Die deutsche Zellstoffindustrie war lange Zeit vom Aussterben bedroht. Der Zwang, gleichzeitig wirtschaftlich zu arbeiten und die im internationalen Maßstab äußerst strengen Umweltschutzbestimmungen einzuhalten, trieb den Industriezweig, der den Grundstoff für Papier, Taschentücher, Windeln und vieles mehr produziert, fast in den Ruin. Denn „wenn die übrige Welt unsere Grenzwerte hätte, würde kein Zellstoff mehr hergestellt werden“, meint Professor Rudolf Patt, Leiter des Bereiches Holztechnologie und Holzchemie an der Universität Hamburg.

Der Experte sieht die Lösung dieses Dilemmas allerdings nicht in einer Änderung unserer gesetzlichen Bestimmungen, sondern in neuen technischen Verfahren zur Zellstoffgewinnung. Heute existieren in Deutschland nur noch fünf Anlagen, die zusammen täglich 2700 Tonnen produzieren und nur einen Bruchteil des einheimischen Bedarfs decken können. Bis auf eine Ausnahme wurden auch in den neuen Bundesländern sämtliche Anlagen geschlossen. „Wir leisten uns den Luxus, Zellstoff zu importieren, der unter Bedingungen hergestellt wird, die bei uns nicht mehr möglich wären“, sagte Patt gestern vor der Wissenschaftspressekonferenz in Bonn.

Die großen deutschen Anlagen arbeiten sämtlich nach dem Sulfitverfahren, das nicht alle Hölzer verwenden kann und dessen Produkte nicht fest genug sind. Deshalb wird weltweit zu 80 Prozent nach dem Sulfatverfahren gearbeitet, bei dem aber Schwefeloxide und übelriechende Mercaptame anfallen; ein Problem, das auch mit fortschrittlichster Technologie noch nicht im Griff ist.

Neben der Festigkeit des Papiers, die für die Druckereien extrem wichtig ist, spielt in letzter Zeit auch der „Weißwert“ eine Rolle. Noch immer legen viele Verbraucher Wert auf blütenweißes Briefpapier – eine Qualität, die lange Zeit ohne die in Verruf geratene Chlorchemie nicht zu erreichen war. Den Bemühungen der Umweltschutzorganisation Greenpeace, die ein chlorfreies Verfahren auf Basis der Sulfattechnik propagiert, erteilte der Geschäftsführer der Organocell Thyssen GmbH, Gerhard Dahlmann, eine Absage. „Das kann keine Lösung sein“, meinte Dahlmann, der sein eigenes Verfahren favorisiert.

Das Organocell-Verfahren arbeitet ohne Schwefelprodukte und kann sämtliche einsetzbaren Rohstoffe verarbeiten. Eine Demonstrationsanlage mit einer Kapazität von täglich fünf Tonnen Zellstoff befindet sich bereits im Münchner Stadtteil Pasing in Betrieb. Im Prinzip sei es auch möglich, auf chlorhaltige Chemikalien bei der Bleiche zu verzichten; bei doppelter Kapazität würde das Organocell-Verfahren den Schadstoffausstoß halbieren. Derzeit wird an einer Referenzanlage in Kehlheim an der Donau gearbeitet, die durch den Umbau einer Zellstofffabrik entsteht, in der früher das Sulfitverfahren zur Anwendung kam.

Auch das zweite Verfahren, entwickelt von Professor Patt, kann eine funktionierende Pilotanlage im oberschwäbischen Baienfurt vorweisen. Das sogenannte ASAM-Verfahren unterscheidet sich von herkömmlichen Techniken durch die Zugabe von Methanol beim Holzaufschluß. Das ermöglicht es, bei der anschließenden Bleiche auf chlorhaltige Chemikalien zu verzichten. „Theoretisch bekommen wir eine abwasserfreie Zellstofffabrik“, so Patt.

(erschienen in „DIE WELT“ am 10. April 1991)