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Gentherapie heilt Immunschwäche

Ein Rückblick ins Jahr 1993, als das Forschungsgebiet der Gentherapie im Aufbruch war. Als gelernter Molekularbiologe war ich von den Möglichkeiten fasziniert und bin heute ein bisschen enttäuscht, dass man nicht schneller vorangekommen ist. Enttäuscht bin ich aber auch von Roland Mertelsmann, den ich damals auf mehreren Dienstreisen kennen gelernt habe, und dessen Name auf 58 Forschungsarbeiten auftaucht, die laut einem Gutachten der Deutschen Forschungsgemeinschaft „gefälscht oder fälschungsverdächtig“ sind.

Zwei kleine, gesunde Mädchen sind der bislang überzeugendste Beweis dafür, daß die Gentherapie erfolgreich sein kann, wo die klassische Medizin an ihre Grenzen stößt. Vor knapp drei Jahren erhielt Ashanti Desilva am Nationalen Gesundheitsinstitut der USA eine Infusion mit etwa einer Milliarde gentechnisch veränderter weißer Blutzellen. Die sechsjährige Ashanti, die damals an einer lebensbedrohlichen und äußerst seltenen Immunschwächekrankheit litt, führt heute ebenso ein normales Leben wie die elf Jahre alte Cynthia Cutshall, die wenige Monate später behandelt wurde.

Im Rückblick wird das historische Experiment als „Meilenstein in der Geschichte der Medizin“ gefeiert, die beteiligten Ärzte gelten als sichere Kandidaten für den Nobelpreis. Was W. French Anderson, Michael Blaese, Kenneth Culver und andere in mittlerweile gut 25 Studien an knapp 100 Patienten vorexerzierten, soll nun auch in der Bundesrepublik stattfinden:

An der Freiburger Universitätsklinik setzt Roland Mertelsmann auf die Gentherapie, die im Herbst bei 14 krebskranken Freiwilligen erprobt werden soll. Alle herkömmlichen Methoden haben bei diesen Patienten versagt – ein Grund mehr für den Mediziner, die Erwartungen nicht zu hoch zu schrauben. „Mehrere hundert Krebskranke haben bereits nachgefragt“, berichtet Mertelsmann.

Noch stehen die Erwartungen in krassem Mißverhältnis zu den eher spärlichen Erfolgsmeldungen. Andererseits gibt es eine Vielzahl von Gründen für den Optimismus der Beteiligten. Während Arzneimittel in aller Regel nur die Symptome einer Krankheit behandeln können, läßt sich das Übel durch eine Gentherapie oft unmittelbar an der Wurzel packen. Statt Chemikalien im Körper des Patienten abzulagern, liefert die Gentherapie den betroffenen Zellen die fehlenden Informationen, erklärt Detlev Ganten, Direktor des Max-Delbrück-Centrums für Molekulare Medizin in Berlin.

Im Falle von Ashanti und Cynthia war diese Information ein Gen, welches die Bauanleitung für ein einziges Eiweiß enthält. Ohne diesen Biokatalysator – die Adenosin-Deaminase – sammelten sich im Körper der Mädchen Stoffwechselprodukte an, die zu einer schleichenden Vergiftung wichtiger Abwehrzellen führten. Eine nicht abreißende Serie von Infektionen war die Folge; ohne die ständige Einnahme starker Antibiotika hätten die Kinder die Zeit bis zu dem rettenden Eingriff vermutlich nicht überlebt.

Zwar steht seit kurzem das fehlende Eiweiß auch in Medikamentenform zur Verfügung. Die Arznei hat aber gravierende Nebenwirkungen und konnte in mindestens drei Fällen das Leben der kleinen Patienten nicht mehr retten. Weltweit gibt es kaum 30 Kinder, die unter dieser Krankheit – der ADA-Defizienz – leiden. Trotzdem hatten Anderson, Blaese und Culver gute Gründe, die Erfolgschancen einer Gentherapie zunächst an diesem extrem seltenen Leiden zu prüfen.

Schon geringe Mengen des fehlenden Eiweißes reichen nämlich aus, um den Defekt zu korrigieren. Das Ärzteteam spekulierte deshalb darauf, daß es genügen würde, die fehlende Erbinformation zumindest in einen kleinen Teil der betroffenen Immunzellen hineinzuschmuggeln. Bei einer Gentherapie gegen Krebs wären dagegen praktisch alle entarteten Zellen zu zerstören. Um einen Gesunden vor einer Infektion mit dem Aidsvirus zu schützen, müßten gar 100 Prozent der gefährdeten Immunzellen erreicht werden.

Ein weiterer Faktor erleichtert die Gentherapie bei der ADA-Defizienz: Die betroffenen Immunzellen lassen sich relativ leicht aus dem Blutstrom isolieren. Im Labor können die Wissenschaftler
dann in die Trickkiste der modernen Biologie greifen und unter mehreren Varianten des Gentransfers auswählen. Die beliebtesten Helfer sind derzeit Viren, die sich im Lauf der Evolution darauf spezialisiert haben, in die verschiedensten Körperzellen einzudringen und dort ihr genetisches Material abzuladen. Was den Viren unter normalen Umständen hilft, sich auf Kosten des Infizierten zu vermehren, machen die Genforscher sich zunutze.

Längst haben sie die Viren „kastriert“, indem sie aus dem Erbmaterial Gene entfernten, die für die Vermehrung der Parasiten unverzichtbar sind. An ihre Stelle setzten die US-Wissenschaftler im Falle der kleinen Ashanti den molekularen Bauplan zur Herstellung des fehlenden Eiweißes – das ADA-Gen. Im Reagenzglas entluden die umgebauten Viren ihr Mitbringsel in den Blutzellen, die im Labor kräftig vermehrt und schließlich dem Mädchen injiziert wurden. Der Eingriff war erfolgreich und wurde inzwischen auch in Europa zwei Mal durchgeführt.

Da die genmanipulierten Blutzellen nur eine begrenzte Lebensdauer haben, mußten Ashanti und Cynthia die unangenehme Prozedur bisher etwa alle sechs bis acht Wochen erdulden. Den zwei jüngsten Patienten bleibt dies vermutlich erspart: Ein Ärzteteam der Universität San Franzisko erprobte im letzten Monat den Gentransfer auf Stammzellen, die kurz nach der Geburt aus den Nabelschnüren der beiden neugeborenen Knaben gewonnen wurden. Dies hat den Vorteil, daß alle Abkömmlinge der erfolgreich behandelten Stammzellen das gesunde Gen in sich tragen; im Idealfall wäre also die Krankheit mit einer einzigen Behandlung geheilt.

Leider ist es bei Kindern und Erwachsenen äußerst schwierig, die seltenen Stammzellen aufzuspüren und aus dem Knochenmark herauszulocken. In neueren Experimenten hat Gentherapie-Pionier Michael Blaese jedoch auch dieses Problem in Angriff genommen. Im niederländischen Rijswijk wartet außerdem Dinko Valerio auf eine Gelegenheit, seine Version des Gentransfers in Stammzellen an einem der seltenen Patienten mit ADA-Defizienz zu erproben.

Während bei dieser Immunschwächekrankheit weltweit eine Übermacht von Ärzten und Molekularbiologen einer vergleichsweise winzigen Zahl von Patienten gegenübersteht, sieht die Situation bei der Zystischen Fibrose, auch Mukoviszidose genannt, ganz anders aus. „Allein in Deutschland gibt es rund 10000 Patienten, deren mittlere Lebenserwartung beträgt 24 Jahre“, erklärte der Britische Molekularbiologe Robert Williamson.

Die Zellen der Patienten produzieren ein fehlerhaftes Eiweiß, welches bei Gesunden den Export von Natrium- und Chloridionen übernimmt. Ist der Ionentransporter defekt, bildet sich in Lunge und Magen-Darm-Trakt ein zähflüssiger Schleim. Die Kranken sind extrem anfällig für Infektionen durch Pilze, Bakterien und Viren, außerdem ist die Nahrungsverwertung gestört. Schuld ist ein schadhaftes Gen, bei dem in den meisten Fällen nur ein einziger von rund 300000 Bausteinen fehlt.

Williamson, der am Londoner St. Mary’s Hospital arbeitet, wird als einer der Ersten versuchen, diesen Erbdefekt mit den Methoden der modernen Biologie zu korrigieren. Statt wie seine amerikanischen und französischen Kollegen auf Viren zu setzen, hat Williamson seine Therapiegene in winzige Fettkügelchen – sogenannte Liposomen – verpackt. Sie sollen mit einem Aerosol bis in die feinsten Verästelungen der menschlichen Lunge gelangen und mitsamt der heilbringenden Erbsubstanz von den geschädigten Zellen der Luftwege aufgenommen werden. Die gesunden Gene werden dann ausgepackt und sind, wie Tierversuche andeuten, bis zu hundert Tagen in der Lage, die Produktion des fehlenden Eiweißes zu steuern. Danach müßte die Prozedur wiederholt werden.

Wenn der Gentransfer nur bei jeder zwanzigsten Zelle funktioniert, wäre das Problem nach Ansicht von Williamson gelöst. Ob das Versprechen gehalten werden kann, wird sich bald zeigen: Mit
umgebauten Erkältungsviren hat Ronald Crystal vom Nationalen Gesundheitsinstitut der USA vor wenigen Wochen den ersten Patienten behandelt.

Eher zögerlich geht man inzwischen auch in Deutschland ans Werk. Während sich in den USA schon 1984 die erste Ethikkommission mit Möglichkeiten und Folgen der Gentherapie auseinandersetzte, hat Gesundheitsminister Horst Seehofer erst vor kurzem eine Arbeitsgruppe zum Thema einberufen. Sie soll „überprüfen, ob der gegenwärtige rechtliche Rahmen angesichts der sich abzeichnenden stürmischen Entwicklung“ ausreicht. Die in Forscherkreisen weitverbreitete Haltung, ein Gentransfer sei im Prinzip mit einer Organtransplantation vergleichbar und bereite daher keine neuartigen Probleme, findet bei Politikern und in der deutschen Öffentlichkeit bisher wenig Zustimmung.

Neben Roland Mertelsmann, der seine Genehmigung schon in Händen hält, planen derzeit noch vier weitere deutsche Arbeitsgruppen den Einstieg in die Gentherapie. Sie werden große Mühe haben, den Hoffnungen todkranker Patienten und den kühnen Prognosen optimistischer Wissenschaftler gerecht zu werden: „In 50 Jahren werden 50 Prozent aller Behandlungen das Prinzip Gentherapie nutzen“, lautet die Vision von Detlev Ganten, Direktor des Max-Delbrück-Centrums für Molekulare Medizin in Berlin.

(Originalfassung eines Artikels für die VDI-Nachrichten, erschienen am 30. Juli 1993)

Gentherapie gegen Mukoviszidose geplant

Ethische Bedenken? Robert Williamson kann die Gedankengänge des Fragestellers nicht nachvollziehen, fühlt sich scheinbar persönlich angegriffen. „Ich sehe absolut kein ethisches Problem darin, die Behandlungsmöglichkeiten für eine große Anzahl von Menschen zu verbessern, die an einer sehr schweren Erbkrankheit leiden.“ Der hemdsärmelige Molekularbiologe von der Londoner St. Mary’s Hospital Medical School wird spätestens Ende des Jahres eine Gentherapie gegen die Mukoviszidose- auch Cystische Fibrose oder kurz CF genannt – erproben.

Wieviel Not sich hinter den medizinischen Fachausdrücken verbirgt, machte Williamson kürzlich auf einem Gentherapie-Symposium am Max-Delbrück-Centrum in Berlin-Buch deutlich: „Allein in Deutschland gibt es rund 10.000 Patienten; deren mittlere Lebenserwartung beträgt 24 Jahre.“ Ursache ist eine krankhaft veränderte Schleimproduktion in Lunge, Bauchspeicheldrüse, Leber und anderen Organen. Die zähe Flüssigkeit führt dazu, daß die Betroffenen häufig um Luft ringen müssen. Außerdem behindert sie lebenswichtige Verdauungsenzyme auf ihrem Weg in den Magen, weshalb die Nahrung nicht ausreichend verwertet wird.

Durch eine besonders nährstoffreiche Diät sowie eine ausgeklügelte Bewegungs- und Atemtherapie konnten in den letzten Jahrzehnten beeindruckende Erfolge erzielt werden. Zudem mildern neue Antibiotika die vielfältigen Infektionen der Atemwege, unter denen die Patienten zeitlebens zu leiden haben. Als letzter Ausweg kommt für einige wenige eine Herz-Lungen-Transplantation in Betracht. Die Fortschritte sind zwar recht beachtlich – noch in den fünfziger Jahren starben fast alle CF-Patienten im Kindesalter -, können aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß doch immer nur die Symptome behandelt werden. Nun wollen gleich fünf Arbeitsgruppen weltweit neben Williamsons Gruppe noch ein französisches und drei amerikanische Teams das Übel an der Wurzel packen.

Seit 1989 kennt man das Gen, das, wenn es lädiert ist, zu einer Mukoviszidose führt. Es enthält die Informationen zur Herstellung eines Eiweißes, das im Normalfall Natrium- und Chloridionen aus den Zellen heraustransportiert. Bei siebzig Prozent aller Betroffenen fehlt lediglich einer von 300.000 Bausteinen des CF-Gens. Der fehlerhafte Bauplan führt zur Bildung eines defekten Eiweißes. Natrium- und Cloridionen bleiben deshalb in den Zellen, die ihrer Umgebung zum Ausgleich Wasser entziehen – aus einer dünnflüssigen Schutzschicht entsteht der gefürchtete zähe Schleim.

Obwohl inzwischen dreihundert verschiedene Mutationen des CF-Gens bekannt sind, von denen zwölf gravierende Folgen haben, konnte Williamson seinen Zuhörern in Berlin-Buch auch eine gute Nachricht überbringen: „Ich denke, Sie könnten 15 kaputte CF-Gene in jeder Zelle ihres Körpers haben. So lange auch nur ein normales CF-Gen vorhanden ist, bleiben Sie gesund.“ Diese Eigenschaft verbessert die Erfolgsaussichten einer Gentherapie erheblich.

Das Ziel der Wissenschaftler ist daher nicht besonders hoch gesteckt: „Wenn nur jede zwanzigste Zelle in einer Schleimschicht normal funktioniert, würde das für einen normalen Ionentransport schon genügen.“ Dies ist eine Einsicht, die man aus Versuchen in Zellkulturen sowie an Ratten und Mäusen gewonnen hat. Mit Hilfe von „umgebauten“ Erkältungsviren ist es Ronald Crystal vom Nationalen Gesundheitsinstitut der USA in Maryland als erstem gelungen, das menschliche CF-Gen in die Lungenzellen seiner Versuchstiere einzuschmuggeln.

Crystal benutzte dazu eine Art Nasenspray, mit dem die Viren samt der heilsamen Fracht eingeatmet wurden. In den Atemwegen der Ratten konnte der Mediziner daraufhin das menschliche Eiweiß nachweisen. Auch wenn statt der Viren winzige Fettkügelchen (Liposomen) als Vehikel für den Gentransfer benutzt und per Aerosolspray in den Organismus übertragen werden, überleben die manipulierten Zellen bis zu hundert Tage. Die Erfolge im Labor genügen nach Ansicht von Williamson, um die Therapie bald an CF-Patienten zu erproben. Gegenwärtig müssen sie sich mehrmals täglich vom lebensbedrohlichen Schleim freiklopfen.

Die zuständigen klinischen Prüf- und Ethikkommissionen haben bereits die Weichen gestellt: Alle fünf Arbeitsgruppen erhielten grünes Licht, um jeweils eine kleine Zahl freiwilliger Patienten zu behandeln. Schon innerhalb der nächsten Monate sei mit dem ersten Eingriff zu rechnen, meint Williamson, der seine Erlaubnis vor zwei Wochen bekam. Er freut sich auf den unmittelbar bevorstehenden Schritt aus der Theorie in die Praxis. „Hoffentlich wird dann in wenigen Jahren eine neue Behandlung zur Verfügung stehen.“

(erschienen in der Süddeutschen Zeitung am 15. April 1993)

Test auf Erbschäden

Eizellen können jetzt auf Erbschäden untersucht werden, bevor eine Befruchtung im Reagenzglas erfolgt. Die Methode erlaubt es Frauen, die einen genetischen Defekt haben, die Weitergabe dieses Schadens an ihre Kinder zu verhindern. Die Untersuchung wird auch für Abtreibungsgegner akzeptabel sein, weil Embryonen davon unberührt bleiben, glauben die Entdecker der Methode am amerikanischen Illinois Masonic Medical Center.

Der am 16. Juli 2009 verstorbene gebürtige Russe Yuri Verlinsky gilt heute als einer der Pioniere der Pränataldiagnostik (Foto: Reproductive Genetics via Wikimedia / fair use)

Der am 16. Juli 2009 verstorbene gebürtige Russe Yuri Verlinsky gilt heute als einer der Pioniere der Präimplantationsdiagnostik (Foto: Reproductive Genetics via Wikimedia / fair use)

Wie der Biologe Yuri Verlinsky erklärte, wird zur Untersuchung eine Hälfte des Erbmaterials der Eizelle herangezogen, die während der natürlichen Eireifung ohnehin verloren geht. Zur „Vorbereitung“ der Befruchtung wird nämlich die normalerweise in Körperzellen doppelt vorhandene Erbinformation halbiert; bei der Befruchtung verschmelzen dann mütterliche und väterliche Keimzellen und es entsteht wieder ein doppelter Satz an Erbinformation. Verlinsky und seinen Kollegen gelang es nun, die ungenutzte Hälfte des weiblichen Erbmaterials – das sogenannte Polkörperchen – mit einer sehr feinen Pipette zu entfernen, ohne die Eizelle zu beschädigen.

Die im Polkörperchen enthaltene DNA kann dann unter anderem auf Erbschäden untersucht werden, die für die Mukoviszidose, die Tay-Sachs-Krankheit oder verschiedene Blutkrankheiten charakteristisch sind. Daraus lässt sich ableiten, ob die in der Eizelle verbliebene DNA noch intakt ist. Gesunde Eizellen können dann künstlich befruchtet und in die Gebärmutter eingepflanzt werden. Allerdings hält Verlinsky die neue Methode nur bei Befruchtungen im Reagenzglas für sinnvoll, und auch dann nur für Paare, in deren Familien bestimmte Erbkrankheiten verbreitet sind.

(erschienen in der WELT am 13. Januar 1990)

Quelle: Joyce C. Test finds defects in unfertilised human eggs. New Scientist 25. November 1989.

Was ist daraus geworden? Die von Yuri Verlinsky entwickelte Analyse der Polkörperchen konnte sich nicht durchsetzen. Statt entnimmt man heute dem Embryo nach wenigen Teilungen eine oder zwei Zellen, die dann auf genetische Defekte oder Unregelmäßigkeiten bei der Zahl der Chromosomen untersucht werden. Laut Wikipedia wurden mit dieser Präimplantationsdiagnostik (PID) bislang weltweit mehr als 10000 Kinder gezeugt, um die Weitergabe von Erbkrankheiten zu verhindern. Während die PID in vielen Ländern bereits seit den 1990er Jahren praktiziert wird, ist sie in Deutschland durch das Embryonenschutzgesetz verboten. Erst Ende 2011 wurde dieses Gesetz derart geändert, dass die PID nunmehr ausnahmsweise erlaubt ist, und zwar wenn aufgrund der genetischen Veranlagung der Eltern eine schwerwiegende Erbkrankheit beim Kind oder eine Tot- oder Fehlgeburt wahrscheinlich ist.

Wie ich Ende 2015 vom 6. Kongress des Dachverbandes Reproduktionsbiologie und -medizin (DVR) in Hamburg berichtet habe, kam es nach der Gesetzesänderung nicht zu dem von Kritikern befürchteten Dammbruch, und die Experten erwarten nicht mehr als 200 Fälle pro Jahr.

Zystische Fibrose – Die Folge von drei fehlenden Bausteinen

Das Gen, welches für die häufigste angeborene Stoffwechselkrankheit verantwortlich ist, wurde jetzt von amerikanischen und kanadischen Forschern lokalisiert. Von der Mukoviszidose (oder Zystische Fibrose, ZF) ist in der Bundesrepublik etwa jedes zweitausendste Neugeborene betroffen. Die meisten Patienten sterben noch vor dem Erreichen des 30. Lebensjahres. Die Betroffenen leiden unter einem stark verdickten Schleim, besonders in den Lungen, der sie für Infektionen überaus anfällig macht. Die daraus resultierende Zerstörung des Lungengewebes ist es, die dann meist zum Tode führt.

Die Entdeckung des ZF-Gens kann die Diagnose der Krankheit – auch vor der Geburt – entscheidend verbessern. Dies könnte die Anzahl an Neuerkrankungen deutlich verringern. Etwa jeder zwanzigste ist Träger eines defekten Mukoviszidose-Gens, ohne selbst an der Krankheit zu leiden. Die gemeinsamen Kinder zweier Träger jedoch sind in einem Viertel aller Fälle betroffen. Die Anzahl der ZF-Patienten wird in der Bundesrepublik auf etwa 2500 bis 4000 geschätzt. Dazu kommen pro Jahr etwa 300 bis 600 Neuerkrankungen, wie Dr. Doris Staab von der Universitätskinderklinik in Bonn mitteilte.

Die Arbeiten, die von Tsui Lap-Chee (Toronto Hospital für kranke Kinder) und Francis Collins (Howard Hughes Medical Institute an der Universität Michigan) geleitet wurden, sind der sprichwörtlichen Suche nach der Nadel im Heuhaufen durchaus vergleichbar. Obwohl es sich bei dem gefundenen „molekularen Bauplan“ um ein recht großes Gen handelt, bildet es nur etwa ein zwölftausendstel des gesamten menschlichen Erbgutes. 250000 Bausteine bilden das gesamte ZF-Gen. 24 kürzere Abschnitte müssen zunächst von der zellulären Maschinerie in der richtigen Reihenfolge zusammengesetzt werden, bevor die Eiweißfabriken der Zelle, die Ribosomen, nach dieser Anleitung den korrespondierenden Eiweißstoff herstellen können. Wie sich bei näherer Untersuchung des CF-Gens herausstellte, fehlen bei 70 Prozent der Mukoviszidosepatienten ganze drei der Viertelmillion Bausteine. Die Arbeit der Wissenschaftler wurde zusätzlich dadurch erschwert, dass über das Eiweißprodukt (Protein), welches nach diesem Bauplan angefertigt wird, bis dato nur Spekulationen kursierten.

Seit 30 Jahren versteht man es, die Sprache der Gene in die Sprache der Eiweiße zu übersetzen. Man weiß daher, dass den drei fehlenden Bausteinen im Erbmaterial (der DNA) ein fehlender Baustein im resultierenden Protein entsprechen muss. Darüber hinaus erlauben es die Gesetzmäßigkeiten, die sich bei der Vielzahl derartiger Vergleiche ergeben haben, Aussagen über die Eigenschaften dieses Eiweißstoffes zu machen.

Demnach steckt das ZF-Protein in der Zellhülle und bildet einen Kanal, durch den Chloridionen aus dem Zellinneren heraustransportiert werden. Offensichtlich lässt sich das defekte Protein nicht mehr regulieren, weil eine wichtige Region des Proteins, an der normalerweise Adenosintriphosphat (ATP) gebunden wird, zerstört wird. ATP stellt die Energie für viele zelluläre Funktionen zur Verfügung. Diese Erkenntnisse begründen die Hoffnung, jetzt gezielt Medikamente gegen die grausame Krankheit entwickeln zu können.

Vom Gen zum defekten Protein: So entsteht das CF-Eiweiß (von Kuebi = Armin Kübelbeck [CC BY-SA 3.0] via Wikimedia Commons)

Vom Gen zum defekten Protein: So entsteht das CF-Eiweiß (von Kuebi = Armin Kübelbeck [CC BY-SA 3.0] via Wikimedia Commons)

Die Suche nach dem ZF-Gen war von einem starken Konkurrenzdenken angetrieben worden, häufig kam es zu Streitigkeiten zwischen den Forscherteams, die sich an diesem Wettlauf beteiligt hatten. Abgesehen davon, dass die Sieger in diesem Wettstreit mit einer großzügigen finanziellen Unterstützung weiterer Forschungsvorhaben rechnen können, sind große Profite aus der Vermarktung der gewonnen Erkenntnisse zu erwarten: Es eröffnet sich jetzt die Möglichkeit, Reihenuntersuchungen durchzuführen, mit denen die Träger defekter ZF-Gene identifiziert werden könnten. Die Kosten hierfür würden sich jährlich auf mehrere hundert Millionen Mark belaufen.

(erschienen in der WELT am 11. September 1989)

Wa59-info@2xs ist daraus geworden? Inzwischen kennt man fast 2000 (!) Mutationen, die eine Mukoviszidose verursachen können. Es gibt es die ersten spezifischen Medikamente und die Lebenserwartung der Patienten ist weiter angestiegen. Ein Test für Neugeborene, der in vielen Ländern bereits Standard ist, wird in Deutschland aber nur bei 15 Prozent aller Babies angewandt. Auch deshalb werden mehr als 40 Prozent aller Betroffenen im ersten Lebensjahr noch nicht erkannt.