensch bringt derzeit jährlich durch die Verbrennung fossiler Rohstoffe und die Abholzung von Wäldern etwa 7,5 Milliarden Tonnen Kohlendioxid zusätzlich in dieses fein balancierte System“, betont Georges Woodwell, Direktor des Woodshole Research Center im amerikanischen Bundesstaat Massachusetts. Das entspricht umgerechnet rund fünf Milliarden Tonnen Kohlenstoff.

In dieser Rechnung sind die Weltmeere die große Unbekannte. Sie bilden den bei weitem größten Kohlendioxidspeicher, doch fallt es schwer, abzuschätzen, was angesichts zunehmender Temperaturen langfristig geschehen wird. 40.000 Milliarden Tonnen Kohlenstoff werden allein in den tieferen, austauscharmen Schichten vermutet. An der Grenzschicht zur Atmosphäre befinden sich nochmals rund 800 Milliarden Tonnen. Hier findet auch ein reger Austausch mit der Luft statt. Ein Drittel bis zur Hälfte des durch menschliche Aktivitäten freigesetzten CO2 werden so entsorgt, doch funktioniert diese Pufferfunktion nur über begrenzte Zeit.

Eine Möglichkeit, das Gas zu entfernen, wird von den fotosynthetischen Meeresorganismen demonstriert: Ein Sammelsurium meist winziger Organismen, das Phytoplankton, produziert aus Licht und CO2 ständig neue Nährstoffe. Der Kohlenstoff wandert in die Schalen und Gehäuse der Mikroorganismen und fallt nach deren Tod auf den Meeresgrund. Doch die dazu erforderlichen gewaltigen Zeiträume stehen der Menschheit nicht mehr zur Verfügung, um die drohende Klimakatastrophe abzuwenden.

(erschienen in „DIE WELT“ am 18. April 1991)