Zum Hauptinhalt springen

Buchbesprechung: Die veränderte Zelle

Während in Deutschland die Behandlung „unheilbar“ krebskranker Menschen mit Hilfe der Immuntherapie noch in den Kinderschuhen steckt, verfügt der Amerikaner Steven Rosenberg über ausreichend Erfahrung, um ein ganzes Buch dem Thema zu widmen.

Nach gut zwanzig Jahren angewandter Spitzenforschung zog der vom US-Magazin Newsweek als „medizinischer Superstar“ bejubelte Rosenberg eine erste Bilanz: Seine Autobiographie „Die veränderte Zelle“ (in verschiedenen Ausgaben erhältlich bei Amazon), die der heute 53-jährige zusammen mit dem Journalisten John M. Barry verfaßt hat, liest sich über weite Strecken spannend wie ein Krimi.

Ein Rätsel, das ihm vor dreiundzwanzig Jahren der Patient James DeAngelo in der Notaufnahme eines Krankenhauses in West Roxburry aufgegeben hatte, sollte Rosenberg nicht mehr loslassen:

Zwölf Jahre nachdem der „hoffnungslose Fall“ von Magenkrebs mit einer Vielzahl von Tumoren und Metastasen zum Sterben nach Hause geschickt wurde, geriet DeAngelo im Sommer 1968 an den jungen Assistenzarzt Rosenberg. Der entfernte ihm in einem Routineeingriff die Gallenblase und stellte dabei mit ungläubigem Staunen fest, daß sämtliche Krebsgeschwüre spurlos verschwunden waren.

Niemand hatte den stoppelbärtigen Kriegsveteranen behandelt. Der Körper dieses Mannes hatte den Krebs besiegt. Unter den -zig Millionen Opfern der Krankheit waren damals weltweit ganze vier Fälle bekannt, in denen sich Magenkrebs von selbst zurückgebildet hatte.

„Wie?“ – so die Frage, die Rosenberg seither mit einer Energie verfolgt, die an Besessenheit grenzt. 

Versuche, bei denen Krebspatienten die Abwehrzellen von Schweinen injiziert wurden, muten aus heutiger Sicht bestenfalls naiv, schlimmstenfalls verantwortungslos an. Die oft in allen Details beschriebenen chirurgischen Eingriffe, die teilweise rabiaten Therapieversuche und die Erläuterung unzähliger Komplikationen und Nebenwirkungen könnten leicht den Eindruck eines Fanatikers erwecken, dem jedes Mittel recht ist.

Doch das Bild trügt. Dem hochbegabten Sohn einer jüdischen Einwandererfamilie geht es um die Rettung von Menschenleben. Teilnahmebedingung für die klinischen Versuche am Nationalen Krebsinstitut in Maryland ist, daß sämtliche anderen Möglichkeiten ausgeschöpft wurden.

Rosenberg beschreibt seine Patienten einfühlsam als Mütter und Familienväter, mal mutig, mal angstvoll, hin und wieder spricht er auch von Freundschaft.

Umso mehr verbittert es ihn, wenn er nach zehnjährigem Ringen bilanzieren muß: „Dreißig Tote ohne Wenn und Aber. Ich hatte jeden einzelnen dieser Patienten gekannt, und zwar gut.“ Das war 1984, ein Jahr, in dem die Gentechnik Rosenbergs Arbeiten einen großen Schub verlieh.

Für seine Versuche benötigte der Chefchirurg einem vielversprechenden Botenstoff, Interleukin II (IL-2), der die oft zahnlosen Abwehrzellen des Immunsystems in gefährliche Killer verwandeln kann. Allerdings hatte der Weltkonzern Du Pont dreißig Mitarbeiter gebraucht, um in einjähriger Arbeit gerade 35 tausendstel Gramm aus der Milz von Mäusen herzustellen – viel zu wenig für all die Fragen, die in unzähligen Experimenten geklärt werden mußten.

Die kalifornische Firma Cetus dagegen übertrug die menschliche Erbinformation zur Herstellung des Interleukins auf Bakterienzellen. Innerhalb weniger Tage konnte man jetzt die Leistung des Pharmariesen Du Pont um ein Vielfaches übertreffen. Die Aktienkurse schossen in die Höhe, doch der Durchbruch im Kampf gegen den Krebs war nirgendwo in Sicht:

„Ich behandelte weiterhin Patienten mit IL-2. Sie starben.“ Hätte Rosenberg damals – nach 75 Toten – aufgegeben, wer hätte es ihm verdenken können?

Kurz danach bringt die Kombination von IL-2 und Killerzellen, die vom Patienten entnommen und im Labor vermehrt wurden, endlich den ersehnten Erfolg. „Es war als hätte mir jemand in den Magen getreten“, erinnert sich Rosenberg an den Anblick des Röntgenbildes, das am 29.1.85 eindeutig den Rückgang der Tumoren bei einer sterbenskranken Marinesoldatin dokumentierte. Sie erfreut sich noch heute bester Gesundheit.

Die nackten Zahlen mögen ernüchtern: Über 1200 Patienten – die meisten mit Nieren- oder Hautkrebs in einem weit fortgeschrittenen Stadium – erhielten bisher die von Rosenberg entwickelte Immuntherapie. Bei Drei von Vieren blieb die Behandlung ohne Wirkung. Teilerfolge in Form längerer Überlebenszeiten waren jedoch bei 15 Prozent der Patienten zu verbuchen; bei jedem zehnten verschwanden die Tumoren sogar vollständig.

„Vielleicht werde ich das Rätsel nie lösen“, räumt der 53-jährige am Ende seiner Autobiographie ein. Trotzdem: „Ein paar große Stücke des Puzzlespiels liegen jetzt an der richtigen Stelle. Und ich suche weiter.“

(gelesen und geschrieben für die „WELT“, Erscheinungsdatum unbekannt.)

Polymerase-Kettenreaktion: Eine Idee für 300 Millionen

Selten hat eine Technik der Wissenschaft so schnell auf die Sprünge geholfen wie im Falle der Polymerasekettenreaktion . Die zündende Idee, welche es ermöglichte, Erbinformationen gezielt und praktisch nach Belieben zu vermehren, kam dem Amerikaner Dr. Kary Mullis auf der Fahrt ins Wochenende an einem lauen Maienabend im Jahr 1983. Nun erhielt er dafür den Robert-Koch-Preis.

Schon 1985 hatte Mullis seine Idee in die Praxis umgesetzt. Im letzten Jahr zahlte Hoffmann-La Roche dann die Rekordsumme von 300 Millionen Dollar für „alle Rechte und Patente, für alle bekannten und noch unbekannten Anwendungen“ der Polymerasekettenreaktion (PCR) an Mullis‘ ehemaligen Arbeitgeber, die kalifornische Cetus Corporation.

Die Investition wird sich rentieren, denn der PCR erschließen sich ständig neue Märkte. Von der Archäologie über die Diagnose von Erbschäden und Krankheitserregern bis zur Überwachung im Umweltschutz reichen die Anwendungen.

Auch anläßlich der Verleihung des diesjährigen Robert-Koch-Preises am 2. November in Bonn machte Mullis klar, daß das Potential der PCR noch lange nicht ausgereizt ist. Weil sich mit Hilfe der Technik, die dem zelleigenen Kopiermechanismus für DNA ähnelt, einzelne Abschnitte des Erbguts nach Belieben vermehren lassen, können Krankheitserreger auch dort nachgewiesen werden, wo serologische Methoden versagen.

Bei der Untersuchung HIV-positiver Säuglinge von HIV-positiven Müttern etwa reicht ein Antikörper-Test allein nicht aus, um zu überprüfen, ob das Kind infiziert ist oder nicht. Die PCR dagegen kann das Virus direkt nachweisen und liefert eine frühzeitige Antwort. Die Nachweisgrenze liegt etwa bei einer infizierten Zelle unter 100 000.

Der HIV-Nachweis durch die Polymerasekettenreaktion ist aber kein Einzelfall. So gelang es, bakterielle Krankheitserreger wie Bordetella pertussis, Legionella pneumophila, Heliobacter pylori, Mycobakterien und Chlamydien in asymptomatischen Trägern aufzuspüren. Auch Viren wie Hepatitis B und C, Papilloma- und Herpesviren, einzellige Erreger wie Toxoplasma gondii, Pneumocystis carinii und Entamoeba histolytica oder Pilzinfektionen durch Candida albicans und Cryptococcus neoformans wurden schon mit Hilfe der PCR entdeckt.

In naher Zukunft werden standardisierte Kits erwartet, welche die Nachweiszeiten gegenüber den gebräuchlichen Zellkulturmethoden um ein Vielfaches verkürzen sollen. In der forensischen Medizin steht der PCR ebenfalls eine große Zukunft bevor: Am Tatort verbliebene Haare, Blutspuren oder Spermien dienen in den USA immer häufiger als Beweismittel in Gerichtsverfahren. Bestimmte Teilabschnitte der DNA, die über Jahre hinweg intakt bleiben kann, werden dafür vervielfältigt und mit der DNA der Verdächtigen verglichen.

In Großbritannien wird das Verfahren inzwischen regelmäßig bei Vaterschaftsklagen und Einwanderungsverfahren eingesetzt, denn verwandtschaftliche Beziehungen können ebenfalls nachgewiesen werden. Auch nach Flugzeugabstürzen könnte sich die PCR als die Methode der Wahl zur Identifikation der Leichname erweisen. Viele Opfer von Mördern, Kriegsverbrechern und totalitären Machthabern müßten nicht länger unerkannt bleiben.

„Die beispiellose Sensitivität der PCR hat allerdings auch ihre Schattenseiten“, beklagte Mullis, der als Sachverständiger mehrfach Gerichtsprozessen beiwohnte.

Zum einen muß sichergestellt sein, daß die Analyse in einem fachlich kompetenten Labor vorgenommen wird, weil sonst möglicherweise das Erbmaterial des Laboranten und nicht das des Täters zum Vergleich herangezogen wird. Außerdem sei es generell problematisch, eine Methode als Beweismittel zuzulassen, deren Grundlagen weder Angeklagter noch Kläger, weder Richter noch Jury verstünden.

In der Archäologie und der Paläontologie bietet die PCR die faszinierende Möglichkeit, uraltes Erbmaterial zu untersuchen, das sich zum Beispiel aus Mumien oder tiefgefrorenen Mammutresten, aus fossilen Knochen oder Überbleibseln ausgestorbener Tierarten gewinnen läßt, die in Museen aufbewahrt werden. Kürzlich wurden sogar erste Meldungen bekannt, wonach es gelungen ist, DNA aus vierzig Millionen Jahre alten Insekten zu untersuchen, die in Bernstein eingeschlossen waren.

In naher Zukunft könnte DNA als weltweiter Herkunftsnachweis für Produkte aller Art zum Einsatz kommen. Man will sich dabei die Tatsache zunutze machen, daß jegliche Information – ähnlich wie beim Morse-Code – durch die Reihenfolge der vier verschiedenen DNA-Bausteine darstellbar wäre. An einem standardisierten Codierungssystem wird bereits gearbeitet.

Ein bestimmter, synthetisch hergestellter DNA-Abschnitt könnte dann mit PCR vervielfältigt und – in extremer Verdünnung – zum Beispiel in das Öl von Supertankern gegeben werden. Die Verursacher von Verschmutzungen ließen sich endlich zweifelsfrei nachweisen, denn auf der DNA wäre – nach Vervielfältigung mit der Polymerasekettenreaktion – für jedermann nachzulesen, aus welchem Tanker das Öl stammt.

(erschienen in der Pharmazeutischen Zeitung am 26. November 1992)

Was wurde daraus? Im Jahr darauf erhielt Mullis den Nobelpreis für Chemie, und bis auf den Herkunftsnachweis per DNA-Markierung ist die PCR bei allen genannten Anwendungen im Einsatz. Auch die Wikipedia bescheinigt ihr, eine der wichtigsten Methoden der Molekularbiologie zu sein. Mullis, der für seine 300-Million-Idee von seinem Arbeitgeber lediglich $ 10.000 bekommen hatte, starb 2019 mit 74 Jahren an den Folgen einer Lungenentzündung. Zuvor hatte er seinen Ruf als Exzentriker noch unterstrichen, indem er den Zusammenhang zwischen dem Immunschwächevirus HIV und der Entstehung von AIDS bestritt, den Konsens zum Klimawandel ablehnte und über angebliche Begegnungen mit Außerirdischen berichtete…

Zellulose aus Mikroben

Zum ersten Mal ist jetzt gelungen, Zellulose in industriellem Maßstab mit Hilfe von gentechnisch veränderten Bakterien zu produzieren. Zellulose ist das häufigste Makromolekül der Erde und findet sich vorwiegend in den Zellwänden der Pflanzen. Die Substanz, welche aus unzähligen miteinander verknüpften Zuckermolekülen besteht, wird vorwiegend zur Herstellung von Papier benutzt. Eine Kooperation zwischen Professor Moshe Benziman von der Hebräischen Universität Jerusalem und der kalifornischen Biofirma Cetus erlaubt jetzt die Herstellung großer Mengen an Zellulose durch Bakterien der Art Acetobacter xylinum. Das neue Produkt soll schon in Kürze unter dem Namen „Cellulon“ auf den Markt kommen. Es besteht aus Fasern, die nur einen zehnmillionstel Meter Durchmesser haben; seine Oberfläche ist etwa 200 Mal größer als die von herkömmlichen Zellulosefibern. Durch diese Eigenschaften wird Cellulon für eine Reihe von Anwendungen interessant, die von der Kosmetik- und Lebensmittelproduktion bis hin zur Ölgewinnung reichen.

(erschienen in „DIE WELT“ am 27. April 1991)