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Neue Medikamente in der Onkologie

Ein neuer Kunde bot mir die Chance, die neuesten Entwicklungen in der Krebsmedizin ausführlich zu recherchieren und auf relativ breitem Raum darzustellen. So entstand 1993 im Kontakt mit annähernd 30 Gesprächspartnern diese Momentaufnahme zu einigen Wirkstoffen, die mittlerweile Therapiestandard sind – aber auch von mehreren Kandidaten, die letztendlich erfolglos blieben.

„Wir haben nichts in der Pipeline“, gesteht Hoechst-Pressesprecher Joachim Pietzsch ebenso freimütig wie seine Kollegin Christina Sehnert von der Bayer AG. Auch bei den Marburger Behringwerken hat man kein Pillen gegen den Krebs vorzuweisen; setzt stattdessen eher auf das boomende Feld der Immuntherapien.

Angesichts der Datenlage scheint Vorsicht angebracht, wenn von „Durchbrüchen in der Krebstherapie“ die Rede ist. Obwohl viele seltenere Krebsformen in den letzten 20 Jahren behandelbar wurden, blieb die Sterblichkeit bei den „großen Killern“ Magen-, Darm- Lungen- und Brustkrebs seit 1960 fast konstant.

Erst bei näherer Betrachtung hellt das düstere Bild sich auf. Nach langer Stagnation zeichnen sich zum Ende der neunziger Jahre endlich auch auf diesem Gebiet deutliche Verbesserungen ab. Die vielleicht wichtigste Neuentdeckung ist dabei das aus Eiben gewonnene Zytostatikum Taxol und dessen Derivat Taxotere.

Bei der Zellteilung bewirken sie die komplette Verknüpfung aller Tubulinmoleküle zu fadenförmigen Röhren, den Mikrotubuli. Das innere „Skelett“ der Zelle wird dadurch praktisch eingefroren. Nach der Verdopplung der Chromosomen können diese dann nicht mehr auf die Tochterzellen verteilt werden, da hierfür die Neubildung einer komplizierten Struktur aus Mikrotubuli erforderlich ist.

Wie wirksam Taxoide auch im Vergleich zu herkömmlichen Zytostatika sind, wurde auf dem diesjährigen Treffen der Amerikanischen Gesellschaft für Klinische Onkologie in Orlando, Florida, belegt. Dort präsentierte man  eine ganze Reihe von Studien der klinischen Phase II, wonach sowohl beim Nicht-kleinzelligen Lungenkrebs als auch beim Ovarialkarzinom ein teilweises Ansprechen in jedem dritten Fall verzeichnet wurde und zwar auch bei Patienten, bei denen das Standardchemotherapeutikum Cisplatin keine Wirkung zeigte.

„Sehr beeindruckende Zahlen“ gab es vor allem für die Therapie des Brustkrebses zu vermelden, sagte Dr. Ulrich Erfort, Produktmanager für Taxotere bei Rhone-Poulenc Rorer. „Die Remissionsraten sind teilweise sehr sehr gut, auch beim fortgeschrittenem Mammakarzinom liegen sie in manchen Studien bei 60 bis 70 Prozent“, unterstrich Erfort.

Einen weiterer Schritt vorwärts bei der Bekämpfung dieser zweithäufigsten Todesursache für Frauen überhaupt bedeutet der routinemäßige Einsatz des Hormonblockers Tamoxifen. Bereits vor zwei Jahren hatte eine Arbeitsgruppe um den Epidemiologen Richard Peto an der Universität Oxford 133 Studien an 75000 Patientinnen auf einen gemeinsamen Nenner gebracht. Mit einem hochkomplexen und ungewöhnlichen statistischen Verfahren, der sogenannten Metaanalyse, gelang der Nachweis, daß die Zehn-Jahres-Überlebensrate von 71 auf 75 Prozent steigt, wenn die Behandlung in einem frühen klinischen Stadium gegonnen wird. Außerdem verhindert Tamoxifen bei vergleichsweise geringen Nebenwirkungen das Übergreifen des Krebses auf die gesunde Brust in 40 Prozent aller Patientinnen.

Die Blockade der Östrogene, die beim Tumorwachstum offensichtlich eine große Rolle spielen, wird durch diese Studie zu einem heißen Forschungsgebiet. Gegenüber der Chemotherapie ist die Hormonblockade nicht nur für die Patientinnen wesentlich schonender, die Erfolgsaussichten für eine solche Behandlung können auch durch den Nachweis der entsprechenden Hormonrezeptoren in der Brust besser eingeschätzt werden.

Sogar bei der Krebsvorbeugung könnten Hormone bald eine wichtige Rolle spielen: Eine große Untersuchung mit 16000 Teilnehmerinnen, die im vergangenen Jahr in den USA angelaufen ist, soll die Frage klären, ob Tamoxifen das Brustkrebsrisiko besonders gefährdeter Frauen senken kann.

Einen Schritt weiter geht die sogenannte Differenzierungstherapie, mit der Tumorzellen nicht abgetötet sondern „resozialisiert“ werden sollen. Auch hier spielen Hormone eine Rolle. So konnten Martin R. Schneider und Horst Michna von der Berliner Schering AG zusammen mit Wolfgang Kühnel und Yokishige Nishino vom Anatomischen Institut der Medizinischen Universität Lübeck zeigen, daß die Progesteronantagonisten Onapriston und ZK 112.993 bei experimentellen Mammakarzinomas den Tumorzellen auf die Sprünge helfen: Diese entwickelten sich im Tierversuch bei Ratten und Mäusen teilweise zu sekretorischen Zellen oder starben den „induzierten Zelltod“.

Auch klinische Studien liegen bereits vor. Bei mehreren hundert Patienten mit akuter Promyelozytenleukämie (APL) genügte die Gabe des Vitamin-A-Derivates All-trans-Retinsäure, um die Zellen zu „überreden“, sich zu funktionsfähigen Granulozyten weiter zu entwickeln. Laut dem „Interpharma Forum“ konnten mit dieser Therapie in 85 Prozent der Patienten komplette Remissionen erreicht werden. Dr. Werner Bollag, der seit etwa fünf Jahren bei Hoffman-La Roche das Konzept einer „physiologischeren“ Krebstherapie verfolgt, hofft, daß durch diese Resultate „allmählich das Tor zu einer neuen, lang gesuchten Zukunft der Krebstherapie“ aufgehen könnte.

Ähnliches hatte man sich allerdings vor zehn Jahren auch von den Interferonen oder dem Tumor Nekrose Faktor erhofft, ohne daß sich die kühnen Prognosen bis heute bewahrheitet hätten. Beide Substanzen gehören zu der Gruppe der Zytokine, die als Botenstoffe des Immunsystems das komplexe Zusammenspiel dutzender verschiedener Typen von Abwehrzellen koordinieren. Eben diese Komplexität macht den Forschern zu schaffen. Durch die Gabe eines Zytokins wird oft eine ganze Kaskade weiterer Faktoren ausgelöst. Nicht nur die Abwehrzellen selbst, sondern auch das Zentrale Nervensystem und verschiedene innere Organe können dadurch in Mitleidenschaft gezogen werden. In vielen Fällen besteht überdies keine direkte Beziehung mehr zwischen Dosis und Wirkung einzelner Substanzen.

Trotz dieser Probleme haben sich manche Zytokine einen Platz bei der Therapie – meist seltener – Krebsformen erkämpft. In klinischen Studien werden derzeit verschiedener Vertreter dieser Substanzgruppe untereinander oder mit der konventionellen Chemotherapie kombiniert. Eine „exponentielle Zunahme des Wissens“ über die Wirkung von Zytokinen im Reagenzglas sieht jedenfalls Professor Karl Welte von der Abteilung für Pädiatrische Hämatologie und Onkologie der Medizinischen Hochschule Hannover. In der Praxis aber haben die Erfolge der jüngsten Zeit, etwa beim Nierenkarzinom oder beim schwarzen Hautkrebs, den Prozentsatz der Remissionen nur geringfügig erhöhen können.

Wesentlich überzeugender ist da schon der Einsatz einiger anderer Familienmitglieder der Zytokine, der haematopoetischen Wachstumsfaktoren. Sie können einen wichtigen Beitrag leisten, um die oft lebensbedrohlichen Nebenwirkungen einer Chemotherapie in den Griff zu bekommen. Bereits zugelassen sind der Granulozyten-Kolonien stimulierenden Faktors (G-CSF) und des Granulozyten-Makrophagen-Kolonien stimulierenden Faktors (GM-CSF). Sie kurbeln die Produktion jener weißer Blutzellen an, die bei der Abwehr bakterieller Infektionen eine entscheidende Rolle spielen.

Professor Roland Mertelsmann hat die Behandlung mit den Bluthormonen G-CSF, GM-CSF und Interleukin-3 an der Universitätsklinik Freiburg weiter verbessert. Die Dauer der Abwehrschwäche konnte dadurch von etwa elf auf sechs Tage fast halbiert werden. Von neun auf drei Tage verkürzt wurde gar die Periode erhöhter Blutungsgefahr nach der Chemotherapie. Prinzipiell sollte es dank der Linderung der Nebenwirkungen auch möglich sein, die Dosierung bei der Chemotherapie zu erhöhen und somit die Heilungschancen der Patienten zu verbessern.

Auch die oberste Kommandeebene der Zellen, die DNA, wird mittlerweile ins Visier genommen. Einen indirekter Angriff auf die Struktur der Erbsubstanz ermöglicht die seit den sechziger Jahren bekannte Substanz Camptothecin (CPT). Sie hemmt die Topoisomerase I, ein Enzym, welches den DNA-Doppelstrang während des Ablesens der genetischen Information an einer Stelle auftrennt und anschließend wieder zusammenheftet. In Karzinomen des Darms, der Eierstöcke und der Speiseröhre sowie bei Lymphomen wurden erhöhte Topo-I Konzentrationen festgestellt, der Einsatz von CPT scheiterte jedoch zunächst an der enormen Toxizität des Naturstoffes.

Wie so oft könnten im Chemielabor entwickelte Analoga dieses Hindernis überwinden: Topodecan (TPT) und CPT-11 heißen die Kandidaten, die in Japan, den Vereinigten Staaten und Europa intensiv getestet werden. In klinischen Versuchen der Phase II zeigten sich ermutigende Ergebnisse unter anderem beim Lungenkrebs, wo 30 Prozent von 72 Patienten mit der nicht-kleinzelligen Form der Krankheit auf die Behandlung ansprachen. Beim kleinzelligen Lungenkrebs waren es sogar rund 40 Prozent in der Gruppe zuvor behandelter Patienten.

Die verwirrende Vielfalt neuer Arzneimittelkandidaten ruft bei Vertretern der Pharmaindustrie und bei Klinikern indes höchst unterschiedliche Reaktionen hervor. Während erstere meist eine Vielzahl von Gründen parat haben, warum gerade ihr Produkt besonders vielversprechend ist, wollen letztere sich nur höchst ungern festlegen. Die Tatsache, daß von einem guten Dutzend namhafter Onkologen kein einziger bereit war, gegenüber der Physis die Chancen einzelner Substanzen zu diskutieren, mag mit der kaum noch überschaubaren Zahl klinischer Studien und logisch erscheinender Ansätze zu tun haben. Das Zögern derjenigen, die jeden Tag Visite gehen, könnte aber auch ein deutlicher Hinweis darauf sein, daß schon zu viele todkranke Patienten in ihrer Hoffnung auf den großen Durchbruch im Kampf gegen den Krebs bitter enttäuscht wurden.

(Originalmanuskript eines Artikels für „Physis – Medizin und Naturwissenschaften“, erschienen in der Novemberausgabe 1993)

Gentherapie heilt Immunschwäche

Ein Rückblick ins Jahr 1993, als das Forschungsgebiet der Gentherapie im Aufbruch war. Als gelernter Molekularbiologe war ich von den Möglichkeiten fasziniert und bin heute ein bisschen enttäuscht, dass man nicht schneller vorangekommen ist. Enttäuscht bin ich aber auch von Roland Mertelsmann, den ich damals auf mehreren Dienstreisen kennen gelernt habe, und dessen Name auf 58 Forschungsarbeiten auftaucht, die laut einem Gutachten der Deutschen Forschungsgemeinschaft „gefälscht oder fälschungsverdächtig“ sind.

Zwei kleine, gesunde Mädchen sind der bislang überzeugendste Beweis dafür, daß die Gentherapie erfolgreich sein kann, wo die klassische Medizin an ihre Grenzen stößt. Vor knapp drei Jahren erhielt Ashanti Desilva am Nationalen Gesundheitsinstitut der USA eine Infusion mit etwa einer Milliarde gentechnisch veränderter weißer Blutzellen. Die sechsjährige Ashanti, die damals an einer lebensbedrohlichen und äußerst seltenen Immunschwächekrankheit litt, führt heute ebenso ein normales Leben wie die elf Jahre alte Cynthia Cutshall, die wenige Monate später behandelt wurde.

Im Rückblick wird das historische Experiment als „Meilenstein in der Geschichte der Medizin“ gefeiert, die beteiligten Ärzte gelten als sichere Kandidaten für den Nobelpreis. Was W. French Anderson, Michael Blaese, Kenneth Culver und andere in mittlerweile gut 25 Studien an knapp 100 Patienten vorexerzierten, soll nun auch in der Bundesrepublik stattfinden:

An der Freiburger Universitätsklinik setzt Roland Mertelsmann auf die Gentherapie, die im Herbst bei 14 krebskranken Freiwilligen erprobt werden soll. Alle herkömmlichen Methoden haben bei diesen Patienten versagt – ein Grund mehr für den Mediziner, die Erwartungen nicht zu hoch zu schrauben. „Mehrere hundert Krebskranke haben bereits nachgefragt“, berichtet Mertelsmann.

Noch stehen die Erwartungen in krassem Mißverhältnis zu den eher spärlichen Erfolgsmeldungen. Andererseits gibt es eine Vielzahl von Gründen für den Optimismus der Beteiligten. Während Arzneimittel in aller Regel nur die Symptome einer Krankheit behandeln können, läßt sich das Übel durch eine Gentherapie oft unmittelbar an der Wurzel packen. Statt Chemikalien im Körper des Patienten abzulagern, liefert die Gentherapie den betroffenen Zellen die fehlenden Informationen, erklärt Detlev Ganten, Direktor des Max-Delbrück-Centrums für Molekulare Medizin in Berlin.

Im Falle von Ashanti und Cynthia war diese Information ein Gen, welches die Bauanleitung für ein einziges Eiweiß enthält. Ohne diesen Biokatalysator – die Adenosin-Deaminase – sammelten sich im Körper der Mädchen Stoffwechselprodukte an, die zu einer schleichenden Vergiftung wichtiger Abwehrzellen führten. Eine nicht abreißende Serie von Infektionen war die Folge; ohne die ständige Einnahme starker Antibiotika hätten die Kinder die Zeit bis zu dem rettenden Eingriff vermutlich nicht überlebt.

Zwar steht seit kurzem das fehlende Eiweiß auch in Medikamentenform zur Verfügung. Die Arznei hat aber gravierende Nebenwirkungen und konnte in mindestens drei Fällen das Leben der kleinen Patienten nicht mehr retten. Weltweit gibt es kaum 30 Kinder, die unter dieser Krankheit – der ADA-Defizienz – leiden. Trotzdem hatten Anderson, Blaese und Culver gute Gründe, die Erfolgschancen einer Gentherapie zunächst an diesem extrem seltenen Leiden zu prüfen.

Schon geringe Mengen des fehlenden Eiweißes reichen nämlich aus, um den Defekt zu korrigieren. Das Ärzteteam spekulierte deshalb darauf, daß es genügen würde, die fehlende Erbinformation zumindest in einen kleinen Teil der betroffenen Immunzellen hineinzuschmuggeln. Bei einer Gentherapie gegen Krebs wären dagegen praktisch alle entarteten Zellen zu zerstören. Um einen Gesunden vor einer Infektion mit dem Aidsvirus zu schützen, müßten gar 100 Prozent der gefährdeten Immunzellen erreicht werden.

Ein weiterer Faktor erleichtert die Gentherapie bei der ADA-Defizienz: Die betroffenen Immunzellen lassen sich relativ leicht aus dem Blutstrom isolieren. Im Labor können die Wissenschaftler
dann in die Trickkiste der modernen Biologie greifen und unter mehreren Varianten des Gentransfers auswählen. Die beliebtesten Helfer sind derzeit Viren, die sich im Lauf der Evolution darauf spezialisiert haben, in die verschiedensten Körperzellen einzudringen und dort ihr genetisches Material abzuladen. Was den Viren unter normalen Umständen hilft, sich auf Kosten des Infizierten zu vermehren, machen die Genforscher sich zunutze.

Längst haben sie die Viren „kastriert“, indem sie aus dem Erbmaterial Gene entfernten, die für die Vermehrung der Parasiten unverzichtbar sind. An ihre Stelle setzten die US-Wissenschaftler im Falle der kleinen Ashanti den molekularen Bauplan zur Herstellung des fehlenden Eiweißes – das ADA-Gen. Im Reagenzglas entluden die umgebauten Viren ihr Mitbringsel in den Blutzellen, die im Labor kräftig vermehrt und schließlich dem Mädchen injiziert wurden. Der Eingriff war erfolgreich und wurde inzwischen auch in Europa zwei Mal durchgeführt.

Da die genmanipulierten Blutzellen nur eine begrenzte Lebensdauer haben, mußten Ashanti und Cynthia die unangenehme Prozedur bisher etwa alle sechs bis acht Wochen erdulden. Den zwei jüngsten Patienten bleibt dies vermutlich erspart: Ein Ärzteteam der Universität San Franzisko erprobte im letzten Monat den Gentransfer auf Stammzellen, die kurz nach der Geburt aus den Nabelschnüren der beiden neugeborenen Knaben gewonnen wurden. Dies hat den Vorteil, daß alle Abkömmlinge der erfolgreich behandelten Stammzellen das gesunde Gen in sich tragen; im Idealfall wäre also die Krankheit mit einer einzigen Behandlung geheilt.

Leider ist es bei Kindern und Erwachsenen äußerst schwierig, die seltenen Stammzellen aufzuspüren und aus dem Knochenmark herauszulocken. In neueren Experimenten hat Gentherapie-Pionier Michael Blaese jedoch auch dieses Problem in Angriff genommen. Im niederländischen Rijswijk wartet außerdem Dinko Valerio auf eine Gelegenheit, seine Version des Gentransfers in Stammzellen an einem der seltenen Patienten mit ADA-Defizienz zu erproben.

Während bei dieser Immunschwächekrankheit weltweit eine Übermacht von Ärzten und Molekularbiologen einer vergleichsweise winzigen Zahl von Patienten gegenübersteht, sieht die Situation bei der Zystischen Fibrose, auch Mukoviszidose genannt, ganz anders aus. „Allein in Deutschland gibt es rund 10000 Patienten, deren mittlere Lebenserwartung beträgt 24 Jahre“, erklärte der Britische Molekularbiologe Robert Williamson.

Die Zellen der Patienten produzieren ein fehlerhaftes Eiweiß, welches bei Gesunden den Export von Natrium- und Chloridionen übernimmt. Ist der Ionentransporter defekt, bildet sich in Lunge und Magen-Darm-Trakt ein zähflüssiger Schleim. Die Kranken sind extrem anfällig für Infektionen durch Pilze, Bakterien und Viren, außerdem ist die Nahrungsverwertung gestört. Schuld ist ein schadhaftes Gen, bei dem in den meisten Fällen nur ein einziger von rund 300000 Bausteinen fehlt.

Williamson, der am Londoner St. Mary’s Hospital arbeitet, wird als einer der Ersten versuchen, diesen Erbdefekt mit den Methoden der modernen Biologie zu korrigieren. Statt wie seine amerikanischen und französischen Kollegen auf Viren zu setzen, hat Williamson seine Therapiegene in winzige Fettkügelchen – sogenannte Liposomen – verpackt. Sie sollen mit einem Aerosol bis in die feinsten Verästelungen der menschlichen Lunge gelangen und mitsamt der heilbringenden Erbsubstanz von den geschädigten Zellen der Luftwege aufgenommen werden. Die gesunden Gene werden dann ausgepackt und sind, wie Tierversuche andeuten, bis zu hundert Tagen in der Lage, die Produktion des fehlenden Eiweißes zu steuern. Danach müßte die Prozedur wiederholt werden.

Wenn der Gentransfer nur bei jeder zwanzigsten Zelle funktioniert, wäre das Problem nach Ansicht von Williamson gelöst. Ob das Versprechen gehalten werden kann, wird sich bald zeigen: Mit
umgebauten Erkältungsviren hat Ronald Crystal vom Nationalen Gesundheitsinstitut der USA vor wenigen Wochen den ersten Patienten behandelt.

Eher zögerlich geht man inzwischen auch in Deutschland ans Werk. Während sich in den USA schon 1984 die erste Ethikkommission mit Möglichkeiten und Folgen der Gentherapie auseinandersetzte, hat Gesundheitsminister Horst Seehofer erst vor kurzem eine Arbeitsgruppe zum Thema einberufen. Sie soll „überprüfen, ob der gegenwärtige rechtliche Rahmen angesichts der sich abzeichnenden stürmischen Entwicklung“ ausreicht. Die in Forscherkreisen weitverbreitete Haltung, ein Gentransfer sei im Prinzip mit einer Organtransplantation vergleichbar und bereite daher keine neuartigen Probleme, findet bei Politikern und in der deutschen Öffentlichkeit bisher wenig Zustimmung.

Neben Roland Mertelsmann, der seine Genehmigung schon in Händen hält, planen derzeit noch vier weitere deutsche Arbeitsgruppen den Einstieg in die Gentherapie. Sie werden große Mühe haben, den Hoffnungen todkranker Patienten und den kühnen Prognosen optimistischer Wissenschaftler gerecht zu werden: „In 50 Jahren werden 50 Prozent aller Behandlungen das Prinzip Gentherapie nutzen“, lautet die Vision von Detlev Ganten, Direktor des Max-Delbrück-Centrums für Molekulare Medizin in Berlin.

(Originalfassung eines Artikels für die VDI-Nachrichten, erschienen am 30. Juli 1993)