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AIDS-Konferenz: Nur begrenzte Möglichkeiten gegen HIV

Vermutlich mein erster Beitrag für die Ärzte-Zeitung war dieser Bericht von der 8. Internationalen AIDS-Konferenz in Amsterdam. In den folgenden Jahren wurde AIDS/HIV einer meiner Schwerpunkte. Weil die meisten dieser Texte für Ärzte waren, habe ich sie hier nur ausnahmsweise mit aufgenommen. Bitte wie stets beachten: Meine Artikel sind keine Ratschläge sondern Zeitdokumente – in diesem Fall aus dem letzten Jahrtausend!

Die therapeutische Behandlung HIV-Infizierter mit Nukleosid-Analoga wie AZT, DDI oder DDC verlängert die Überlebenszeit und senkt die Häufigkeit opportunistischer Infektionen. Der Verlust der CD4+-Zellen wird gebremst und das Fortschreiten der Infektion zum erworbenen Immunschwächesyndrom AIDS verlangsamt. Dennoch: „Kein Therapeutikum ist in der Lage, freies Virus oder infizierte Zellen zu eliminieren“, sagt Professor Dr. Lawrence Corey, Direktor der Virologischen Abteilung an der University of Washington.

Corey, der auf einem Symposium des Unternehmens Bristol-Myers Squibb beim VIII. Internationalen AIDS-Kongreß in Amsterdam sprach, beklagte aber auch, daß die Effekte der gebräuchlichen Wirkstoffe gegen die Reverse Transkriptase des Immunschwächevirus von begrenzter Dauer und Reichweite seien. „Der klinische Nutzen scheint den biologischen zu überwiegen.“

In Zukunft müßten deshalb neue Therapeutika entwickelt werden, die nach der Integration des Provirus in das Genom der Wirtszelle wirksam sind, forderte Jean-Louis Virelizier, Direktor der Unite D’Immunologie Virale am Pariser Pasteur-Institut.

Als mögliche Angriffspunkte im viralen Replikationszyklus nannte Virelizier die Transkription des Provirus, dessen Protease oder den Aufbau funktionaler Virionen aus den Proteinuntereinheiten. Das „allerschönste Ziel“ gibt nach Vireliziers Meinung das virale TAT-Protein ab, das für die Transkription der Provirus-DNA absolut essentiell ist.

Schließlich wäre in ferner Zukunft auch daran zu denken, das gesamte blutbildende System für die Integration oder Replikation des Virus unzugänglich zu machen. Der Weg dahin führe über Genmanipulation entsprechender blutbildender Stammzellen mit anschließender autologer Knochenmarkstransplantation.

Professor Dr. Thomas Merrigan von der kalifornischen Stanford University wies auf die zunehmende Bedeutung virologischer und immunologischer Marker hin: „Die Zukunft liegt in der Individualisierung der Therapie. Wir werden uns die Marker ansehen und dann entscheiden, welche Wirkstoffe wir benutzen“ — eine Ansicht, die auch durch die vielbeachtete Arbeit einer niederländischen Forschergruppe um Joep Lange von der Universität Amsterdam unterstützt wird.

Dort gelang es, eine Korrelation zwischen der Anwesenheit schnellreplizierender, synzytienbildender HIV-Varianten (SI-Viren) und einem schnellen Fortschreiten der Infektion aufzuzeigen. Patienten, deren Viren als „nicht-synzytienbildend“ charakterisiert werden können, haben dagegen eine wesentlich bessere Prognose.

Im ersten Fall scheint eine AZT-Therapie nach Worten von Lange „relativ unwirksam“ zu sein. Merigan gab sich nach einer Studie an 40 Patienten zuversichtlich, eine Mutation im Codon 215 des viralen pol-Gens dem Typus der SI-Viren zuordnen zu können – mit entsprechenden Implikationen für Diagnose und Therapie.

Zum gegenwärtigen Zeitpunkt aber gibt es nur die Wahl zwischen Mono- und Kombinationstherapien verschiedener Nukleosid-Analoga. Hier gelang es kürzlich zu zeigen, daß DDI die AIDS-freie Überlebenszeit von Patienten, die bereits AZT erhalten, um durchschnittlich vier Monate hinauszögert. Am ausgeprägtesten ist dieser Effekt nach Angaben von Corey bei CD4+-Zellzahlen zwischen 100 und 300 je Kubikmillimeter Blut.

Die Kombination AZT/DDI wird demnach gut toleriert und stabilisiert die CD4+-Zahl für einen längeren Zeitraum als die Monotherapie mit 600 Milligramm AZT pro Tag. Mit der Kombination AZT/DDC wurden ähnliche Resultate erzielt.

Professor Dr. Raphael Dolin vom Medical Center der University of Rochester im Bundesstaat New York präsentierte mehrere Studien, die einen klinischen Nutzen von DDI bei solchen Patienten im fortgeschrittenen Krankheitsstadium belegen, die mindestens 16 Wochen eine AZT-Therapie erhielten. Allerdings sei eine Pankreatitis im Vergleich zur AZT-Monotherapie signifikant häufiger zu beobachten gewesen.

Obwohl die Resultate der präsentierten Studien im Trend eindeutig waren, konnte die Expertenrunde sich nicht auf eine eindeutige Empfehlung einigen. Auf die Frage nach der optimalen Behandlung eines AIDS-kranken Patienten im stabilen Zustand variierten die Antworten zwischen einem sofortigen Umstellen auf DDI-Monotherapie (Dolin) und einer Kombinationstherapie mit AZT (Virelizier). Wegen des mit DDI assoziierten erhöhten Pankreatitisrisikos plädierte Merigan schließlich dafür, die Entscheidung dem Patienten zu überlassen.

(Basierend auf einem Seminar der Firma Bristol-Myers Squibb auf dem 8. Internationalen AIDS-Kongreß in Amsterdam. Erschienen in der „Ärzte-Zeitung“ am 3. August 1992)

Aids-Forschung im Jahr 1990

Die Immunschwächekrankheit Aids wurde erstmalig im Juni 1981 bei jungen amerikanischen Homosexuellen festgestellt. Zwei Forschergruppen, eine französische um Luc Montagnier am Pariser Pasteur-Institut und eine amerikanische um Robert Gallo am amerikanischen Krebsinstitut waren es, die das Virus als erste isolieren und in Zellkulturen vermehren konnten.

Ein Aids-Virus beim Verlassen einer infizierten Zelle (Foto: NIH via Wikipedia)

Damit war die Grundlage für eine weitere Erforschung des Virus gelegt. Montagnier verkündete die Entdeckung im Oktober 1983, erst Jahre später einigte man sich auf den Namen HIV (Humanes Immundeffizienz Virus). Die weitere Entwicklung vollzog sich mit rasender Geschwindigkeit: Noch im gleichen Jahr der Entdeckung stand ein Bluttest zur Verfügung, mit dem die Infektion nachgewiesen werden konnte. In mehreren Labors wurde das genetische Material des Virus isoliert (geklont) und in seine Bestandteile zerlegt.

Man fand ein sehr kompliziertes Regelwerk mit dem HIV sich lange Zeit unbemerkt in infizierten Zellen aufhalten kann, um dann schlagartig neue Viruspartikel zu produzieren. 1984 gelang es Robin Weiss, dem Direktor des Londoner Krebsforschungsinstitutes, das Virus an der Infektion seiner Wirtszellen zu verhindern – zumindest im Reagenzglas. Weiss blockierte dafür die Bindungsstellen von HIV mit einem Antikörper, ein Ansatz der heute bereits im Stadium der klinischen Erprobung ist.

1985 fand Montagnier ein zweites Aids-Virus (HIV-2) in Blutproben von Patienten, die lange Zeit in Guinea-Bissau gelebt hatten, einer ehemaligen portugiesischen Kolonie in Westafrika. In der Zwischenzeit hat man auch mehrere HIV-Verwandte gefunden, die Affen infizieren. Obwohl die Entstehung des Virus noch nicht völlig geklärt ist, spricht vieles dafür, das HIV vor spätestens 25 Jahren im westlichen Afrika zum ersten Mal auf den Menschen übertragen wurde.

Auf der Suche nach Medikamenten die das tödliche Virus stoppen können wurden tausende von möglichen Substanzen erprobt. So hatte beispielsweise die Arbeitsgruppe von Samuel Broder am Nationalen Krebsinstitut der USA schon im Frühjahr 1985 unter 300 getesteten Substanzen 15 gefunden, die die Vermehrung des Virus im Reagenzglas unterbinden können. Als besonders erfolgversprechend erschien AZT (Azidothymidin), das im Juli 1985 an den ersten Patienten abgegeben wurde. Im Herbst 1986 hatten Studien an 12 amerikanischen Kliniken gezeigt, dass AZT die Lebenserwartung von Aids-Patienten erhöht und die Lebensqualität verbessern kann. Eine Heilung durch AZT ist allerdings nicht möglich, auch sind die Nebenwirkungen erheblich, so dass AZT nicht von allen Betroffenen eingenommen werden kann. Andere Medikamente wie Dideoxyinosin (DDI), die dem AZT in Struktur und Wirkungsweise sehr ähnlich sind, befinden sich derzeit in Erprobung. Vorläufig allerdings bleibt AZT das einzige zugelassene Medikament gegen Aids.

Langfristig streben die Forscher allerdings nicht die Entwicklung immer neuer Medikamente an, sondern die Entwicklung eines Impfstoffes, mit dem sich die Krankheit von vornherein verhindern ließe. Im Gegensatz zu anderen Viren, wie den Erregern von Masern und Mumps, von Pocken und Polio wird die Entwicklung eines HIV-Impfstoffes durch mehrere Umstände erschwert: Das Virus kann sich innerhalb der befallenen Zellen verstecken, zudem fehlt es an einem geeigneten Tiermodell, das die gleichen Symptome wie befallene Menschen zeigt. Möglicherweise können hier Mäuse mit einem menschlichen Immunsystem aushelfen, wie sie unter anderem von Gallo untersucht werden. Es bleiben aber die ethischen Probleme beim Verabreichen eines Impfstoffes zu überwinden, dessen Wirksamkeit noch nicht belegt ist.

Ob der Entwickler des Polio-Impfstoffes, Jonas Salk mit getöteten Aids-Viren Erfolg haben wird, ob einzelne Bestandteile des Virus ausreichen oder ob andere, unkonventionelle Impfstrategien zum Ziel führen werden ist derzeit noch nicht abzusehen.

(Ein nach meinen Unterlagen offenbar unveröffentlichter Hintergrundbericht)

Was ist daraus geworden? Als das Aids-Virus sich in den 1980er und 1990er Jahren weltweit verbreitete, war dies die wohl wichtigste und bedrohlichste Entwicklung in der Biomedizin. Entsprechend oft habe ich darüber geschrieben und durfte mitverfolgen, wie (auch unter dem Druck der Aktivisten) innerhalb kürzester Zeit immer bessere Medikamente entwickelt wurden und die Epidemie durch große Aufklärungskampagnen begrenzt wurde. Natürlich gab es bei dieser Geschichte nicht nur Helden, sondern auch Schurken, die durch ihr Zögern oder aus Konkurrenzdenken noch schnellere Fortschritte verhindert haben. Dennoch sollte man den Erfolg im Kampf gegen diese Seuche nicht kleinreden. Inzwischen ist AIDS zu einer beherrschbaren Krankheit geworden – und dies nicht nur in den Industrieländern. Wer genauer wissen will, wie es dazu gekommen ist, dem empfehle ich von Randy Shilts „And the Band Played On“ (deutsch: „Und das Leben geht weiter„) und von David France „How to Survive a Plaque„.