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Neue Medikamente in der Onkologie

Ein neuer Kunde bot mir die Chance, die neuesten Entwicklungen in der Krebsmedizin ausführlich zu recherchieren und auf relativ breitem Raum darzustellen. So entstand 1993 im Kontakt mit annähernd 30 Gesprächspartnern diese Momentaufnahme zu einigen Wirkstoffen, die mittlerweile Therapiestandard sind – aber auch von mehreren Kandidaten, die letztendlich erfolglos blieben.

„Wir haben nichts in der Pipeline“, gesteht Hoechst-Pressesprecher Joachim Pietzsch ebenso freimütig wie seine Kollegin Christina Sehnert von der Bayer AG. Auch bei den Marburger Behringwerken hat man kein Pillen gegen den Krebs vorzuweisen; setzt stattdessen eher auf das boomende Feld der Immuntherapien.

Angesichts der Datenlage scheint Vorsicht angebracht, wenn von „Durchbrüchen in der Krebstherapie“ die Rede ist. Obwohl viele seltenere Krebsformen in den letzten 20 Jahren behandelbar wurden, blieb die Sterblichkeit bei den „großen Killern“ Magen-, Darm- Lungen- und Brustkrebs seit 1960 fast konstant.

Erst bei näherer Betrachtung hellt das düstere Bild sich auf. Nach langer Stagnation zeichnen sich zum Ende der neunziger Jahre endlich auch auf diesem Gebiet deutliche Verbesserungen ab. Die vielleicht wichtigste Neuentdeckung ist dabei das aus Eiben gewonnene Zytostatikum Taxol und dessen Derivat Taxotere.

Bei der Zellteilung bewirken sie die komplette Verknüpfung aller Tubulinmoleküle zu fadenförmigen Röhren, den Mikrotubuli. Das innere „Skelett“ der Zelle wird dadurch praktisch eingefroren. Nach der Verdopplung der Chromosomen können diese dann nicht mehr auf die Tochterzellen verteilt werden, da hierfür die Neubildung einer komplizierten Struktur aus Mikrotubuli erforderlich ist.

Wie wirksam Taxoide auch im Vergleich zu herkömmlichen Zytostatika sind, wurde auf dem diesjährigen Treffen der Amerikanischen Gesellschaft für Klinische Onkologie in Orlando, Florida, belegt. Dort präsentierte man  eine ganze Reihe von Studien der klinischen Phase II, wonach sowohl beim Nicht-kleinzelligen Lungenkrebs als auch beim Ovarialkarzinom ein teilweises Ansprechen in jedem dritten Fall verzeichnet wurde und zwar auch bei Patienten, bei denen das Standardchemotherapeutikum Cisplatin keine Wirkung zeigte.

„Sehr beeindruckende Zahlen“ gab es vor allem für die Therapie des Brustkrebses zu vermelden, sagte Dr. Ulrich Erfort, Produktmanager für Taxotere bei Rhone-Poulenc Rorer. „Die Remissionsraten sind teilweise sehr sehr gut, auch beim fortgeschrittenem Mammakarzinom liegen sie in manchen Studien bei 60 bis 70 Prozent“, unterstrich Erfort.

Einen weiterer Schritt vorwärts bei der Bekämpfung dieser zweithäufigsten Todesursache für Frauen überhaupt bedeutet der routinemäßige Einsatz des Hormonblockers Tamoxifen. Bereits vor zwei Jahren hatte eine Arbeitsgruppe um den Epidemiologen Richard Peto an der Universität Oxford 133 Studien an 75000 Patientinnen auf einen gemeinsamen Nenner gebracht. Mit einem hochkomplexen und ungewöhnlichen statistischen Verfahren, der sogenannten Metaanalyse, gelang der Nachweis, daß die Zehn-Jahres-Überlebensrate von 71 auf 75 Prozent steigt, wenn die Behandlung in einem frühen klinischen Stadium gegonnen wird. Außerdem verhindert Tamoxifen bei vergleichsweise geringen Nebenwirkungen das Übergreifen des Krebses auf die gesunde Brust in 40 Prozent aller Patientinnen.

Die Blockade der Östrogene, die beim Tumorwachstum offensichtlich eine große Rolle spielen, wird durch diese Studie zu einem heißen Forschungsgebiet. Gegenüber der Chemotherapie ist die Hormonblockade nicht nur für die Patientinnen wesentlich schonender, die Erfolgsaussichten für eine solche Behandlung können auch durch den Nachweis der entsprechenden Hormonrezeptoren in der Brust besser eingeschätzt werden.

Sogar bei der Krebsvorbeugung könnten Hormone bald eine wichtige Rolle spielen: Eine große Untersuchung mit 16000 Teilnehmerinnen, die im vergangenen Jahr in den USA angelaufen ist, soll die Frage klären, ob Tamoxifen das Brustkrebsrisiko besonders gefährdeter Frauen senken kann.

Einen Schritt weiter geht die sogenannte Differenzierungstherapie, mit der Tumorzellen nicht abgetötet sondern „resozialisiert“ werden sollen. Auch hier spielen Hormone eine Rolle. So konnten Martin R. Schneider und Horst Michna von der Berliner Schering AG zusammen mit Wolfgang Kühnel und Yokishige Nishino vom Anatomischen Institut der Medizinischen Universität Lübeck zeigen, daß die Progesteronantagonisten Onapriston und ZK 112.993 bei experimentellen Mammakarzinomas den Tumorzellen auf die Sprünge helfen: Diese entwickelten sich im Tierversuch bei Ratten und Mäusen teilweise zu sekretorischen Zellen oder starben den „induzierten Zelltod“.

Auch klinische Studien liegen bereits vor. Bei mehreren hundert Patienten mit akuter Promyelozytenleukämie (APL) genügte die Gabe des Vitamin-A-Derivates All-trans-Retinsäure, um die Zellen zu „überreden“, sich zu funktionsfähigen Granulozyten weiter zu entwickeln. Laut dem „Interpharma Forum“ konnten mit dieser Therapie in 85 Prozent der Patienten komplette Remissionen erreicht werden. Dr. Werner Bollag, der seit etwa fünf Jahren bei Hoffman-La Roche das Konzept einer „physiologischeren“ Krebstherapie verfolgt, hofft, daß durch diese Resultate „allmählich das Tor zu einer neuen, lang gesuchten Zukunft der Krebstherapie“ aufgehen könnte.

Ähnliches hatte man sich allerdings vor zehn Jahren auch von den Interferonen oder dem Tumor Nekrose Faktor erhofft, ohne daß sich die kühnen Prognosen bis heute bewahrheitet hätten. Beide Substanzen gehören zu der Gruppe der Zytokine, die als Botenstoffe des Immunsystems das komplexe Zusammenspiel dutzender verschiedener Typen von Abwehrzellen koordinieren. Eben diese Komplexität macht den Forschern zu schaffen. Durch die Gabe eines Zytokins wird oft eine ganze Kaskade weiterer Faktoren ausgelöst. Nicht nur die Abwehrzellen selbst, sondern auch das Zentrale Nervensystem und verschiedene innere Organe können dadurch in Mitleidenschaft gezogen werden. In vielen Fällen besteht überdies keine direkte Beziehung mehr zwischen Dosis und Wirkung einzelner Substanzen.

Trotz dieser Probleme haben sich manche Zytokine einen Platz bei der Therapie – meist seltener – Krebsformen erkämpft. In klinischen Studien werden derzeit verschiedener Vertreter dieser Substanzgruppe untereinander oder mit der konventionellen Chemotherapie kombiniert. Eine „exponentielle Zunahme des Wissens“ über die Wirkung von Zytokinen im Reagenzglas sieht jedenfalls Professor Karl Welte von der Abteilung für Pädiatrische Hämatologie und Onkologie der Medizinischen Hochschule Hannover. In der Praxis aber haben die Erfolge der jüngsten Zeit, etwa beim Nierenkarzinom oder beim schwarzen Hautkrebs, den Prozentsatz der Remissionen nur geringfügig erhöhen können.

Wesentlich überzeugender ist da schon der Einsatz einiger anderer Familienmitglieder der Zytokine, der haematopoetischen Wachstumsfaktoren. Sie können einen wichtigen Beitrag leisten, um die oft lebensbedrohlichen Nebenwirkungen einer Chemotherapie in den Griff zu bekommen. Bereits zugelassen sind der Granulozyten-Kolonien stimulierenden Faktors (G-CSF) und des Granulozyten-Makrophagen-Kolonien stimulierenden Faktors (GM-CSF). Sie kurbeln die Produktion jener weißer Blutzellen an, die bei der Abwehr bakterieller Infektionen eine entscheidende Rolle spielen.

Professor Roland Mertelsmann hat die Behandlung mit den Bluthormonen G-CSF, GM-CSF und Interleukin-3 an der Universitätsklinik Freiburg weiter verbessert. Die Dauer der Abwehrschwäche konnte dadurch von etwa elf auf sechs Tage fast halbiert werden. Von neun auf drei Tage verkürzt wurde gar die Periode erhöhter Blutungsgefahr nach der Chemotherapie. Prinzipiell sollte es dank der Linderung der Nebenwirkungen auch möglich sein, die Dosierung bei der Chemotherapie zu erhöhen und somit die Heilungschancen der Patienten zu verbessern.

Auch die oberste Kommandeebene der Zellen, die DNA, wird mittlerweile ins Visier genommen. Einen indirekter Angriff auf die Struktur der Erbsubstanz ermöglicht die seit den sechziger Jahren bekannte Substanz Camptothecin (CPT). Sie hemmt die Topoisomerase I, ein Enzym, welches den DNA-Doppelstrang während des Ablesens der genetischen Information an einer Stelle auftrennt und anschließend wieder zusammenheftet. In Karzinomen des Darms, der Eierstöcke und der Speiseröhre sowie bei Lymphomen wurden erhöhte Topo-I Konzentrationen festgestellt, der Einsatz von CPT scheiterte jedoch zunächst an der enormen Toxizität des Naturstoffes.

Wie so oft könnten im Chemielabor entwickelte Analoga dieses Hindernis überwinden: Topodecan (TPT) und CPT-11 heißen die Kandidaten, die in Japan, den Vereinigten Staaten und Europa intensiv getestet werden. In klinischen Versuchen der Phase II zeigten sich ermutigende Ergebnisse unter anderem beim Lungenkrebs, wo 30 Prozent von 72 Patienten mit der nicht-kleinzelligen Form der Krankheit auf die Behandlung ansprachen. Beim kleinzelligen Lungenkrebs waren es sogar rund 40 Prozent in der Gruppe zuvor behandelter Patienten.

Die verwirrende Vielfalt neuer Arzneimittelkandidaten ruft bei Vertretern der Pharmaindustrie und bei Klinikern indes höchst unterschiedliche Reaktionen hervor. Während erstere meist eine Vielzahl von Gründen parat haben, warum gerade ihr Produkt besonders vielversprechend ist, wollen letztere sich nur höchst ungern festlegen. Die Tatsache, daß von einem guten Dutzend namhafter Onkologen kein einziger bereit war, gegenüber der Physis die Chancen einzelner Substanzen zu diskutieren, mag mit der kaum noch überschaubaren Zahl klinischer Studien und logisch erscheinender Ansätze zu tun haben. Das Zögern derjenigen, die jeden Tag Visite gehen, könnte aber auch ein deutlicher Hinweis darauf sein, daß schon zu viele todkranke Patienten in ihrer Hoffnung auf den großen Durchbruch im Kampf gegen den Krebs bitter enttäuscht wurden.

(Originalmanuskript eines Artikels für „Physis – Medizin und Naturwissenschaften“, erschienen in der Novemberausgabe 1993)

Buchbesprechung: Die veränderte Zelle

Während in Deutschland die Behandlung „unheilbar“ krebskranker Menschen mit Hilfe der Immuntherapie noch in den Kinderschuhen steckt, verfügt der Amerikaner Steven Rosenberg über ausreichend Erfahrung, um ein ganzes Buch dem Thema zu widmen.

Nach gut zwanzig Jahren angewandter Spitzenforschung zog der vom US-Magazin Newsweek als „medizinischer Superstar“ bejubelte Rosenberg eine erste Bilanz: Seine Autobiographie „Die veränderte Zelle“ (in verschiedenen Ausgaben erhältlich bei Amazon), die der heute 53-jährige zusammen mit dem Journalisten John M. Barry verfaßt hat, liest sich über weite Strecken spannend wie ein Krimi.

Ein Rätsel, das ihm vor dreiundzwanzig Jahren der Patient James DeAngelo in der Notaufnahme eines Krankenhauses in West Roxburry aufgegeben hatte, sollte Rosenberg nicht mehr loslassen:

Zwölf Jahre nachdem der „hoffnungslose Fall“ von Magenkrebs mit einer Vielzahl von Tumoren und Metastasen zum Sterben nach Hause geschickt wurde, geriet DeAngelo im Sommer 1968 an den jungen Assistenzarzt Rosenberg. Der entfernte ihm in einem Routineeingriff die Gallenblase und stellte dabei mit ungläubigem Staunen fest, daß sämtliche Krebsgeschwüre spurlos verschwunden waren.

Niemand hatte den stoppelbärtigen Kriegsveteranen behandelt. Der Körper dieses Mannes hatte den Krebs besiegt. Unter den -zig Millionen Opfern der Krankheit waren damals weltweit ganze vier Fälle bekannt, in denen sich Magenkrebs von selbst zurückgebildet hatte.

„Wie?“ – so die Frage, die Rosenberg seither mit einer Energie verfolgt, die an Besessenheit grenzt. 

Versuche, bei denen Krebspatienten die Abwehrzellen von Schweinen injiziert wurden, muten aus heutiger Sicht bestenfalls naiv, schlimmstenfalls verantwortungslos an. Die oft in allen Details beschriebenen chirurgischen Eingriffe, die teilweise rabiaten Therapieversuche und die Erläuterung unzähliger Komplikationen und Nebenwirkungen könnten leicht den Eindruck eines Fanatikers erwecken, dem jedes Mittel recht ist.

Doch das Bild trügt. Dem hochbegabten Sohn einer jüdischen Einwandererfamilie geht es um die Rettung von Menschenleben. Teilnahmebedingung für die klinischen Versuche am Nationalen Krebsinstitut in Maryland ist, daß sämtliche anderen Möglichkeiten ausgeschöpft wurden.

Rosenberg beschreibt seine Patienten einfühlsam als Mütter und Familienväter, mal mutig, mal angstvoll, hin und wieder spricht er auch von Freundschaft.

Umso mehr verbittert es ihn, wenn er nach zehnjährigem Ringen bilanzieren muß: „Dreißig Tote ohne Wenn und Aber. Ich hatte jeden einzelnen dieser Patienten gekannt, und zwar gut.“ Das war 1984, ein Jahr, in dem die Gentechnik Rosenbergs Arbeiten einen großen Schub verlieh.

Für seine Versuche benötigte der Chefchirurg einem vielversprechenden Botenstoff, Interleukin II (IL-2), der die oft zahnlosen Abwehrzellen des Immunsystems in gefährliche Killer verwandeln kann. Allerdings hatte der Weltkonzern Du Pont dreißig Mitarbeiter gebraucht, um in einjähriger Arbeit gerade 35 tausendstel Gramm aus der Milz von Mäusen herzustellen – viel zu wenig für all die Fragen, die in unzähligen Experimenten geklärt werden mußten.

Die kalifornische Firma Cetus dagegen übertrug die menschliche Erbinformation zur Herstellung des Interleukins auf Bakterienzellen. Innerhalb weniger Tage konnte man jetzt die Leistung des Pharmariesen Du Pont um ein Vielfaches übertreffen. Die Aktienkurse schossen in die Höhe, doch der Durchbruch im Kampf gegen den Krebs war nirgendwo in Sicht:

„Ich behandelte weiterhin Patienten mit IL-2. Sie starben.“ Hätte Rosenberg damals – nach 75 Toten – aufgegeben, wer hätte es ihm verdenken können?

Kurz danach bringt die Kombination von IL-2 und Killerzellen, die vom Patienten entnommen und im Labor vermehrt wurden, endlich den ersehnten Erfolg. „Es war als hätte mir jemand in den Magen getreten“, erinnert sich Rosenberg an den Anblick des Röntgenbildes, das am 29.1.85 eindeutig den Rückgang der Tumoren bei einer sterbenskranken Marinesoldatin dokumentierte. Sie erfreut sich noch heute bester Gesundheit.

Die nackten Zahlen mögen ernüchtern: Über 1200 Patienten – die meisten mit Nieren- oder Hautkrebs in einem weit fortgeschrittenen Stadium – erhielten bisher die von Rosenberg entwickelte Immuntherapie. Bei Drei von Vieren blieb die Behandlung ohne Wirkung. Teilerfolge in Form längerer Überlebenszeiten waren jedoch bei 15 Prozent der Patienten zu verbuchen; bei jedem zehnten verschwanden die Tumoren sogar vollständig.

„Vielleicht werde ich das Rätsel nie lösen“, räumt der 53-jährige am Ende seiner Autobiographie ein. Trotzdem: „Ein paar große Stücke des Puzzlespiels liegen jetzt an der richtigen Stelle. Und ich suche weiter.“

(gelesen und geschrieben für die „WELT“, Erscheinungsdatum unbekannt.)

Trainingsprogramm für aggressive Abwehrzellen

Heftige Kritik üben einige Experten an einer neuen Form der Krebsbehandlung, die derzeit in mehreren US-Kliniken erprobt wird. Diese „adaptive Immuntherapie“ erfülle nicht die in sie gesetzten Erwartungen und sei zudem teurer und mit mehr Nebenwirkungen verbunden als vergleichbare Verfahren.

Arzt, Forscher, Lebensretter: Steven A. Rosenberg im Jahr 2008 (Foto: Rhoda Baer, NCI)

Entwickelt wurde die Therapie von Steven Rosenberg, Chefchirurg am amerikanischen Krebsforschungsinstitut in Maryland. Rosenbergs erklärtes Ziel ist es, Krebserkrankungen durch „trainieren“ der körpereigenen Abwehrzellen zu bekämpfen. Dazu werden den Patienten zunächst weiße Blutzellen (Lymphozyten) entnommen, die dann im Labor mit dem Signalmolekül Interleukin-2 (IL-2) „gefüttert“ werden. Das gentechnisch hergestellte Eiweiß kann die Lymphozyten in aggressive Killerzellen (LAK) verwandeln. Zusammen mit IL-2 werden die kräftig vermehrten LAK schließlich in die Blutbahn der Patienten zurückgespritzt. Von dort gelangen sie in jeden Winkel des Körpers, um ihre zerstörende Wirkung an Krebsgeschwüren zu entfalten.

Naturgemäß ist ein derartiger Eingriff mit schweren Nebenwirkungen verbunden. Die Vermehrung der Lymphozyten im Gewebe des Patienten kann die Funktion lebenswichtiger Organe beeinträchtigen. Als Folge der IL-2-lnjektionen sammeln sich große Flüssigkeitsmengen im Gewebe an. Manchmal müssen die Patienten deshalb in der Intensivstation gepflegt werden. Die adaptive Immuntherapie ist also mit enormen Belastungen für die Patienten verbunden; zudem kann eine Behandlung bis zu 50000 Mark kosten.

An der Frage, ob Rosenbergs Methode anderen Behandlungsformen wirklich überlegen ist, scheiden sich die Geister. Der Mediziner sieht sich genötigt, „seine“ Form der biologischen Krebsbekämpfung gegen die Vorwürfe mancher Kollegen zu verteidigen. Die Immuntherapie „kann wirkungsvoll sein. Bisher kann die Methode nur einer begrenzten Zahl von Patienten helfen, aber vielleicht ist das nur ein Anfang.“

Nach der Veröffentlichung der ersten Ergebnisse im Jahr 1985 habe die Öffentlichkeit ihre Erwartungen zu hoch geschraubt, sagte Rosenberg in einem Interview. Damals kam es unter 25 „hoffnungslosen Fällen“, bei denen alle Heilungsversuche mit herkömmlichen Verfahren versagt hatten, bei elf zu einer Reduktion oder gar zum völligen Verschwinden der Tumoren.

Damit war bewiesen, dass man sogar größere Krebsgeschwüre im Menschen mit biologischen Methoden bekämpfen kann. Neue Daten aus Rosenbergs Arbeitsgruppe, die an 177 Patienten gewonnen wurden, sind weniger beeindruckend als die ersten Ergebnisse. Dennoch: Bei Nierenkrebs und bösartigem Hautkrebs verschwanden die Tumoren in zehn Prozent aller Fälle vollständig. In ebenso vielen Fällen gelang es, die Größe der Tumoren auf die Hälfte zu reduzieren.

Kliniken außerhalb des amerikanischen Krebsforschungsinstitutes allerdings erzielen mit der adaptiven Immuntherapie weniger deutliche Erfolge. Bei Nierenkrebspatienten etwa wurde ein vollständiger Rückgang der Tumoren nur in jedem 50. Fall beobachtet, auch eine Größenreduktion gelang nur halb so oft wie in Rosenbergs Arbeitsgruppe. Umstritten ist auch die Frage, ob die Teilerfolge, die mit der adaptiven Immuntherapie erzielt wurden, vielleicht nur auf der Wirkung des Interleukins beruhen. Zu diesem Ergebnis kommt nämlich eine neue Untersuchung des Unternehmens Hoffmann-La Roche. Die Gabe von IL-2 alleine wäre nicht nur technisch einfacher zu bewältigen; sie ist auch wesentlich billiger als Rosenbergs ausgefeiltes Konzept.

Rosenberg ist dennoch davon überzeugt, auf dem richtigen Weg zu sein. Auf der Suche nach weiteren Immunzellen, die Krebsgeschwüre bekämpfen können, fand er in operativ entfernten Tumoren die „tumor-infiltrierenden“ weißen Blutzellen (TIL). Bei ersten klinischen Versuchen an Hautkrebspatienten erwiesen sich die TIL – wiederum nach Stimulation mit Interleukin – als noch bessere Tumorkiller als LAK. Schon lange hat Rosenberg Pläne in der Schublade, die LAK und TIL gentechnisch zu verändern und somit noch wirksamer zu machen. Innerhalb eines Jahres könnte der Chefchirurg so zum weltweit ersten Gentherapeuten werden. übertriebene Hoffnungen auf einen plötzlichen Durchbruch in der Krebsbehandlung scheinen – auch angesichts der jüngsten Erfahrungen – dennoch fehl am Platz.

(leicht gekürzt erschienen in der WELT am 6. Juni 1990, letzte Aktualisierung am 9. März 2017)

Was ist daraus geworden? Rosenberg hat viele Rückschläge hinnehmen müssen und stand oft in der Kritik. Heute ist er anerkannt als einer der Pioniere der modernen Krebstherapie. Mit seiner Immuntherapie und mit gentherapeutischen Verfahren habe er „lebensrettende Behandlungen für Millionen von Krebspatienten entwickelt“, urteilte beispielsweise die Washington Post. Eine gentechnisch hergestellte Variante von Interleukin-2 ist zur Behandlung des Nierenzellkarzinoms zugelassen, in den USA auch beim fortgeschrittenen (metastasierten) schwarzen Hautkrebs. Sehr empfehlenswert, aber schwer zu kriegen ist Rosenbergs Buch „Die veränderte Zelle„, aus dem Jahr 1992, in dem der Mediziner auch über seine Motive und den Umgang mit Niederlagen schreibt.

Immuntherapie – Schützenhilfe durch körpereigene Kräfte

Krebstherapien, die das menschliche Immunsystem aktivieren sollen, haben in klinischen Versuchen erste Erfolge vorzuweisen. Sollten sich die Ergebnisse, die amerikanische Wissenschaftler jetzt vorgelegt haben, bestätigen, wäre dies ein Silberstreif am Horizont für Patienten, die unter Krebs im fortgeschrittenen Stadium leiden.

Die Forscher selbst warnen jedoch vor übertriebenen Hoffnungen, besonders angesichts der Tatsache, dass diese Richtung der Krebsforschung bisher zu zahlreichen Fehlschlägen geführt hat. Bereits seit zwanzig Jahren bemüht man sich, körpereigene Abwehrmechanismen zu stärken, die Krebszellen erkennen und ausschalten können. Wie Jean-Claude Bystryn vom Medical Center der Universität New York erklärt, hängt das Wachstum eines Krebsgeschwürs nicht alleine von dem Krebs selbst ab, sondern auch davon, ob und wie der Körper auf diese Fehlfunktion reagiert.

Die neuen Therapien zeigen erste Erfolge bei so schwierig zu handhabenden Leiden wie dem bösartigen Hautkrebs (Melanom) sowie dem Krebs des Darms und der Nieren. Während alte Behandlungsversuche sich mit der unspezifischen Anregung des Immunsystems versuchten – etwa durch Injektion des Bazillus Calmette-Guerrin (BCG), wird heute ein neuer Ansatz erprobt.

Die Tumorzellen selbst sind es, die dem Patienten bei einer Operation entnommen werden. Sie dienen dann – durch Strahlung abgetötet und mit BCG vermischt – der Aktivierung bestimmter Zellen des Immunsystems. In Verbindung mit BCG oder anderen Immunstimulantien werden die weißen Blutkörperchen (Lymphozyten) dann in die Lage versetzt, auch solche Tumorzellen zu erkennen und anzugreifen, die sie bis dahin „übersehen“ haben. Eine andere Methode erprobt Professor Volker Schirrmacher am Deutschen Krebsforschungszentrum in Heidelberg. Durch Infektion mit Viren sollen Tumorzellen für das Immunsystem sichtbar werden.

Michael Hanna, der einen dieser Impfstoffe entwickelt hat, äußerte gegenüber dem Wissenschaftsmagazin „Science“, dass die Anzahl der Rückfälle nach der chirurgischen Entfernung eines Darmkrebses um mehr als die Hälfte verringert werden konnte. Bisher stand man der Metastasenbildung nach derartigen Eingriffen eher hilflos gegenüber. „Ich glaube, das ist sehr dramatisch“, sagte der Forscher, der seine gegenwärtigen Erfolge zum großen Teil auf Tierversuche an Meerschweinchen zurückführt. Dort gelang es schon Anfang der siebziger Jahre, Tumoren durch Injektion von BCG zu bekämpfen.

Obwohl die neuen Impfstoffe offensichtlich die Bildung von Tochtergeschwülsten verhindern können, ist noch nicht genug Zeit für ein endgültiges Urteil verstrichen. Erst wenn sich die 5-Jahres-Überlebensrate der Patienten verbessert, kann man wirklich von einem Erfolg sprechen.

Auch die „Krebsimpfstoffe“ haben jedoch ihre Nachteile. Um Tumorzellen aus einer bösartigen Geschwulst des Patienten zu gewinnen, ist immer ein operativer Eingriff erforderlich. Weil sich das Immunsystem nach einer solchen Operation erst einmal „erholen“ muss, kann die erste Injektion frühestens drei Wochen nach diesem Eingriff gegeben werden.

In der Zwischenzeit müssen die Zellen konserviert werden – eine Aufgabe, für die die meisten Chirurgen nicht vorbereitet sind. Beim Melanom besteht ein weiteres Problem darin, dass die primären Tumoren, aus denen die Krebszellen isoliert werden müssen, oft zu klein sind, um die erforderliche Anzahl an Zellen bereitzustellen.

Trotz aller Bedenken sind die Forscher optimistisch. Nach über zwei Jahrzehnten erfolgloser Anläufe, stehen die Chancen, doch noch eine Immuntherapie gegen den Krebs zu entwickeln, heute nicht mehr ganz so schlecht.

(erschienen in der WELT vom 16. September 1989)

Was ist daraus geworden? Langsam, aber sicher sind die Forscher voran gekommen bei der Entwicklung von Immuntherapien gegen Krebs. Inzwischen gibt es tatsächlich eine Impfung, die Gebärmutterhalskrebs verhindern kann, und die ersten gentechnisch hergestellten Antikörper sind im Einsatz in der Klinik. Die Wikipedia widmet dem Thema einen sehr ausführlichen Beitrag und auch ich bleibe an dem Thema dran – versprochen.