Beim Duell der Rivalen gab es dieses Jahr auf der 9. Internationalen Aidskonferenz einen klaren Sieger: In Berlin gewann der Amerikaner Robert Gallo gegen den Franzosen Luc Montagnier deutlich nach Punkten. Gallo ist Abteilungsleiter am Nationalen Krebsinstitut der USA und wird von Kollegen und Konkurrenten gleichermaßen als brillant, erfolgreich und wenig zimperlich bei der Wahl seiner Mittel beschrieben. Er hatte den Delegierten einen bunten Strauß von Vorschlägen mitgebracht. Montagnier dagegen, der das Virus vor zehn Jahren am Pariser Pasteur-Institut als erster isolierte, konnte in diesem Jahr nur wenig Neues präsentieren.

„Viren gegen Viren“ lautet einer von Gallos Schlachtrufen, seit andere Wissenschaftler herausgefunden haben, daß ein scheinbar harmloses Herpesvirus die gleichen Bindungsstellen auf der Oberfläche bestimmter Immunzellen benutzt wie HIV, das tödliche Immunschwäche-Virus. Nur wenn das Aidsvirus an diese Bindungsstellen – die sogenannten CD4-Rezeptoren andocken kann, gelangt es auch ins Zellinnere, um dort sein zerstörerisches Werk zu beginnen. Gallo schlägt deshalb vor, Bruchstücke des gutartigen Herpesvirus in großen Mengen herzustellen. Im Körper von Gesunden und bereits infizierten Menschen könnten diese Bruchstücke dann möglicherweise alle Bindungsstellen besetzen und so das Eindringen und die Ausbreitung des Aidsvirus verhindern. Erste Versuche in diese Richtung sind bereits angelaufen, bisher allerdings ohne durchschlagenden Erfolg. Gallo hofft dennoch, damit „einen neuen Weg bei der Behandlung von Aids“ zu eröffnen.

Ein zweiter Vorschlag – ebenfalls von Gallo unterbreitet – ließ die anwesenden Wissenschaftler aufhorchen. „Es mag ein wenig seltsam klingen“, sagte er, „aber man könnte auch bestimmte Bestandteile befallener Immunzellen ins Visier nehmen, statt immer nur auf das Virus zu zielen.“ Der Vorstoß entbehrt nicht einer gewissen Logik, denn Viren sind als nahezu perfekte Parasiten darauf angewiesen, eine Vielzahl von Eiweißen zu nutzen, die von der Wirtszelle produziert werden. Wenn es gelänge, einen dieser Biokatalysatoren in infizierten Zellen lahmzulegen, ohne gleichzeitig die gesunden Nachbarn allzu sehr in Mitleidenschaft zu ziehen, wäre auch das ein vielsprechender Ansatz, glaubt Gallo.

Natürlich hat er auch schon einen Kandidaten ausgespäht: Ribonukleotid-Reduktase heißt das Eiweiß. In allen Zellen produziert es die Bausteine (Nukleotide), aus denen anschließend die Erbsubstanz DNA zusammengesetzt wird. Mit einer schon lange bekannten Laborchemikalie – Hydroxyharnstoff – läßt sich dieser Prozeß zwar nicht vollständig, aber doch so weit unterbinden, daß in der Zelle nur noch geringe Mengen an DNA-Bausteinen zur Verfügung stehen. Weil das Aidsvirus auf einen großen Vorrat von Nukleotiden angewiesen ist, um sich im Körper wirkungsvoll zu verbreiten, hofft Gallo, es mit Hydroxyharnstoff in Schach halten zu können. HIV würde dann zwar immer noch in infizierten Zellen schlummern, in diesem Stadium ist die Gesundheit des Virusträgers jedoch nicht merklich beeinträchtigt.

Zukunftsmusik zumindest bei der Behandlung oder Verhinderung einer HIV-Infektion ist gegenwärtig noch die Gentherapie. Mit Hilfe von im Labor „kastrierten“ Verwandten des Aidsvirus sollen dabei schützende Erbanlagen auf die gefährdeten Immunzellen übertragen werden. Selbst Gallo gibt zu, nicht sicher zu sein, ob diese Idee nicht auch in Zukunft bloßes Wunschdenken bleiben wird. Zwar gelang es im Tierversuch tatsächlich, bestimmte Viren als „Gentaxis“ zu benutzen, ihre heilbringende Fracht konnten sie jedoch bisher nur bei einem kleinen Bruchteil der Zellen abladen, die es zu schützen gilt.

Voraussetzung für eine erfolgreiche Gentherapie wäre es aber, 100 Prozent derjenigen Immunzellen zu erreichen, die normalerweise von dem Aidsvirus angesteuert werden. Regelrecht in Mode gekommen ist in letzter Zeit die sogenannte Antisense-Technik. Mit ihr wollen die Forscher bestimmte Gene des Aidsvirus gezielt abschalten. Antisense-Moleküle, die mittlerweile in vielen Labors kiloweise produziert werden, sollen sich an besonders wichtige Abschnitte des viralen Erbguts ankoppeln und so die Vermehrung verhindern. In Zellkulturen funktioniert die Technik bereits. Einer Handvoll Arbeitsgruppen ist es auf diese Weise sogar gelungen, die Vermehrung von Aidsviren über Monate hinweg völlig zu unterbinden.

Die leidvollen Erfahrungen der Vergangenheit zeigen allerdings, daß es vom Reagenzglas bis zum Krankenbett ein weiter Weg ist. Es steht zu befürchten, daß die meisten Menschen, die heute bereits mit dem Virus infiziert sind, diese Wartezeit nicht überleben werden.

(erschienen in der Stuttgarter Zeitung am 19. Juni 1993)