„Bewahrung und Verbesserung der Gesundheit aller Menschen sollten im Zentrum der Diskussion um Umwelt und Entwicklung stehen.“ Der Appell der Weltgesundheitsorganisation (WHO) verhallte fast ungehört. Die Diskussion um den Umweltgipfel wird bestimmt von der Sorge um Ozonloch und Tropenwald, von Schlagworten wie „Öko-Kolonialismus“ und „CO2-Steuer“.

Vielleicht hätte die Schlagzeile „Jährlich 40 Millionen Tote …“ es vermocht, wahltaktische Überlegungen und lautstarke Geldforderungen zu übertönen. Jährlich fast 40 Millionen Tote, so ist es im Bericht „Our Planet, our Health“ der WHO-Kommission Gesundheit und Umwelt nachzulesen, gehen auf das Konto von Umwelteinflüssen und ungesunder Lebensweise, das sind 75 Prozent aller Sterbefälle.

„Das dringendste Problem, dem die Welt gegenübersteht, ist die Verschlechterung der Umwelt und der dadurch verursachte Tod von Millionen“, faßt WHO-Generaldirektor Hiroshi Nakajima die Studie zusammen, die von 22 unabhängigen Experten unter Leitung der ehemaligen Präsidentin des Europaparlaments, Simone Veil, erstellt wurde. „Erstmals“, so Nakajima, „stellt eine umfassende Analyse über Gesundheit, Umwelt und Entwicklung die Gesundheit der Menschen an die erste Stelle.“

Der Studie zufolge sind die Leidtragenden meist Neugeborene und Kinder, vorwiegend in Entwicklungsländern. Dort sterben jährlich vier Millionen an Durchfallkrankheiten, verursacht durch verseuchtes Essen und Wasser. Zwei Millionen Tote gehen auf das Konto der Malaria. Mehrere 100 Millionen Menschen werden von Parasiten befallen. Eine geschädigte Umwelt begünstigt die Übertragung gefährlicher Erreger.

Der Report soll aber auch auf Gesundheitsgefahren aufmerksam machen, die bisher ignoriert wurden. Offene Feuer etwa decken den Energiebedarf von 2,5 Milliarden Erdbewohnern. In den meist ungelüfteten Räumen sammeln sich Rauch und Chemikalien und erhöhen das Risiko für Herz-und Kreislaufkrankheiten sowie Krebs. 700 Millionen Frauen und ihre Kinder verbringen den größten Teil ihrer Zeit in dieser Umgebung.

Immer dringlicher wird das Problem der Verstädterung. Sie führt dazu, daß 1000 Millionen Menschen starker Luftverschmutzung ausgesetzt sind – Atemwegserkrankungen und hohe Bleiwerte im Blut von Kindern stehen nachweislich mit dieser Entwicklung in Zusammenhang. Die Ballungszentren der Dritten Welt haben mittlerweile mehr Einwohner als Europa, Japan und Nordamerika zusammen. Eine Milliarde Menschen leben in den Elendsvierteln der Großstädte. In Kalkutta und Colombo ist jeder zweite betroffen, in Bogota und El Salvador sind es zwei von dreien, und in Lima und der größten Stadt der Welt, Mexiko City, liegt ihr Anteil sogar noch höher. Selbst in den Vereinigten Staaten leben zwei Millionen Menschen auf der Straße.

Der Report beschränkt sich indes nicht auf die Schadenserhebung, sondern gibt Empfehlungen. An oberster Stelle steht die Ermahnung an Regierungen und internationale Organisationen, das Bevölkerungswachstum zu bremsen sowie Überkonsum und Abfallerzeugung zu reduzieren.

Damit kritisiert die WHO den Umgang der Industrieländer mit den begrenzten Ressourcen des Planeten. In Vorverhandlungen für den Umweltgipfel hatten Schwellen- und Entwicklungsländer unter Führung von Malaysia und Indien wiederholt, aber erfolglos die Aufnahme einer entsprechenden Passage in die erwartete ,,Erklärung von Rio“ gefordert.

Auf der Suche nach den Ursachen für die mangelhafte medizinische Versorgung weiter Teile der Erdbevölkerung enthüllte die Kommission aber auch Fehlleistungen der Vereinten Nationen, ja der WHO selbst. Selbstkritisch heißt es: „Gesundheit hängt ab von unserer Fähigkeit, Wechselwirkungen zwischen menschlichen Aktivitäten und der Umwelt zu verstehen und zu gestalten. Wir haben dieses Wissen, aber haben nicht danach gehandelt, obwohl wir über die Mittel verfügen, um gegenwärtige und zukünftige Bedürfnisse dauerhaft abzusichern.“

Bemängelt wird eine ungenügende Beteiligung der Hauptbetroffenen: „Menschen, die von natürlichen Ressourcen abhängig sind, sollten an Entscheidungen über deren Gebrauch und Schutz in vollem Umfang beteiligt sein.“ Und weiter: „Wir brauchen Menschen, deren Sorge über die Qualität ihrer nächsten Umgebung hinausgeht. Nur sie können ihre Regierungen bewegen, den internationalen Konsens zu erreichen, der für einen gesunden Planeten unerläßlich ist.“

Quelle:

WHO Commission on Health and Environment & World Health Organization. (‎1992)‎. Our planet, our health : report of the WHO Commission on Health and Environment. World Health Organization.

(erschienen in „DIE WELT“, 25. Mai 1992)