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Robert Gallo: Ideen gegen AIDS

Beim Duell der Rivalen gab es dieses Jahr auf der 9. Internationalen Aidskonferenz einen klaren Sieger: In Berlin gewann der Amerikaner Robert Gallo gegen den Franzosen Luc Montagnier deutlich nach Punkten. Gallo ist Abteilungsleiter am Nationalen Krebsinstitut der USA und wird von Kollegen und Konkurrenten gleichermaßen als brillant, erfolgreich und wenig zimperlich bei der Wahl seiner Mittel beschrieben. Er hatte den Delegierten einen bunten Strauß von Vorschlägen mitgebracht. Montagnier dagegen, der das Virus vor zehn Jahren am Pariser Pasteur-Institut als erster isolierte, konnte in diesem Jahr nur wenig Neues präsentieren.

„Viren gegen Viren“ lautet einer von Gallos Schlachtrufen, seit andere Wissenschaftler herausgefunden haben, daß ein scheinbar harmloses Herpesvirus die gleichen Bindungsstellen auf der Oberfläche bestimmter Immunzellen benutzt wie HIV, das tödliche Immunschwäche-Virus. Nur wenn das Aidsvirus an diese Bindungsstellen – die sogenannten CD4-Rezeptoren andocken kann, gelangt es auch ins Zellinnere, um dort sein zerstörerisches Werk zu beginnen. Gallo schlägt deshalb vor, Bruchstücke des gutartigen Herpesvirus in großen Mengen herzustellen. Im Körper von Gesunden und bereits infizierten Menschen könnten diese Bruchstücke dann möglicherweise alle Bindungsstellen besetzen und so das Eindringen und die Ausbreitung des Aidsvirus verhindern. Erste Versuche in diese Richtung sind bereits angelaufen, bisher allerdings ohne durchschlagenden Erfolg. Gallo hofft dennoch, damit „einen neuen Weg bei der Behandlung von Aids“ zu eröffnen.

Ein zweiter Vorschlag – ebenfalls von Gallo unterbreitet – ließ die anwesenden Wissenschaftler aufhorchen. „Es mag ein wenig seltsam klingen“, sagte er, „aber man könnte auch bestimmte Bestandteile befallener Immunzellen ins Visier nehmen, statt immer nur auf das Virus zu zielen.“ Der Vorstoß entbehrt nicht einer gewissen Logik, denn Viren sind als nahezu perfekte Parasiten darauf angewiesen, eine Vielzahl von Eiweißen zu nutzen, die von der Wirtszelle produziert werden. Wenn es gelänge, einen dieser Biokatalysatoren in infizierten Zellen lahmzulegen, ohne gleichzeitig die gesunden Nachbarn allzu sehr in Mitleidenschaft zu ziehen, wäre auch das ein vielsprechender Ansatz, glaubt Gallo.

Natürlich hat er auch schon einen Kandidaten ausgespäht: Ribonukleotid-Reduktase heißt das Eiweiß. In allen Zellen produziert es die Bausteine (Nukleotide), aus denen anschließend die Erbsubstanz DNA zusammengesetzt wird. Mit einer schon lange bekannten Laborchemikalie – Hydroxyharnstoff – läßt sich dieser Prozeß zwar nicht vollständig, aber doch so weit unterbinden, daß in der Zelle nur noch geringe Mengen an DNA-Bausteinen zur Verfügung stehen. Weil das Aidsvirus auf einen großen Vorrat von Nukleotiden angewiesen ist, um sich im Körper wirkungsvoll zu verbreiten, hofft Gallo, es mit Hydroxyharnstoff in Schach halten zu können. HIV würde dann zwar immer noch in infizierten Zellen schlummern, in diesem Stadium ist die Gesundheit des Virusträgers jedoch nicht merklich beeinträchtigt.

Zukunftsmusik zumindest bei der Behandlung oder Verhinderung einer HIV-Infektion ist gegenwärtig noch die Gentherapie. Mit Hilfe von im Labor „kastrierten“ Verwandten des Aidsvirus sollen dabei schützende Erbanlagen auf die gefährdeten Immunzellen übertragen werden. Selbst Gallo gibt zu, nicht sicher zu sein, ob diese Idee nicht auch in Zukunft bloßes Wunschdenken bleiben wird. Zwar gelang es im Tierversuch tatsächlich, bestimmte Viren als „Gentaxis“ zu benutzen, ihre heilbringende Fracht konnten sie jedoch bisher nur bei einem kleinen Bruchteil der Zellen abladen, die es zu schützen gilt.

Voraussetzung für eine erfolgreiche Gentherapie wäre es aber, 100 Prozent derjenigen Immunzellen zu erreichen, die normalerweise von dem Aidsvirus angesteuert werden. Regelrecht in Mode gekommen ist in letzter Zeit die sogenannte Antisense-Technik. Mit ihr wollen die Forscher bestimmte Gene des Aidsvirus gezielt abschalten. Antisense-Moleküle, die mittlerweile in vielen Labors kiloweise produziert werden, sollen sich an besonders wichtige Abschnitte des viralen Erbguts ankoppeln und so die Vermehrung verhindern. In Zellkulturen funktioniert die Technik bereits. Einer Handvoll Arbeitsgruppen ist es auf diese Weise sogar gelungen, die Vermehrung von Aidsviren über Monate hinweg völlig zu unterbinden.

Die leidvollen Erfahrungen der Vergangenheit zeigen allerdings, daß es vom Reagenzglas bis zum Krankenbett ein weiter Weg ist. Es steht zu befürchten, daß die meisten Menschen, die heute bereits mit dem Virus infiziert sind, diese Wartezeit nicht überleben werden.

(erschienen in der Stuttgarter Zeitung am 19. Juni 1993)

AIDS-Konferenz: Düstere Bilanz

Die achte internationale Aidskonferenz ging heute in Amsterdam zu Ende. Über zehntausend Teilnehmer sind nun auf dem Heimweg, zurück in ihre High-Tech-Laboratorien, zurück auch in die Hospitäler, in denen ungezählte Aidskranke dahinsiechen. Sie sterben, während Presse, Funk und Fernsehen letzte Vorbereitungen treffen für die Olympischen Sommerspiele. Ab morgen wird das Ringen um Medaillen die Menschheit zwei Wochen lang beschäftigen.

In dieser Zeit werden sich wieder rund 200.000 Menschen mit dem tödlichen Immunschwächevirus infizieren, die weitaus meisten in Afrika und Asien. Sie teilen das Schicksal von gegenwärtig 13 Millionen, wenn man der neuesten Schätzung der Weltgesundheitsorganisation Glauben schenkt. Zahlenspiele. Werden es im Jahr 2000 „nur“ 38 Millionen sein? Oder wird die Zahl der zum Tode verurteilten die Hundert-Millionen-Marke überschreiten, wie Jonathan Mann befürchtet?

Eine „Wende im Kampf gegen Aids“ hatte sich der Kongreßvorsitzende von der sechstägigen Veranstaltung versprochen. Die nüchterne Bilanz der Experten hingegen lautet anders: Einen „Durchbruch“ im Kampf gegen die Seuche gab es jedenfalls nicht zu vermelden. Zwölf verschiedene Impfstoffe werden gegenwärtig an Menschen getestet, viele weitere stecken noch im Stadium des Tierversuchs. Bis die ersten Impfstoffkandidaten an einer größeren Zahl von Freiwilligen erprobt werden, werden weitere zwei bis drei Jahre verstreichen, erwartet Michael de Wilde, Forschungsdirektor eines großen Arzneimittelherstellers.

Die organisatorischen Vorbereitungen dafür müßten schon jetzt beginnen, um keine Zeit zu verschwenden, war in Amsterdam immer wieder zu hören. Pessimisten befürchten, daß nach Beginn dieser „Feldversuche“ mit jeweils 2000 bis 5000 Freiwilligen weitere fünf Jahre verstreichen. Diese Zeit wäre für eine gewissenhafte Auswertung der Daten nötig. Denn groß ist die Angst der Pharmakonzerne, einmal geweckte Erwartungen schließlich doch nicht erfüllen zu können.

Selbst wenn im Jahr 2000 ein Impfstoff zur Verfügung stehen würde, er wäre für die meisten Länder unbezahlbar. In Afrika etwa stehen für die medizinische Versorgung der Bevölkerung pro Kopf und Jahr durchschnittlich drei Mark zur Verfügung. Niemand glaubt, daß es gelingen wird, einen Impfstoff zu entwickeln, der weniger als das Zehnfache kostet. Sicher, die Westeuropäer und die Amerikaner können sich das leisten, was aber geschieht mit dem Rest der Welt, wo schon jetzt neun von zehn Infizierten leben?

„Das ist dann ein politisches Problem“, sagt der Entdecker des Virus, Luc Montagnier vom Pariser Pasteur-Institut. Und wie diese Art von politischen Problemen gelöst werden, wissen wir ja alle.

Nicht viel anders sieht es bei der Entwicklung von Arzneimitteln aus. Hier versucht man die Vermehrung des Virus im Körper der Infizierten zu blockieren, eine Handvoll sündhaft teurer Substanzen stehen dafür zur Verfügung. Zweifellos verlängern Wirkstoffe wie AZT, DDI und DDE die Lebenserwartung der Infizierten, doch was für ein Leben ist das?

Kaum eine Krankheit ist grausamer als Aids. Nach der Infektion versteckt sich das Virus vor dem Zugriff des Immunsystems, kann zehn, 15 Jahre oder noch länger unbemerkt bleiben. Schließlich aber beginnt das Virus sich rapide zu vermehren, die körpereigene Abwehr bricht zusammen. Keiner weiß genau warum. Dann geht alles sehr schnell, die HIV-Infizierten sind zu Aidskranken geworden und den Angriffen zahlloser Pilze, Bakterien und Viren schutzlos ausgeliefert. Die Bekämpfung dieser Erreger kostet leicht mehrere zehntausend Mark im Jahr, wobei die Pflegekosten noch nicht einmal enthalten sind.

Die in Amsterdam zahlreich vertretenen Aktivisten machten Ihrem Zorn über die Preispolitik der Firmen Astra und Wellcome denn auch Luft. „Wir sterben, Ihr macht die Profite“, hallten die lautstarken Proteste durch die Kongreßhallen. Wer will es ihnen verdenken?

Eine absurde Situation: Noch nie hat man über einen Krankheitserreger so schnell so viel gelernt wie über das Aidsvirus. Erst zehn Jahre ist es her, daß der tödliche Erreger identifiziert wurde, heute werden weltweit Milliarden ausgegeben, suchen Zehntausende von Wissenschaftlern nach einer Lösung. Brillante Köpfe mit brillanten Ideen arbeiten Tag und Nacht um die Flut zu stoppen. Und doch scheint es, als sei der Damm schon gebrochen.

Die Forderung nach einem „Manhattan-Projekt der Aidsforschung“ wurde laut: Globale Zusammenarbeit der besten Forscher, möglicherweise in einem einzigen Zentrum. Man mag über den Sinn solch einer Maßnahme geteilter Meinung sein. „Beim Bau der Atombombe hat das geklappt“ so ein Delegierter und fügte frustriert hinzu: „aber damals ging es ja auch um die Vernichtung von Menschenleben“.

Noch einmal: Es gibt keinen Impfstoff und es gibt keine Pille gegen Aids. Jede Mark, die jetzt in Aufklärungskampagnen investiert wird, könnte zahlreiche Menschenleben retten, so die Rechnung der Experten. Hören will das allerdings keiner, bis zur Diagnose „Aids“. Dann ist es zu spät.

(Kommentar zur 8. Internationalen AIDS-Konferenz in Amsterdam. Gesprochen im Deutschlandfunk am 24. Juli 1992)

„AIDS-Impfstoff noch vor dem Jahr 2000“

Kurz vor der 8. Internationalen AIDS-Konferenz konnte ich in Paris am ehrwürdigen Institut Pasteur mit Luc Montagnier sprechen, der das Virus neun Jahre zuvor entdeckt hatte. Es ging um die Sicherheit der Bluttransfusionen und das Sexualverhalten junger Menschen, um die Hoffnung auf einen Impfstoff und die Rolle der Politik, aber auch um den Streit mit dem Amerikaner Robert Gallo und millionenschweren Verwertungsrechte…

Als Sie 1983 das Aids-Virus entdeckten, waren weltweit „nur“ 2500 Infektionen registriert. Nach den jüngsten Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation WHO sind es jetzt bereits 13 Millionen, für das Jahr 2000 werden gar 38 Millionen HIV-Infizierte erwartet, davon 18 Millionen, bei denen die Krankheit ausgebrochen ist. Das würde bedeuten, daß jeder 200. Mensch betroffen wäre. Angesichts dieser Zahlen fragen viele, wer für diese Entwicklung verantwortlich ist. Handelt es sich bei der weltweiten AIDS-Epidemie nur um eine Laune der Natur? Oder haben die Wissenschaft, die Politiker, die Gesellschaft versagt?

Montagnier: Ich denke, daß in der Wissenschaft nichts schiefgelaufen ist. Obwohl der Fortschritt auf diesem Gebiet rasant ist, sind wir jedoch immer noch nicht schnell genug, um mit der Entwicklung der Seuche in der Dritten Welt Schritt zu halten.

Die Zahlen sind natürlich sehr alarmierend. Es muß aber auch gesagt werden, daß sie fast ausschließlich auf die heterosexuelle Übertragung in einigen Entwicklungsländern zurückzuführen sind. In den letzten fünf Jahren haben sich in Asien, vor allem in Indien und Thailand, neue Brennpunkte der Epidemie gebildet, ebenso in Südamerika. Das erklärt die erschreckend hohen Zahlen.

Ist denn die Wissenschaft völlig machtlos?

Montagnier: Unser Problem ist, daß wir mit der Geschwindigkeit der Epidemie in diesen Gebieten einfach nicht Schritt halten können. Es gibt wenig, was wir daran ändern können. Es stimmt zwar, daß die Forschung in den ersten drei Jahren nach der Isolierung des Aids-Virus sehr schnell vorangekommen ist – der Erreger wurde charakterisiert, seine Gene untersucht; wir haben einen Bluttest entwickelt und mit der Substanz AZT die ersten Therapieversuche gemacht. Jetzt sind wir auf der Suche nach einem Impfstoff.

Allerdings war es von Anfang an klar, daß die Entwicklung einer Vakzine schwierig sein würde. Der Grund dafür liegt darin, daß gegen diese Gruppe von Viren noch nie ein Impfstoff entwickelt worden ist. Außerdem mußten wir schon sehr früh erkennen, daß es viele verschiedene Varianten des Virus gibt.

Aber man liest doch immer wieder von Impfstoffen, die in Labors entwickelt werden.

Montagnier: Wir haben hier einige sehr wichtige Fortschritte gemacht. Mehrere Schimpansen, die wir mit HIV-1 infiziert haben, konnten bis zu einem gewissen Grade geschützt werden. Wir haben erstmals gezeigt, daß mit einem Impfstoff, der aus einem Eiweiß aus der Hülle des Virus besteht, Erfolge zu erzielen sind.

Einen hundertprozentigen Schutz des Menschen würde man damit aber noch nicht erreichen?

Montagnier: Nein.

Nun meinen einige Forscher, daß HIV nicht alleine für den Ausbruch der tödlichen Immunschwäche verantwortlich sei. Auch Sie reden von „Kofaktoren“, die dabei eine Rolle spielen könnten.

Montagnier: Ja, sie werden von uns auch „verstärkende Faktoren“ genannt. Wenn es sie wirklich gibt und sie bei vielen HIV-Infektionen eine Rolle spielen, dann müssen wir auch über die Produktion von Impfstoffen gegen die Kofaktoren nachdenken. Es wäre faszinierend, wenn sich dadurch eine Heilung oder gar Vorbeugung von Aids erreichen ließe.

Sie denken dabei an Mykoplasmen?

Montagnier: Ja, diese Bakterien, die oft unbemerkt in menschlichen Zellen leben, könnten ein Kofaktor sein. Aber auch Pneumocystis carinii, ein Bakterium, das Lungenentzündungen verursacht und bei Aids-Kranken häufig zum Tode führt.

Was weiß man darüber, wie HIV das Immunsystem schädigt?

Montagnier: Hier haben wir im letzten Jahr die wichtigsten Fortschritte gemacht. Wir arbeiten an einem Phänomen, das Apoptose genannt wird – der programmierte Zelltod. Es gelang uns zu zeigen, daß bei Infizierten viele weiße Blutzellen darauf programmiert sind, früher zu sterben, als es normalerweise der Fall ist. Wenn bestimmte Eiweiße aus der Hülle des Virus an diese Zellen binden, wird wahrscheinlich ein Signal erzeugt, daß die Zellen vorprogrammiert.

Beim Kontakt mit bestimmten körperfremden Stoffen, die von Bakterien oder Mykoplasmen kommen können, wird die Selbstzerstörung der weißen Blutzellen in Gang gesetzt – das Immunsystem bricht zusammen. Dies und andere Befunde deuten darauf hin, daß Aids auch eine Autoimmunkomponente hat.

Die fehlgeleitete körpereigene Abwehr schädigt sich also selbst. Aids ist demnach anders als „gewöhnliche“ Viruskrankheiten?

Montagnier: Ja, und diese Erkenntnis ist von großer Bedeutung bei der Behandlung der Patienten. Das bedeutet nämlich, daß es nicht genügt, das Virus zu bekämpfen. Wenn Aids eine Autoimmunkrankheit ist, könnte es passieren, daß man das Virus erfolgreich bekämpft, und das Immunsystem wird trotzdem völlig zerstört. Diese neuen Vorstellungen sind sehr wichtig; und als einer der Pioniere auf diesem Gebiet bin ich froh, daß andere Forscher mittlerweile zum gleichen Ergebnis kommen.

Es gab eine Phase, in der die Aids-Forschung nur auf der Virologie basierte; mittlerweile betreibt man mehr Immunologie als Virologie; und das ist gut so, denn Aids ist beides: eine Viruskrankheit und eine Autoimmunkrankheit.

Wie wird man denn in Zukunft bei der Behandlung von Aids-Patienten verfahren?

Montagnier: Neben der Bekämpfung des Virus, der Kofaktoren und der Stärkung des Immunsystems durch die Gabe von Antikörpern gibt es noch eine weitere Überlegung: Man hofft, eine Technik einzusetzen, die in ähnlicher Form schon heute von dem Amerikaner Steve Rosenberg im Kampf gegen verschiedene Krebsformen erprobt wird.

Dazu müßte man Immunzellen des Patienten vermehren, indem man sie aus dem Blut herausfiltert und anschließend im Labor mit Wachstumsfaktoren stimuliert. Wir wissen, daß zytotoxische Lymphozyten – das sind weiße Blutzellen – solche Körperzellen angreifen, die das Virus in sich tragen. Diese Zellen könnte man zu Beginn einer Infektion isolieren, sie einfrieren und zu einem späteren Zeitpunkt, um ein Vielfaches vermehrt, wieder in die Blutbahn des Patienten spritzen.

Welche Rolle spielt denn bei diesen Überlegungen die Gentherapie?

Montagnier: Für die Zukunft wäre es denkbar, Lymphozyten durch eine Genmanipulation vor einer Infektion mit HIV zu schützen. Auf diese Weise könnte man die Immunzellen vielleicht auch vor der Zerstörung durch das fehlgeleitete Abwehrsystem des Körpers bewahren.

Die Anwendung der Gentechnik, die für solche Eingriffe notwendig wäre, ist in Deutschland stark umstritten. Ihre Befürworter dagegen behaupten, ohne Gentechnik sei es undenkbar, jemals einen Impfstoff gegen Aids zu entwickeln. Wenn Sie nun versuchen sollten, Ihre Arbeit nur mit den Methoden der Biochemie und der „klassischen“ Mikrobiologie fortzuführen, welche Auswirkungen hätte das?

Montagnier: Im Falle eines Impfstoffes ist es zutreffend, daß dieser letztlich auf der Molekularbiologie des Virus aufbaut. Ein Aids-Impfstoff wird wahrscheinlich auf der Analyse des Erbguts beruhen und auf „gentechnisch“ hergestellten Eiweißen. Es ist klar, daß die Gentechnik hilfreich war und für die Gewinnung eines Impfstoffes unentbehrlich ist.

Wann wird ein Impfstoff zur Verfügung stehen?

Montagnier: Ich zögere; hier ein Datum zu nennen, weil das sehr schwer vorherzusagen ist. Wenn ich mir aber anschaue, welche Fortschritte wir in den letzten zwei Jahren gemacht haben, dann halte ich es für vernünftig zu denken, daß wir noch vor dem Jahr 2000 einen Impfstoff haben werden. Das bedeutet allerdings nicht, daß diese Vakzine bis dahin weltweit eingesetzt werden wird.

Die Entdeckerrechte von HIV waren jahrelang umstritten. Robert Gallo vom Nationalen Gesundheitsinstitut der USA hat ebenso wie Sie den Anspruch erhoben, HIV als erster entdeckt zu haben. Mittlerweile scheint klar, daß Sie und Ihre Kollegen vor zehn Jahren das Virus als erste isolierten. Das Virus, mit dem Gallo den Bluttest mitentwickelte, stammt eindeutig aus Ihrem Labor.

Montagnier: Ich glaube, vom wissenschaftlichen Standpunkt gibt es heute darüber keine Zweifel mehr. Eine andere Frage ist es allerdings – und das ist ein amerikanisches Problem-, ob Gallo wirklich eine „versehentliche Verseuchung“ in seinem Labor hatte. Er behauptet das. Oder haben sie die Namen auf den Proben absichtlich vertauscht? Diese Frage ist noch offen, derzeit laufen mehrere Untersuchungen. Es scheint klar, daß Gallo und seine Mitarbeiter im Laufe der Zeit widersprüchliche Angaben gemacht haben. Einmal sagten sie, daß es ihnen nicht gelang, unser Virus, das wir ihnen geschickt hatten, zu vermehren. Sie behaupteten, es wäre nutzlos in ihrem Kühlschrank gestanden. Jetzt ist offensichtlich, daß sie es doch häufig benutzt haben. Warum haben sie das verschwiegen?

Es geht bei dieser Auseinandersetzung ja nicht nur um Ruhm und Ehre, sondern auch um viel Geld. Schließlich beruht der Bluttest für HIV ebenfalls auf dem Virus, das Sie isoliert haben. Das Pasteur-Institut hat jetzt von den Amerikanern die Rückerstattung von 20 Millionen Dollar gefordert. Worum geht es bei diesem Streit?

Montagnier: Ich denke, mittlerweile ist es wissenschaftlich erwiesen, daß alle Bluttests für HIV-1, die weltweit vorgenommen werden, das gleiche Virus benutzen. Wir haben ihm unterschiedliche Namen gegeben, aber es handelt sich um das gleiche Virus, und Gallo hat dies auch anerkannt. Nun wird noch diskutiert, welchen Beitrag beide Labors für die Entwicklung des Bluttests geleistet haben. Ich denke noch immer, daß auch Gallos Labor einen Anteil hat. Es besteht aber kein Zweifel daran, daß es sich dabei mehr um die Erweiterung und Bestätigung unserer Arbeit gehandelt hat und weniger um eine eigene Entwicklung.

Auf dieser Grundlage denke ich, daß Gallo und seine Kollegen noch immer das Recht haben, am wissenschaftlichen Ruhm ebenso teilzuhaben wie an den Patentrechten für den Bluttest. Umstritten ist aber weiterhin die Verteilung der Tantiemen. Da feststeht, daß die amerkanischen Firmen das Virus aus dem Pasteur-Institut nutzen, glauben wir Anspruch zu haben auf einen höheren Anteil. Gegenwärtig bekommt die amerikanische Gesundheitsbehörde NIH die eine Hälfte der Einnahmen, das Pasteur-Institut die andere Hälfte. Ich glaube, wir sollten mehr bekommen. Das wird jetzt diskutiert, aber ich bin daran eigentlich nicht beteiligt.

Das Pasteur-Institut hat seine Patentansprüche aber lange vor dem NIH angemeldet, auch in den USA. Trotzdem bekamen zuerst die Amerikaner die Patentrechte zugesprochen, erst 1987 haben Sie dann den Kompromiß ausgehandelt. Warum haben Sie sich damals überhaupt darauf eingelassen?

Montagnier: Wir hätten mit einem Gerichtsverfahren von drei bis fünf Jahren Dauer rechnen müssen, bei dem wir viel Geld für die Rechtsanwälte hätten ausgeben müssen, ohne einen Pfennig Geld zu sehen. Der Kompromiß erlaubte es uns, wenigstens einen Anteil des Geldes sofort zu bekommen.

Für Ihr Institut bedeuten die Tantiemen aber eine wichtige Einnahmequelle.

Montagnier: Noch nicht. Erst im vergangenen Jahr hatten wir hier die ersten Gewinne, und es war nicht besonders viel Geld. Davor haben die Anwaltsgebühren alles aufgebraucht. Es stimmt aber, daß die Aids-Forschung dem Pasteur-Institut ordentlichen Profit gebracht hat, weil zu den Tantiemen ja noch die Lizenzgebühren kommen. Wie Sie wissen, haben wir beide Typen des Aids-Virus zuerst gefunden, HIV-1 und HIV-2. Viele Firmen, die Bluttests verkaufen, nutzen dabei Bestandteile beider Viren, und sie bezahlen dabei unser Institut für die Nutzung von HIV-2.

Welche Rolle spielte denn die Politik bei der Ausbreitung der Seuche? Trotz wiederholter Warnungen der Wissenschaftler wurden HIV-verseuchte Blutproben benutzt, nicht nur in den USA, sondern auch in Frankreich. Tausende haben sich deshalb infiziert, viele sind bereits gestorben. Wer ist schuld an dieser Tragödie?

Montagnier: Ursprünglich, im Jahre 1984/85, wurde die Ernsthaftigkeit der Lage unterschätzt. In Frankreich gab es 1983 nur eine Handvoll Menschen, denen das Problem überhaupt bewußt war, die saßen im Gesundheitsministerium. Zu diesem Zeitpunkt war uns Wissenschaftlern nicht wirklich klar, was es bedeutete, mit dem Virus infiziert zu sein. Der menschliche Körper bildet ja zunächst Antikörper gegen HIV, und einige Leute sagten uns: „Wenn jemand Antikörper hat, dann ist er vor der Krankheit geschützt.“ Zum damaligen Zeitpunkt war das schwer zu beantworten, denn bei vielen Viruskrankheiten ist das der Fall – wenn Sie Antikörper haben, sind Sie ein Leben lang geschützt. Als wir dann anhand der Antikörper nachwiesen, daß bereits jeder zweite Bluter mit dem Virus infiziert war, hieß es: „Natürlich haben sie Antikörper, darum sind sie auch geschützt.“ Man machte sich also zum einen keine großen Sorgen, auf der anderen Seite befürchtete man wohl eine Panik und eine Ausgrenzung der HIV-Infizierten, wenn wir Alarm schlagen würden. Also haben die Öffentlichkeit, die Medien und die Politiker den Ernst der Lage unterschätzt.

Wir waren zu wenige Forscher und Mediziner, und wir waren zu schwach, um unseren Standpunkt zu den Bluttransfusionen durchzusetzen. Heute ist es natürlich leicht zu sagen, daß jede Übertragung von HIV mit Blutkonserven oder Blutprodukten unterbunden werden muß. Vielleicht hätten wir stärker sein müssen. Aber Aids war damals auch ein politisches Problem, denn zu diesem Zeitpunkt war Aids eine Krankheit der Homosexuellen und der Fixer.

Ist der Vorwurf, daß die öffentliche Reaktion verzögert wurde, weil Aids eine „Schwulenkrankheit“ war, gerechtfertigt?

Montagnier: Ja, das war ganz sicher so.

Wie groß ist die Gefahr, sich heute noch bei einer Bluttransfusion mit HIV zu infizieren?

Montagnier: Es gibt immer noch einige Länder, etwa in Afrika, in denen Blutkonserven nicht sicher sind. Die Gefahr ist bekannt, trotzdem werden weiter wissentlich Transfusionen mit verseuchtem Blut vorgenommen. In den westlichen Industrieländern ist das mittlerweile völlig ausgeschlossen.

Bluttests messen die Antwort des Körpers auf die Infektion. Mit einer neuen Technik, der Polymerasekettenreaktion (PCR), ließe sich HIV direkt und möglicherweise früher nachweisen. Warum benutzt man nicht die bessere Technik?

Montagnier: Die PCR ist sehr teuer, sie kann nur von spezialisierten Labors durchgeführt werden, und sie ist manchmal zu empfindlich, so daß Menschen, die gar nicht infiziert sind, trotzdem als „Falsch-Positive“ identifiziert werden. Die Technik hat noch andere Nachteile, daher glaube ich nicht, daß PCR die beste Lösung ist.

Man sollte weiterhin das Blut auf Antikörper testen, die Spender aber zusätzlich einer detaillierten Befragung unterziehen, in der ermittelt wird, ob sie in den drei Monaten vor der Blutspende möglicherweise Kontakt mit HIV-infizierten Personen hatten. Als weitere Vorsichtsmaßnahme sollte man Bluttransfusionen auf die dringendsten Fälle beschränken.

Um das nochmals zu sagen: Das Risiko, bei einer Bluttransfusion mit dem Aids-Virus infiziert zu werden, ist gering. Es ist nicht gleich Null, aber es ist klein.

Sie haben kürzlich erklärt, daß nach Aids möglicherweise weitere, verheerende Krankheiten kommen werden. Brauchen wir ein Frühwarnsystem, um für die nächste Epidemie besser gewappnet zu sein?

Montagnier: Ich denke, Europa braucht solch eine Institution. Im Moment gibt es das noch nicht, nur einige Kontrollzentren auf nationaler Ebene. Wir sollten aber eine gemeinsame Einrichtung haben, welche Entstehung und Entwicklung von Krankheiten in ganz Europa ständig überwacht. Das kann ein zentrales Institut sein oder ein Netzwerk von Einzelzentren. Das ist wie mit dem Wetter oder der Flugüberwachung.

Könnte solch ein Netzwerk den Ausbruch weiterer Epidemien verhindern?

Montagnier: Nicht nur das. Man könnte auch Infektionen untersuchen, die im Gefolge der Aids-Epidemie auf uns zukommen. Die Tuberkulose beispielsweise kehrt im Gefolge von Aids zurück.

Wie steht es um die Finanzierung der Aids-Forschung? Die meisten Wissenschaftler beklagen zwar, daß nicht genug Geld zur Verfügung gestellt wird, es gibt aber auch einige Kritiker.

Montagnier: Nein, ich glaube nicht, daß zu viel Geld für die Aids-Forschung ausgegeben wird. Man muß bedenken, daß unsere Ergebnisse auch der Bekämpfung anderer Krankheiten zugutekommen, auch des Krebses. Auch für die Bekämpfung von Immun- und Autoimmunkrankheiten sind unsere Resultate wichtig. Ich bin daher strikt gegen eine Kürzung der Forschungsgelder. Im Gegenteil, wir brauchen in Zukunft mehr Geld, um die Entwicklung der Krankheit bei den Infizierten zu verfolgen.

Möglicherweise gibt es eine AIDS-Lobby – sagen wir lieber ein Establishment -, die eine sehr konservative Art der Forschung betreibt. Es bekommt nur für gewöhnliche Projekte Geld. Ich bin ein Gegner dieser Praxis, man sollte lieber mehr Geld für viele riskante Ideen ausgeben. Dafür sind wir aber auf Spenden angewiesen. Das ist ein Problem, denn in Frankreich kommen auf diese Weise jährlich gerade 20 Millionen Franc zusammen. Im Verhältnis zu den 700 Millionen Franc für die Krebsforschung ist das gar nichts. Der Grund: Die Leute denken bei Aids immer noch an eine Krankheit Homosexueller. Das müssen wir ändern, und darum bemühen wir uns.

Noch vor wenigen Jahren hatten die Menschen große Angst, sich mit HIV zu infizieren. Jetzt hat das nachgelassen, in Deutschland wird die Bedrohung kaum mehr ernst genommen.

Montagnier: Wir müssen mehr Geld für Aufklärungskampagnen ausgeben, und zwar kontinuierlich. Dadurch läßt sich die Ausbreitung der Seuche zwar nicht vollständig stoppen, aber wir können einige Leben retten; vielleicht die Leben von jungen Menschen. Sie fühlen sich nicht bedroht, aber sie sind es.

Sexuelle Freizügigkeit ist bei jeder Art von Geschlechtskrankheit ein Risikofaktor. Wir wissen, daß Geschlechtskrankheiten bei Jungen und Mädchen sehr häufig sind. Natürlich spielt die Erziehung eine große Rolle, wenn es darum geht, das Sexualverhalten zu ändern. Das ist eine langwierige Anstrengung, aber die Sitten verändern sich eben nicht so schnell.

Für junge Leute ist es natürlich, Sex mit mehreren Partnern zu haben. Es ist nicht in, abstinent zu leben, Jungfrau zu bleiben oder nur einen Partner zu haben. Diese Einstellung müssen wir ändern, aber das wird einige Zeit dauern.

Es scheint, daß die Menschen zu Lebzeiten von Louis Pasteur mehr über Hygiene wußten als heute.

Montagnier: Ja, es herrscht ein falsches Gefühl der Sicherheit. Grundprinzipien der Hygiene gehen heute verloren. Selbst in manchen Kliniken Osteuropas werden elementare Regeln verletzt, manche Leute benutzen dort noch nicht einmal sterilisierte Spritzen. Wir müssen die Menschen wieder zu mehr Hygiene erziehen, auch auf sexueller Ebene.

(erschienen in „DIE WELT“ am 24. Juli 1992)

Was wurde daraus? Bekanntlich gibt es auch im Jahr 2020 noch keinen Impfstoff gegen das AIDS-Virus HIV. Ganz offensichtlich sind nicht alle Krankheitserreger gleich gut zu bekämpfen, und im Rückblick hatten die Skeptiker recht, die darauf hingewiesen haben, dass ein Virus, welches das Immunsystem befällt, eine besondere Herausforderung sein würde. Dennoch gab es in den Jahrzehnten nach der Entdeckung des Virus atemberaubende Fortschritte bei der Therapie, sodass die Krankheit inzwischen mit einer Reihe von Medikamenten in Schach gehalten werden kann – und zwar auch zu bezahlbaren Preisen in vielen Entwicklungsländern. Dass Montagnier neuerdings „umstrittene Positionen“ vertritt, wie die Wikipedia anmerkt, hat er mit einigen weiteren Nobelpreisträgern gemeinsam. Vielleicht ist das ja eine der Nebenwirkungen bei hochintelligenten Menschen, die neue Ideen entwickeln, um schwierige Probleme zu lösen 😉

AIDS-Konferenz ´92: Mythen gegen Fakten

Spekulationen, wonach ein bisher unbekanntes Virus für mindestens ein Dutzend Aids-Erkrankungen in den Vereinigten Staaten verantwortlich sein könnte, wurden jetzt auf der 8. Internationalen Aids-Konferenz in Amsterdam zurückgewiesen.

Ein entsprechender Bericht des US-Nachrichtenmagazins „Newsweek“ hatte unter den mehr als 10.000 Delegierten für reichlich Gesprächsstoff gesorgt. In dem Artikel berichtete Dr. Jeffrey Laurence von der Universität Cornell von fünf Patienten, die alle Merkmale einer Aids-Erkrankung aufwiesen. Auch mit den empfindlichsten Nachweismethoden sei es ihm aber nicht gelungen, das Aids-Virus HIV nachzuweisen, sagte Laurence vor fast 1000 Zuhörern in Amsterdam.

Einen Dämpfer erhielt die aufkommende Spekulation über die Sicherheit von Blutkonserven dann aber durch einen Vortrag von Dr. James Curran, verantwortlich für die Überwachung der Aids-Epidemie am amerikanischen Center for Disease Control (CDC). Dort seien sechs weitere Fälle bekannt, eine Zahl, der Curran die 150.000 amerikanischen HIV-Infizierten gegenüberstellte.

„Es gibt also mehrere Fälle von Immunschwäche, die nicht von HIV hervorgerufen werden, es handelt sich hier aber nicht um Aids“, so Curran, und er fügte mit einem Blick auf Laurence hinzu: „Ich habe das Gefühl, daß einige unter uns den Drang verspüren, Dinge vorzeitig an die Öffentlichkeit zu tragen.“

Auch der Entdecker des Aids-Virus, Professor Luc Montagnier vom Pariser Pasteur-Institut, ergriff das Wort. In Frankreich seien mehrere ähnliche Fälle bekannt, allerdings sei es dort nach intensiven Bemühungen doch noch gelungen, Teile von HIV im Urin der Patienten nachzuweisen. Montagnier hält es für wahrscheinlich, daß defekte, unvollständige Aids-Viren in sehr seltenen Fällen nicht nachweisbar sind.

Neben Laurence mußte auch der „Aids-Rebell“ Peter Duesberg heftige Kritik über sich ergehen lassen. Er hatte immer wieder behauptet, HIV sei gar nicht die Ursache von Aids – ein Standpunkt, der auf der Mammutkonferenz keinerlei Unterstützung fand. „Nichts ist so schnell wie unser Wissenszuwachs über HIV und Aids, außer vielleicht die Verbreitung von Mythen und Fabeln um diese Epidemie“, sagte Kevin Craib von der Universität British Columbia im kanadischen Vancouver. „Demnach ist HIV eine Art göttlicher Vergeltung, kommt aus dem Weltraum, entspringt einem Waffenlabor oder ist Folge des Ozonloches“, so Craib ironisch. Er stellte eine Studie an 1000 Homosexuellen vor, die eindeutig beweist, daß HIV alleinige Ursache von Aids ist und nicht Drogenmißbrauch oder ein promiskuitives Sexualverhalten.

Im Gegensatz zu Duesberg stieß Altmeister Jonas Salk auf großes Interesse. Salk entwickelte bereits 1954 den ersten Impfstoff gegen die Kinderlähmung. Er legte jetzt eine neue Theorie vor, die wichtige Konsequenzen für die Bekämpfung einer ganzen Reihe von Krankheiten haben könnte – von Aids bis zu Malaria.

Die Produktion von Antikörpern gegen HIV sei wenig sinnvoll, schließt Salk aus eigenen und fremden Experimenten. Erfolge verspricht er sich dagegen von der Aktivierung einer „zellvermittelten“ Immunantwort. Verschiedene Typen weißer Blutzellen fressen dabei Eindringlinge regelrecht auf oder bringen infizierte Körperzellen zum Platzen. Noch sind Salks Vorstellungen darüber, wie dies zu erreichen ist, eher vage. Seine optimistische Botschaft: „Auch wenn es schwierig ist, wir werden einen Weg finden.“

(erschienen in „DIE WELT“ am 23. Juli 1992)

Aids-Forschung im Jahr 1990

Die Immunschwächekrankheit Aids wurde erstmalig im Juni 1981 bei jungen amerikanischen Homosexuellen festgestellt. Zwei Forschergruppen, eine französische um Luc Montagnier am Pariser Pasteur-Institut und eine amerikanische um Robert Gallo am amerikanischen Krebsinstitut waren es, die das Virus als erste isolieren und in Zellkulturen vermehren konnten.

Ein Aids-Virus beim Verlassen einer infizierten Zelle (Foto: NIH via Wikipedia)

Damit war die Grundlage für eine weitere Erforschung des Virus gelegt. Montagnier verkündete die Entdeckung im Oktober 1983, erst Jahre später einigte man sich auf den Namen HIV (Humanes Immundeffizienz Virus). Die weitere Entwicklung vollzog sich mit rasender Geschwindigkeit: Noch im gleichen Jahr der Entdeckung stand ein Bluttest zur Verfügung, mit dem die Infektion nachgewiesen werden konnte. In mehreren Labors wurde das genetische Material des Virus isoliert (geklont) und in seine Bestandteile zerlegt.

Man fand ein sehr kompliziertes Regelwerk mit dem HIV sich lange Zeit unbemerkt in infizierten Zellen aufhalten kann, um dann schlagartig neue Viruspartikel zu produzieren. 1984 gelang es Robin Weiss, dem Direktor des Londoner Krebsforschungsinstitutes, das Virus an der Infektion seiner Wirtszellen zu verhindern – zumindest im Reagenzglas. Weiss blockierte dafür die Bindungsstellen von HIV mit einem Antikörper, ein Ansatz der heute bereits im Stadium der klinischen Erprobung ist.

1985 fand Montagnier ein zweites Aids-Virus (HIV-2) in Blutproben von Patienten, die lange Zeit in Guinea-Bissau gelebt hatten, einer ehemaligen portugiesischen Kolonie in Westafrika. In der Zwischenzeit hat man auch mehrere HIV-Verwandte gefunden, die Affen infizieren. Obwohl die Entstehung des Virus noch nicht völlig geklärt ist, spricht vieles dafür, das HIV vor spätestens 25 Jahren im westlichen Afrika zum ersten Mal auf den Menschen übertragen wurde.

Auf der Suche nach Medikamenten die das tödliche Virus stoppen können wurden tausende von möglichen Substanzen erprobt. So hatte beispielsweise die Arbeitsgruppe von Samuel Broder am Nationalen Krebsinstitut der USA schon im Frühjahr 1985 unter 300 getesteten Substanzen 15 gefunden, die die Vermehrung des Virus im Reagenzglas unterbinden können. Als besonders erfolgversprechend erschien AZT (Azidothymidin), das im Juli 1985 an den ersten Patienten abgegeben wurde. Im Herbst 1986 hatten Studien an 12 amerikanischen Kliniken gezeigt, dass AZT die Lebenserwartung von Aids-Patienten erhöht und die Lebensqualität verbessern kann. Eine Heilung durch AZT ist allerdings nicht möglich, auch sind die Nebenwirkungen erheblich, so dass AZT nicht von allen Betroffenen eingenommen werden kann. Andere Medikamente wie Dideoxyinosin (DDI), die dem AZT in Struktur und Wirkungsweise sehr ähnlich sind, befinden sich derzeit in Erprobung. Vorläufig allerdings bleibt AZT das einzige zugelassene Medikament gegen Aids.

Langfristig streben die Forscher allerdings nicht die Entwicklung immer neuer Medikamente an, sondern die Entwicklung eines Impfstoffes, mit dem sich die Krankheit von vornherein verhindern ließe. Im Gegensatz zu anderen Viren, wie den Erregern von Masern und Mumps, von Pocken und Polio wird die Entwicklung eines HIV-Impfstoffes durch mehrere Umstände erschwert: Das Virus kann sich innerhalb der befallenen Zellen verstecken, zudem fehlt es an einem geeigneten Tiermodell, das die gleichen Symptome wie befallene Menschen zeigt. Möglicherweise können hier Mäuse mit einem menschlichen Immunsystem aushelfen, wie sie unter anderem von Gallo untersucht werden. Es bleiben aber die ethischen Probleme beim Verabreichen eines Impfstoffes zu überwinden, dessen Wirksamkeit noch nicht belegt ist.

Ob der Entwickler des Polio-Impfstoffes, Jonas Salk mit getöteten Aids-Viren Erfolg haben wird, ob einzelne Bestandteile des Virus ausreichen oder ob andere, unkonventionelle Impfstrategien zum Ziel führen werden ist derzeit noch nicht abzusehen.

(Ein nach meinen Unterlagen offenbar unveröffentlichter Hintergrundbericht)

Was ist daraus geworden? Als das Aids-Virus sich in den 1980er und 1990er Jahren weltweit verbreitete, war dies die wohl wichtigste und bedrohlichste Entwicklung in der Biomedizin. Entsprechend oft habe ich darüber geschrieben und durfte mitverfolgen, wie (auch unter dem Druck der Aktivisten) innerhalb kürzester Zeit immer bessere Medikamente entwickelt wurden und die Epidemie durch große Aufklärungskampagnen begrenzt wurde. Natürlich gab es bei dieser Geschichte nicht nur Helden, sondern auch Schurken, die durch ihr Zögern oder aus Konkurrenzdenken noch schnellere Fortschritte verhindert haben. Dennoch sollte man den Erfolg im Kampf gegen diese Seuche nicht kleinreden. Inzwischen ist AIDS zu einer beherrschbaren Krankheit geworden – und dies nicht nur in den Industrieländern. Wer genauer wissen will, wie es dazu gekommen ist, dem empfehle ich von Randy Shilts „And the Band Played On“ (deutsch: „Und das Leben geht weiter„) und von David France „How to Survive a Plaque„.