Die achte internationale Aidskonferenz ging heute in Amsterdam zu Ende. Über zehntausend Teilnehmer sind nun auf dem Heimweg, zurück in ihre High-Tech-Laboratorien, zurück auch in die Hospitäler, in denen ungezählte Aidskranke dahinsiechen. Sie sterben, während Presse, Funk und Fernsehen letzte Vorbereitungen treffen für die Olympischen Sommerspiele. Ab morgen wird das Ringen um Medaillen die Menschheit zwei Wochen lang beschäftigen.

In dieser Zeit werden sich wieder rund 200.000 Menschen mit dem tödlichen Immunschwächevirus infizieren, die weitaus meisten in Afrika und Asien. Sie teilen das Schicksal von gegenwärtig 13 Millionen, wenn man der neuesten Schätzung der Weltgesundheitsorganisation Glauben schenkt. Zahlenspiele. Werden es im Jahr 2000 „nur“ 38 Millionen sein? Oder wird die Zahl der zum Tode verurteilten die Hundert-Millionen-Marke überschreiten, wie Jonathan Mann befürchtet?

Eine „Wende im Kampf gegen Aids“ hatte sich der Kongreßvorsitzende von der sechstägigen Veranstaltung versprochen. Die nüchterne Bilanz der Experten hingegen lautet anders: Einen „Durchbruch“ im Kampf gegen die Seuche gab es jedenfalls nicht zu vermelden. Zwölf verschiedene Impfstoffe werden gegenwärtig an Menschen getestet, viele weitere stecken noch im Stadium des Tierversuchs. Bis die ersten Impfstoffkandidaten an einer größeren Zahl von Freiwilligen erprobt werden, werden weitere zwei bis drei Jahre verstreichen, erwartet Michael de Wilde, Forschungsdirektor eines großen Arzneimittelherstellers.

Die organisatorischen Vorbereitungen dafür müßten schon jetzt beginnen, um keine Zeit zu verschwenden, war in Amsterdam immer wieder zu hören. Pessimisten befürchten, daß nach Beginn dieser „Feldversuche“ mit jeweils 2000 bis 5000 Freiwilligen weitere fünf Jahre verstreichen. Diese Zeit wäre für eine gewissenhafte Auswertung der Daten nötig. Denn groß ist die Angst der Pharmakonzerne, einmal geweckte Erwartungen schließlich doch nicht erfüllen zu können.

Selbst wenn im Jahr 2000 ein Impfstoff zur Verfügung stehen würde, er wäre für die meisten Länder unbezahlbar. In Afrika etwa stehen für die medizinische Versorgung der Bevölkerung pro Kopf und Jahr durchschnittlich drei Mark zur Verfügung. Niemand glaubt, daß es gelingen wird, einen Impfstoff zu entwickeln, der weniger als das Zehnfache kostet. Sicher, die Westeuropäer und die Amerikaner können sich das leisten, was aber geschieht mit dem Rest der Welt, wo schon jetzt neun von zehn Infizierten leben?

„Das ist dann ein politisches Problem“, sagt der Entdecker des Virus, Luc Montagnier vom Pariser Pasteur-Institut. Und wie diese Art von politischen Problemen gelöst werden, wissen wir ja alle.

Nicht viel anders sieht es bei der Entwicklung von Arzneimitteln aus. Hier versucht man die Vermehrung des Virus im Körper der Infizierten zu blockieren, eine Handvoll sündhaft teurer Substanzen stehen dafür zur Verfügung. Zweifellos verlängern Wirkstoffe wie AZT, DDI und DDE die Lebenserwartung der Infizierten, doch was für ein Leben ist das?

Kaum eine Krankheit ist grausamer als Aids. Nach der Infektion versteckt sich das Virus vor dem Zugriff des Immunsystems, kann zehn, 15 Jahre oder noch länger unbemerkt bleiben. Schließlich aber beginnt das Virus sich rapide zu vermehren, die körpereigene Abwehr bricht zusammen. Keiner weiß genau warum. Dann geht alles sehr schnell, die HIV-Infizierten sind zu Aidskranken geworden und den Angriffen zahlloser Pilze, Bakterien und Viren schutzlos ausgeliefert. Die Bekämpfung dieser Erreger kostet leicht mehrere zehntausend Mark im Jahr, wobei die Pflegekosten noch nicht einmal enthalten sind.

Die in Amsterdam zahlreich vertretenen Aktivisten machten Ihrem Zorn über die Preispolitik der Firmen Astra und Wellcome denn auch Luft. „Wir sterben, Ihr macht die Profite“, hallten die lautstarken Proteste durch die Kongreßhallen. Wer will es ihnen verdenken?

Eine absurde Situation: Noch nie hat man über einen Krankheitserreger so schnell so viel gelernt wie über das Aidsvirus. Erst zehn Jahre ist es her, daß der tödliche Erreger identifiziert wurde, heute werden weltweit Milliarden ausgegeben, suchen Zehntausende von Wissenschaftlern nach einer Lösung. Brillante Köpfe mit brillanten Ideen arbeiten Tag und Nacht um die Flut zu stoppen. Und doch scheint es, als sei der Damm schon gebrochen.

Die Forderung nach einem „Manhattan-Projekt der Aidsforschung“ wurde laut: Globale Zusammenarbeit der besten Forscher, möglicherweise in einem einzigen Zentrum. Man mag über den Sinn solch einer Maßnahme geteilter Meinung sein. „Beim Bau der Atombombe hat das geklappt“ so ein Delegierter und fügte frustriert hinzu: „aber damals ging es ja auch um die Vernichtung von Menschenleben“.

Noch einmal: Es gibt keinen Impfstoff und es gibt keine Pille gegen Aids. Jede Mark, die jetzt in Aufklärungskampagnen investiert wird, könnte zahlreiche Menschenleben retten, so die Rechnung der Experten. Hören will das allerdings keiner, bis zur Diagnose „Aids“. Dann ist es zu spät.

(Kommentar zur 8. Internationalen AIDS-Konferenz in Amsterdam. Gesprochen im Deutschlandfunk am 24. Juli 1992)