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Die fantastische Welt in unseren Köpfen

Die Vergabe des Medizinnobelpreises an zwei deutsche Wissenschaftler zu Beginn dieser Woche rückt einen Forschungszweig ins Licht der Öffentlichkeit, der bisher trotz gewaltiger Fortschritte eher ein Schattendasein führte. Zwar hatte der amerikanische Kongreß die neunziger Jahre vollmundig zur „Dekade des Gehirns“ erklärt; für den Mann auf der Straße aber blieb diese Verlautbarung ebenso bedeutungslos wie millionenschwere Förderproramme der Bundesregierung oder er Europäischen Gemeinschaft.

Unterdessen fahren ganze Heerscharen von Wissenschaftlern damit fort, in mühseliger Kleinarbeit dem Gehirn seine Geheimnisse zu entwinden und die oft widersprüchlichen Ergebnisse wie Mosaiksteinchen zu einem gewaltigen Fresko zu verarbeiten. Für diese Minderheit in unserer Gesellschaft steht längst zweifelsfrei fest: Das „Ich“ hat einen Sitz im Gehirn.

Denken, Lernen, Vergessen, ja selbst Gefühle wie Freude und Schmerz, Angst und Hoffnung, Lust und Liebe erwachsen aus dem unendlich komplizierten Zusammenspiel mikroskopisch kleiner Einheiten. Die Rede ist von Nervenzellen (Neuronen), und die Tatsache, daß die Resultate der Neurowissenschaftler von so wenigen nachvollzogen werden können, rührt sicherlich auch daher, daß wir unser Gehirn tagtäglich zu Tausenden von verschiedenen Arbeiten heranziehen, ohne jemals über die ungeheure Leistung dieses Gebildes nachzudenken.

In unseren Köpfen tragen wir rund 100 Milliarden Nervenzellen mit uns herum (* die jüngste Schätzung sagt 86 Milliarden). Jede einzelne dieser Zellen hat Kontakt zu durchschnittlich 1000 Nachbarn, manche spezialisierte Neuronen pflegen sogar über 100.000 Beziehungen gleichzeitig. Summa sumarum kommt man somit auf rund 100 Billionen (100.000.000.000.000) Verbindungen (Synapsen) zwischen den grauen Zellen.

Die mikroskopischen Dimensionen dieses Netzwerkes erlauben es beispielsweise, eine Vielzahl von Funktionen wie den Gehörsinn, das Gleichgewichtsempfinden und den Richtungssinn in einem Raum unterzubringen, der nicht größer ist als eine Murmel. Töne, die nur wenige Tausendstelsekunden aufeinanderfolgen, können mit diesem Präzisionsinstrument noch unterschieden werden. Im empfindlichsten Hörbereich genügt eine Auslenkung des Trommelfells um wenig mehr als den Durchmesser eines Wasserstoffatoms, um ein Geräusch wahrzunehmen. In absoluter Dunkelheit reichen schon fünf Lichtteilchen (Photonen) aus, um vom Auge als Lichtblitz wahrgenommen zu werden.

All diese fantastischen Leistungen beruhen letztendlich auf der Funktion einzelner Nervenzellen oder von ganzen Netzwerken zusammengeschalteter Neuronen. Während man früher zu der simplen Gleichung tendierte Gehirn gleich Computer, weiß man heute, daß jedes einzelne Neuron einen kleinen Computer für sich darstellt. Eingehende Daten wie Licht, Schall oder ein Botenstoff des Körpers können von verschiedenen Spezialisten – den Sinneszellen – erkannt werden.

Die Daten werden gesammelt, auf ihre „Wichtigkeit“ überprüft und gegebenenfalls in Form eines elektrischen Reizes weitergeleitet. Nachgeordnete Nervenzellen, die Interneuronen, können mit ihren feinverästelten Armen, den Dendriten, diese Signale von bis zu 100.000 Nachbarn empfangen. Dann beginnt die Rechenarbeit: Treffen die elektrischen Reize gleichzeitig ein oder in kurzer Folge hintereinander? Ist das, was da gemeldet wird, wichtig genug, um den nächsten Neuronen auf der Befehlsleiter Meldung zu erstatten?

Wird letztere Frage mit ja beantwortet, so meldet die betreffende Zelle das Rechenergebnis weiter, indem über einen einzigen, großen Zellfortsatz, das Axon, wiederum ein elektrisches Signal abgesandt wird. Dabei werden Spitzengeschwindigkeiten von über 100 Metern in der Sekunde erreicht. Über mehrere Stufen wird so aus dem Rohmaterial der Daten das Wesentliche herausgearbeitet. Wie mit einem Filter wird ein Gesicht in einem Muster aus Hell und Dunkel erkannt, ein Wort aus dem Geräuschpegel herausgehört.

Noch erstaunlicher werden diese Leistungen, wenn man bedenkt, daß die Nervenzellen ja keine festgefügten Bausteine sind, sondern lebende Einheiten, die auf ihre Umgebung reagieren. Schon vor der Geburt bahnen sie sich ihren Weg durch die verschiedenen Gewebe, einmal angelockt und dann wieder abgestoßen von chemischen Botenstoffen oder dem Kontakt zu Gliazellen, die wie Fluglotsen den nur scheinbar chaotischen Verkehrsfluß regeln.

Diese Erkenntnisse sind nicht nur von theoretischer Bedeutung, sie schaffen auch die Voraussetzung für gezielte Eingriffe in die Biochemie des Gehirns. In dem Kinofilm „Zeit des Erwachens“ wird diese Möglichkeit dem Zuschauer drastisch vor Augen geführt. Der Neurologe Oliver Sacks, nach dessen authentischen Erfahrungen der Film gedreht wurde, erprobte im Jahr 1969 das Medikament L-Dopa an insgesamt 80 Patienten, die durch eine mysteriöse Nervenkrankheit an den Rollstuhl gefesselt waren und teilweise über Jahrzehnte stumm vor sich hin starrten.

Dank des L-Dopas wurden die völlig apathischen Patienten aus ihrer Trance geholt; allerdings dauerte dieses „Erwachen“ für die meisten nur einen Sommer. Heute weiß man, daß L-Dopa eine Vorstufe für einen der wichtigsten Botenstoffe des Gehirns (Dopamin) darstellt. Für Menschen, die an der Parkinsonschen Krankheit leiden, ist dies alles andere als trivial, denn durch das Verständnis dieser Vorgänge konnten neue Arzneimittel gezielt entwickelt werden.

Erklärtes Ziel vieler Forscher ist es, die Krankheiten des zentralen Nervensystems in den Griff zu bekommen. Ein bis zwei Prozent der Bevölkerung leiden beispielsweise unter Depressionen oder Schizophrenie, aber noch immer beruhen Therapieansätze vorwiegend auf Versuch und Irrtum. „Die bisherigen Eingriffe in das Gehirn gleichen dem Wurf einer Handgranate in eine Telefonzentrale“, meint einer der bekanntesten Hirnforscher Deutschlands, der Frankfurter Professor Wolf Singer.

(erschienen in „DIE WELT“ am 9. Oktober 1991)

Giftkunde für Anfänger

Ein Großteil aller Gifte, Drogen und Psychopharmaka wirkt direkt auf das Gehirn. Durch so prominente Vertreter der Gattung wie Strychnin, Curare und Valium wird die Signalleitung zwischen den Nervenzellen gestört – mit den bekannten Folgen. Erst kürzlich fand man auf der Oberfläche der grauen Zellen auch einen Ankerplatz für das Rauschgift Cannabis.

Der Ankerplatz (Rezeptor) ist typisch für eine Gruppe von Eiweißen, welche bei der Signalübertragung von einer Nervenzelle zur nächsten eine entscheidende Rolle spielen. Ohne diese hochspezialisierten Moleküle und deren Gegenstücke, die Neurotransmitter, könnte sich ein elektrischer Reiz nicht von einer Nervenzelle zur nächsten fortpflanzen, weil auch benachbarte Nervenzellen durch eine winzige Lücke voneinander getrennt sind. Dieser „synaptische Spalt“ ist zwar nur wenige Milliardstel Meter breit. dient aber dennoch als Isolator.

Erreicht ein elektrischer Reiz das Ende einer Nervenfaser, muß die Zelle daher ihre Botenstoffe ausschicken, um die Nachricht weiterzureichen. Kleine Bläschen mit chemischen Botenstoffen entleeren ihren Inhalt in den synaptischen Spalt und binden anschließend an ihren Partnermolekülen, den Rezeptoren auf der gegenüberliegenden Seite – solange kein Gift ins Gehirn gelangt. Denn genau dieser Prozeß wird von einer Reihe von Substanzen verhindert, vom Pilzgift Muscarin bis zum Bungarotoxin, einem Schlangengift.

Im störungsfreien Betrieb aber sind es die Rezeptoren, von denen ständig neue Typen entdeckt werden, die das chemische Signal der Botenstoffe wieder in ein elektrisches Signal zurückübersetzen – ein Vorgang, der sich bei jedem Umschalten von einer Nervenzelle zur nächsten wiederholt.

(erschienen in „DIE WELT“ am 9. Oktober 1991)

Hat die Homosexualität eine biologische Ursache?

Die Hirnstruktur homosexueller Männer unterscheidet sich in mindestens einer Region deutlich von der ihrer heterosexuellen Geschlechtsgenossen. Dieses Resultat einer Autopsie an insgesamt 41 Gehirnen, das jetzt in der Fachzeitschrift ,,Science“ (Band 253, S. 1034) veröffentlicht wurde, dürfte die Diskussion über die biologischen Wurzeln sexuellen Verhaltens weiter anheizen.

Simon LeVay aus San Diego, der diese Studien ursprünglich als Hobbyprojekt begonnen hatte, will sich allerdings nicht darauf festlegen, ob die gefundenen anatomischen Unterschiede Ursache oder Folge der Homosexualität sind: „Es gibt Unterschiede zwischen den Hirnen schwuler und normaler Männer, aber meine Daten sagen nichts darüber, wie diese Unterschiede zustande kommen.“

LeVay, selbst homosexuell, hat sich bisher nicht zur gesellschaftlichen Brisanz seiner Erkenntnisse geäußert und bemerkt in seiner Publikation lediglich, daß „dieses Resultat darauf hindeutet, daß sexuelle Orientierung ein biologisches Substrat hat“. Gegenüber dem „Time Magazine“. sagte der Neurobiologe: „Sexualität ist ein wichtiger Teil von uns. Jetzt haben wir eine bestimmte Hirnregion, die wir daraufhin untersuchen können“.

19 der 41 Gehirne stammten von homosexuellen Männern, die allesamt an Aids verstorben waren. 16 weitere Hirne stammten von heterosexuellen Männern, von denen sechs der Immunschwäche erlegen waren, sechs weitere Gehirne kamen von Frauen. Die Unterschiede beziehen sich auf eine winzig kleine Region im Hypothalamus, einem Hirngebiet, von dem man weiß, daß es bei der Regulation männlichen Sexualverhaltens eine wichtige Rolle spielt.

Innerhalb dieser Region nahm LeVay eine Gruppe von Zellen genauer unter die Lupe, für die andere Forscher bereits Unterschiede zwischen den Geschlechtern ermittelt hatten: den sogenannten interstitiellen Nukleus des anterioren Hypothalamus 3 (INAH-3). Dort fand LeVay den kleinen Unterschied, der für große Aufregung sorgt: INAH-3 ist bei Frauen und homosexuellen Männern gleich groß, bei heterosexuellen Männern nimmt die Zellgruppe dagegen doppelt soviel Platz ein.

Die Möglichkeit, daß die Größendifferenz auf die Aidserkrankung zurückzuführen ist, scheidet aus, weil INAH-3 auch bei den heterosexuellen Männern, die der Immunschwäche zum Opfer gefallen waren, doppelt soviel Platz einnahm wie bei den aidsinfizierten Homosexuellen. Dennoch warnt LeVay vor vorschnellen Schlüssen. Zunächst müßten seine technisch schwierigen Untersuchungen von anderen Wissenschaftlern bestätigt werden.

Für die Richtigkeit der Untersuchung spricht aber die Tatsache, daß in jüngster Vergangenheit auch andere biologische Unterschiede festgestellt wurden, die mit der sexuellen Orientierung einhergehen. So berichtete eine Arbeitsgruppe aus Amsterdam über anatomische Unterschiede in einem anderen Bereich des Hypothalamus, dem suprachiasmatischen Kern. Diese Region, von der man annimmt, daß sie für den Tag-Nacht-Rhythmus eine Rolle spielt, ist bei homosexuellen Männern deutlich vergrößert.

Die Psychologin Sandra Witelson von der amerikanischen McMaster University in Hamilton konnte zeigen, daß Linkshänder unter Lesbierinnen überdurchschnittlich häufig zu finden sind. Darüber hinaus konnte Witelson bestätigen, daß diese Besonderheit auch auf homosexuelle Männer zutrifft.

Auch auf die Frage, wie die Hirnentwicklung in den kritischen Regionen gesteuert wird, glaubt Witelson eine – wenn auch spekulative – Antwort zu haben. Untersuchungen an Ratten, die ebenso wie Menschen im Hypothalamus markante Unterschiede zwischen den Geschlechtern aufweisen, zeigen eine Abhängigkeit der Entwicklung dieser Hirnregion vom Geschlechtshormon Testosteron.

Injektionen des Hormons vergrößern bei weiblichen Tieren kurz nach der Geburt die fragliche Region; werden umgekehrt männliche Ratten im gleichen Alter kastriert, so sinkt der Testosteronspiegel, die Zellgruppe schrumpft zusammen und die Tiere zeigen im Erwachsenenalter ein weniger „männliches“ Verhalten.

Diese Experimente des Neuroendokrinologen Roger Gorski aus Los Angeles unterstützen Witelsons Hypothese, wonach das Gehirn wie ein Mosaik aus verschiedenen Teilen zusammengesetzt ist, die zu verschiedenen Zeiten während der körperlichen Entwicklung für Sexualhormone empfänglich sind.

Wird aber zuviel oder zuwenig der entsprechenden Hormone ausgeschüttet, oder erfolgt dieses Signal zum falschen Zeitpunkt, so könnte dadurch die Entwicklung der entsprechenden Hirnregionen nachhaltig beeinflußt werden. Da während der Entstehung eines Organismus viele solcher „biologischen Schalter“ nur einmal betätigt werden können, wäre die Entwicklung nicht mehr rückgängig zu machen.

Eine Möglichkeit, die Thesen von Sandra Witelson zu erhärten, wäre der Nachweis von Hormonrezeptoren in der Region von INAH-3. Diese Ankerstellen für Botenstoffe des menschlichen Körpers wurden zwar bisher noch nicht gefunden, doch nimmt die Zahl der Entdeckungen gerade auf diesem Forschungsgebiet rapide zu.

Damit dürfte dann ein weiterer Tummelplatz für Ideologen aller Art entstehen, die Homosexualität als „widernatürlich“ oder gar krankhaft betrachten. Andererseits könnte diese Forschung in Zukunft aber auch die Möglichkeit eröffnen, bei echten medizinischen und psychologischen Problemen mit dem Einverständnis der Betroffenen helfend einzugreifen.

(erschienen in „DIE WELT“ am 12. September 1991)

Quelle: LeVay S. A difference in hypothalamic structure between heterosexual and homosexual men. Science. 1991;253(5023):1034‐1037. doi:10.1126/science.1887219

Symposium 5 Jahre Piracetam

Der Einsatz von Nootropika zur Behandlung von Hirnleistungsstörungen im Alter und hirnorganischem Psychosyndrom wurde ursprünglich mit großer Skepsis bedacht. Dennoch wird diese Medikamentengruppe in den neunziger Jahren wahrscheinlich das dynamischste Wachstumsgebiet im Bereich der Neuropsychopharmaka darstellen.

Ein ganzes Symposium drehte sich um diesen Wirkstoff: Piracetam (Von MarinaVladivostok via Wikipedia, CC0)

Über 600 Teilnehmer aus 15 Ländern waren im April in Athen zusammengekommen, um eine Bilanz über Piracetam, den „klassischen“ Vertreter dieser Medikamentenklasse, zu ziehen. Veranstalter des Symposiums „Piracetam: 5 Years Progress in Pharmacology & Clinics“ war die griechische Gesellschaft für Neurologie, als industrieller Sponsor trat das belgische Pharmaunternehmen UCB auf, das Piracetam als Nootrop® anbietet.

In seiner Begrüßungsansprache wies der Entdecker des Piracetams, Prof. Dr. Corneliu Giurgea (Universität Louvain, Belgien), darauf hin, dass dem Baby-Boom der siebziger Jahre ein „Geriatrie-Boom“ folgen müsse, der etwa um das Jahr 2010 zu erwarten sei. Zwar ist der Wirkungsmechanismus des Piracetams, das mit der Gammaaminobuttersäure verwandt ist, noch immer unbekannt, doch weiß man, dass sich dessen günstiger Effekt auf den gestörten Energiestoffwechsel des Gehirns unter anderem in der Stimulation des oxidativen Glukoseabbaus, Erhöhung von ATP-Umsatz und cAMP-Spiegel sowie einem verstärkten Phospholipidstoffwechsel manifestiert.

Zwei zusammenfassende Analysen über Wirkungen und Nebeneffekte dieses Nootropikums präsentierte Dr. Walter Deberdt (Medical Advisor UCB, Belgien). Die Resultate von 18 doppelblinden, plazebokontrollierten Studien an insgesamt 1195 älteren Patienten legten nahe, dass Piracetam zu einer generellen Verbesserung des zerebralen Alterungsprozesses führen könne, so Deberdt.

Die Auswertung von 57 Studien an 3372 Patienten ergab eine signifikante Häufung von Nebenwirkungen für die Piracetam-Behandlung, besonders bei Dosen von 4,8 Gramm täglich. So waren Hyperaktivität, Schlaflosigkeit, Nervosität, Somnolenz, Depressionen und Angstgefühle vermehrt zu beobachten. Da jedoch die Inzidenz der Nebenwirkungen niedrig sei (das Maximum bildete Hyperaktivität bei fünf Prozent der Patienten), überwiegt nach Deberdts Meinung der klinische Nutzen einer Piracetam-Behandlung das Risiko bei weitem.

Mehrere randomisierte, doppelblinde Studien belegten diesen Anspruch. So untersuchte Dr. Liliane Israel (CH.R.U. Grenoble, Frankreich) den Einfluss von Piracetam in Kombination mit Gedächtnistrainingsprogrammen auf 162 Patienten mit altersbedingten Gedächtnisstörungen (AAMI = Age Associated Memory Impairments).

Drei Gruppen von je 54 Patienten im durchschnittlichen Alter von 66 erhielten über einen Zeitraum von drei Monaten Placebo oder Piracetam in Dosen von 2,4 oder 4,8 Gramm täglich. Außerdem wurden die Patienten einmal wöchentlich in Gruppen zu zehn Personen von einem Psychologen im Gedächtnistraining unterwiesen. Die Bewertung der Gedchtnisfunktion wurde schwerpunktmäßig anhand der Vergeßlichkeit vorgenommen und psychometrisch (durch Bewertungsskalen, Fragebögen und Tests) sowie klinisch (basierend auf dem Urteil von Psychologe, Arzt und Patient) gemessen.

In der abschließenden Bewertung durch den Psychologen (gestaffelt in: keine, geringe, mittlere und starke Verbesserung) zeigte sich bei Patienten, die 4,8 Gramm Piracetam eingenommen hatten, eine starke Verbesserung in 42,5 Prozent der Fälle, und eine mittlere Verbesserung in 51 Prozent der Fälle. Bei Einnahme von täglich 2,4 Gramm Piracetam betrugen die entsprechenden Werte 11,5 und 70,5 Prozent (Plazebo: 2 und 20 Prozent). Bei Einnahme von täglich 4,8 Gramm Piracetam zeigten 53,5 Prozent der Probanden eine klinisch relevante Verbesserung der Gedächtnisfunktion. Für eine Dosis von 2,4 Gramm betrug dieser Wert 38 Prozent, und für Plazebo 22 Prozent.

Da die nachweisbaren Responderraten für die gegenwärtig verfügbaren Nootropika eher niedrig sind, sei es wichtig, für diese Medikamentenklasse eine Beziehung zwischen Kosten und Nutzen zu demonstrieren. Diese Meinung vertrat Prof. Dr. Werner Martin Herrmann (Arzneimittelforschung GmbH, Berlin), der sich mit den Auswirkungen einer Piracetam-Behandlung auf das Alltagsleben der Patienten befasste, beispielsweise auf das Ausmaß der Hilfsbedürftigkeit, auf sinnvolle Beschäftigung und Interaktion mit anderen Personen.

Herrmann erläuterte die Ergebnisse einer Phase-III-Studie an 130 stationären geriatrischen Patienten mit Hirnleistungsstörungen. Über einen Behandlungszeitraum von 12 Wochen erhielten jeweils die Hälfte der Patienten im Alter von 65 bis 85 Jahren täglich 4,8 Gramm Piracetam oder Placebo. Beurteilungsgrundlage für die Abschätzung des Behandlungserfolgs war vorwiegend eine Skala auf der Grundlage von ADL-(Activities of daily living). So wurde beispielsweise die „Hilfsbedürftigkeit des Patienten“ in der Beurteilung des Pflegepersonals betrachtet. Hier wurde nach Änderungen bei Aktivitäten wie Waschen, Anziehen, Essen oder Toilette gefragt, aber auch nach sinnvoller Beschäftigung und Interaktion mit anderen Personen. Während sich unter Placebo 23 Patienten verbesserten und 18 verschlechterten, besserten sich unter Piracetam 55 Patienten bei nur einer Verschlechterung. Herrmann ist der Meinung, dass diese deutliche Verbesserung auch außerhalb des klinischen Milieus Bedeutung haben dürfte. Wenn eine unterstützende Nootropika-Therapie die Pflegeabhängigkeit auch nur der Hälfte der Patienten geringfügig verringern würde, so die Argumentation, würde dies bereits eine entscheidende Möglichkeit eröffnen, den Anteil an sozialen Aktivitäten mit dem Pfleger zu erhöhen.

Der progressive Verlust der Autonomie stellt eines der größten Probleme des Alters dar. Die vollständige Auswertung einer Untersuchung aus dem Jahr 1986 über das Fahrverhalten älterer Personen fand daher besondere Beachtung. Die von Dr. Elke Ludemann (Arbeits- und Forschungsgemeinschaft für Verkehrsmedizin und Verkehrspsychologie, Köln) vorgetragene Untersuchung hatte ihren Schwerpunkt in der Fahrverhaltensbeobachtung unter realen Verkehrsbedingungen mit Beobachtungs- und Meßzeiten von durchschnittlich 110 Minuten pro Testfahrt.

Ein Vergleich des Fahrverhaltens älterer Menschen mit dem am wenigsten unfallbelasteten Altersbereich (30 bis 50 Jahre) zeigt eine Verlagerung des Risikopotentials von überhöhter Geschwindigkeit auf die Vorfahrtsverletzungen an Kreuzungen. 101 Kraftfahrer mit einem Durchschnittsalter von 62,2 Jahren, deren Reaktions- und Orientierungsleistungen am Wiener Determinationsgerät 50 Prozent oder weniger entsprachen, erhielten täglich 4,8 Gramm Piracetam oder Plazebo. Nach Abschluß des sechswöchigen Behandlungszeitraumes ergab sich beim Parameter „Orientierung“, der in enger Beziehung zu hohen Unfallzahlen steht, eine deutliche Verbesserung gegenüber dem Leertest für die Piracetamempfänger. Der Prozentsatz der richtig gelösten Aufgaben verbesserte sich signifikant von 77 auf 84 Prozent, während die Leistungen der Placebo-Empfänger unverändert blieben.

Neben einer Vielzahl von Studien über die Wirksamkeit des Piracetams bei akuten zerebralen Schädigungen, die an kleinen Patientenkollektiven vorgenommen wurden und sich oft an der Grenze zur Signifikanz bewegten, präsentierte Prof. Dr. Horst Herrschaft (Chefarzt der Neurologischen Klinik des Niedersächsischen Landeskrankenhauses Lüneburg) das Ergebnis einer randomisierten Doppelblindstudie mit 44 Patienten im Alter von 29 bis 80 Jahren mit ischämischen zerebralen Insult. Zusätzlich zur Standard-Hämodilutionstherapie erhielten die 23 Patienten der Verumgruppe während der ersten zwei Behandlungswochen dreimal täglich 4,8 Gramm Piracetam i.v., danach für weitere zwei Wochen 4,8 Gramm Piracetam täglich oral.

Alle Parameter zeigten eine Überlegenheit der Piracetambehandlung, für Paresen, Aphasien, Bewusstseinsstörungen und das EEG statistisch signifikant. Die Gesamtbesserungsrate unter der Kombinationstherapie Dextran/Piracetam übertraf die Standardtherapie um 30 Prozent, ein Ergebnis, das auch von klinischer Relevanz sein dürfte.

(Mein erster Artikel für das Deutsche Ärzteblatt, erschienen in gekürzter Form am 26. Juli 1990. Letzte Aktualisierung am 14. März 2017)

Quelle: Symposium Piracetam: 5 Years Progress in Pharmacology & Clinics. Athen, 29. April 1990. (Reisekosten und Unterkunft wurden bezahlt von UCB)

Was ist daraus geworden? Der Begriff Nootropikum ist unscharf, und Piracetam wird heute eher als Antidementivum eingeordnet, also als ein Mittel gegen Gedächtnisstörungen. Der „Geriatrie-Boom“, den Prof. Giurgea für das Jahr 2010 vorhergesagt hatte, ist tatsächlich eingetroffen. Die wohl schwerste Hirnleistungsstörung im Alter – die Alzheimer-Demenz – wird heute indes mit anderen Medikamenten behandelt.

Die Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft stellte im Jahr 2004 fest, dass viele der älteren Studien mit Piracetam methodische Schwächen hätten. Dort wird auch auf eine Literaturanalyse der Cochrane Collaboration verwiesen, wonach Piracetam zwar den klinischen Gesamteindruck verbessert, nicht aber die Hirnleistung.

Die Deutsche Gesellschaft für Neurologie listet Piracetam in ihrer 2016 veröffentlichten Leitlinie Demenz unter „andere Wirkstoffe“ zusammen mit Nicergolin, Hydergin, Phosphatidylcholin (Lecithin), Nimodipin, Cerebrolysin und Selegilin. Sie DGN hält die Beweislage für all diese Substanzen bei der Alzheimer-Demenz für unzureichend, und urteilt: „Eine Behandlung wird nicht empfohlen.“

Unterdessen wird Piracetam von UCB außer unter dem Markennamen Nootrop™ auch als Nootropil®, Noostan™ und Nootropyl™ verkauft, und ist in mehr als 100 Ländern zugelassen. Allerdings wird dieser Wirkstoff auch illegal – das heißt ohne ärztliches Rezept – von gesunden Menschen eingenommen, die sich davon eine höhere Hirnleistung versprechen. Über dieses „Hirn-Doping“ habe ich seitdem mehrfach geschrieben und bin noch immer der Meinung, dass eine Tasse Kaffee mindestens ebenso gut wirkt, besser schmeckt, und keine Nebenwirkungen hat.

Nervenzellen vermehrt

Forschern der amerikanischen John-Hopkins-Universität in Baltimore ist es gelungen, menschliche Nervenzellen (Neuronen) über einen Zeitraum von inzwischen bereits 19 Monaten in Kulturschalen am Leben zu erhalten. Die Zellen waren bei der Operation eines 18 Monate alten Mädchens gewonnen worden, das an einer Hirnkrankheit litt, der Megalenzephalie, bei der es zu fortlaufenden Teilungen unreifer Nervenzellen kommt.

Menschliche Nervenzellen überlebten in Kultur bisher nur kurze Zeiträume, was das Studium dieser Bausteine unseres Gehirns enorm erschwerte. Erstaunlicherweise gelang es den Forschern jetzt erstmals auch, die isolierten Neuronen zur Vermehrung anzuregen.

Beim Menschen sind alle Nervenzellen schon bei der Geburt vorhanden und teilen sich danach nie wieder. Eine Ausnahme bilden nur krebsartig entartete Neuronen, deren Untersuchung aber nur begrenzte Rückschlüsse auf die Funktion gesunder Nervenzellen zulässt. Die Arbeitsgruppe um Solomon Snyder beobachtete eine Verdoppelung ihrer Neuronen etwa alle drei Tage, wobei es gelang, diese Teilungszeit durch die Zugabe verschiedener biologischer Signalmoleküle zu beeinflussen.

Eine Reihe von Eiweißen, die nur in Nervenzellen vorkommen, konnten von den Forschern nachgewiesen werden. Außerdem entdeckten die Wissenschaftler in ihrer Zelllinie gleich fünf Botenstoffe (Neurotransmitter), die für die Weiterleitung von Nervenimpulsen zwischen einzelnen Zellen verantwortlich sind. Von dieser Zelllinie versprechen sich die Forscher in Zukunft neue Einblicke in die Arbeitsweise der Neuronen aus dem menschlichen Zentralnervensystem.

(erschienen in der WELT am 19. Mai 1990. Letzte Aktualisierung 8. März 2017)

Originalliteratur: Ronnett GV, Hester LD, Nye JS, Connors K, Snyder SH. Human cortical neuronal cell line: establishment from a patient with unilateral megalencephaly. Science. 1990 May 4;248(4955):603-5

Was ist daraus geworden? Solomon Snyder war schon damals kein Unbekannter, inzwischen wurde er mit Preisen überhäuft und zählt zu den Berühmtheiten seines Faches. Die beschriebene Arbeit wurde mindestens 140 Mal in den Veröffentlichungen anderer Forscher zitiert, und laut Google Scholar bringt Snyder es mit seinem Gesamtwerk mittlerweile auf mehr als 200000 Zitierungen (!) Einen Großteil unseres Wissens in den Neurowissenschaften verdanken wir Untersuchungen von Zellkulturen, auch wenn diese natürlich nicht alle Fragen beantworten können. Richtig zu stellen wäre noch mein Satz „Beim Menschen sind alle Nervenzellen schon bei der Geburt vorhanden und teilen sich danach nie wieder.“ Der fand sich damals so in jedem Lehrbuch, gilt aber heute nicht mehr.

Alzheimer doppelt so häufig wie gedacht

Die Alzheimersche Krankheit (AK) scheint viel weiter verbreitet zu sein, als bisher angenommen wurde. Dies ergab eine Studie amerikanischer Wissenschaftler von der Harvard Medical School, bei der 3623 ältere Einwohner Bostons untersucht wurden. Die AK ist eine geistige Zerfallserscheinung, die vor allem ältere Menschen befällt. Diese Krankheit ist nur schwer zu diagnostizieren, da es immer noch kein perfektes Testverfahren gibt, mit dem sich die AK von anderen Krankheiten des Alters unterscheiden ließe. Die Wissenschaftler überprüften daher eine Vielzahl von neurologischen Funktionen und führten mehrere Erkennungstests durch. Unter anderem wurden die Konzentrationsfähigkeit und das Kurzzeitgedächtnis der Probanden untersucht. Den Ergebnissen der Forscher zufolge war jeder zehnte über 65 Jahren von der AK befallen, von den über 85jährigen war es sogar fast jeder zweite. Diese Zahlen liegen etwa um das Doppelte über bisherigen Schätzungen der Häufigkeit dieser Krankheit.

(erschienen in der WELT vom 2. Dezember 1989)

Quelle: Evans DA, Funkenstein HH, Albert MS, Scherr PA, Cook NR, Chown MJ, Hebert LE, Hennekens CH, Taylor JO. Prevalence of Alzheimer’s disease in a community population of older persons. Higher than previously reported. JAMA. 1989 Nov 10;262(18):2551-6.

„Cosmic Space“ und „Ecstacy“ – Bunte Pillen, die töten können

Auch die Rauschgiftmafia bereitet sich auf den europäischen Binnenmarkt von 1993 vor. Die Dealer sind beim Kampf um Marktanteile nicht zimperlich. Neue synthetische Drogen und Mixturen sind aufgetaucht, die wie Heroin und Kokain mit brutalen Methoden verbreitet werden. Obwohl 1988 mehr Rauschgift beschlagnahmt wurde als je zuvor, steigt die Zahl der Todesopfer weiter an. Über neue Trends am Drogenmarkt berichteten jetzt Experten aus verschiedenen Fachgebieten auf einer Pressekonferenz in Frankfurt.

Noch nie wurde in der Bundesrepublik so viel Rauschgift beschlagnahmt wie im letzten Jahr. Über 1000 Kilogramm der „harten“ Drogen (vor allem Kokain und Heroin) stellten die Behörden sicher, dazu mehr als elf Tonnen Cannabis. Trotz dieser Erfolge der Fahnder ist der Marktpreis gerade für die besonders gefährlichen Suchtstoffe Kokain und Heroin gegenüber 1987 um fast die Hälfte gesunken – ein klares Zeichen dafür, dass den Süchtigen mehr „Stoff“ zur Verfügung steht als je zuvor.

Ecstasy - Wikipedia

Beschlagnahmte Ecstasy-Pillen (Quelle: Wikipedia)

Über neue Trends beim Drogenkonsum unterrichteten Fachleute kürzlich auf einer Pressekonferenz am Frankfurter Flughafen. Während die Bereitschaft von Jugendlichen, illegale Drogen einzunehmen, leicht abnimmt, weisen alle Indikatoren zum Drogengebrauch bei gefährdeten Personen nach oben, wie Dr. Walter Kindermann von der Frankfurter Projektgruppe Rauschmittelfragen betonte. Traurige Bilanz für das erste Halbjahr 1989: Mit fast 500 Drogentoten steht zu erwarten, dass die bisherige Höchstzahl an Suchtopfern aus dem letzten Jahr (673 für ganz 1988) nochmals übertroffen wird.

Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble sieht in dieser bedrohlichen Entwicklung die Auswirkungen des Angebotsdrucks der internationalen Rauschgifthändler-Organisationen auf den gesamten europäischen Markt. „Die Überschwemmung des europäischen Marktes infolge des Preisverfalls in den USA hat zu einer hohen Verfügbarkeit von Rauschgiften mit außerordentlichem Reinheitsgrad bei niedrigen Preisen geführt. Dadurch wurde nicht nur die hohe Todesrate bei den Abhängigen mitverursacht, sondern auch die Nachfrage gefährlich belebt.“

In der Frankfurter Drogenberatung beschäftigt man sich vorwiegend mit denjenigen Abhängigen, deren „Leit“-Droge Heroin ist. Der gleichzeitige Missbrauch verschiedener Psychopharmaka führt bei diesem Personenkreis zu „Mischintoxikationen“, die zu einer desolaten Verfassung der Süchtigen beitragen, erklärte Kindermann. Dazu kommen dann bei vielen Infektionen mit dem Immunschwäche-Virus (HIV), Beschaffungskriminalität und Obdachlosigkeit. Eine zu geringe Zahl an Therapieplätzen führt bei Ausstiegswilligen zu mehrmonatigen Wartezeiten. Auch fehlen ärztlich und psychosozial betreute Entzugsplätze speziell im Raum Frankfurt.

Durch den europaweiten Abbau der Grenzkontrollen wird die Situation sich weiter verschlimmern.  Den internationalen Drogensyndikaten öffnen sich neue Märkte. Schon jetzt versuchen die Dealer mit neuen Angeboten und Kombinationen verschiedener Drogen die kaufkräftigen Europäer in Abhängigkeit zu bringen. Über 1000 Drogenmillionäre sind nicht zimperlich, wenn es darum geht, sich einen Marktanteil zu sichern. Die Verbreitung der Rauschgifte ist dabei nicht nur raffinierter, sondern auch brutaler geworden.

Günter Speckmann, Zolloberamtsrat i. R. verfolgt die Hamburger Drogenszene schon seit über 20 Jahren. Er berichtete von den Praktiken der Dealer, die auch mit neuen synthetischen Drogen handeln. Diese tragen so exotische Namen wie „Ecstasy“, „Cadillac“ oder „Cosmic-space“. Schon eine einzige der bunten Pillen kann tödlich sein, da beim Zusammenmischen dieser „Designer-drugs“ oft Kombinationen mit fataler Wirkung entstehen.

Auch Cannabis-Zigaretten, die in Thailand fabrikmäßig hergestellt werden und äußerlich von  handelsüblichen Zigaretten kaum zu unterscheiden sind, sind auf dem Vormarsch. Aus Hongkong  kommen Wegwerffeuerzeuge, die im unteren Drittel mit einem starken Betäubungsmittel gefüllt sind. Diese Ware wird mit einer Spritze entnommen und ist als Ersatzstoff für Heroin sehr begehrt. Die synthetische Droge LSD („Speed“) wurde bis vor kurzem noch auf Löschpapier aufgetropft. Beim Kauen wird das LSD wieder aus dem Papier gelöst. Jetzt ist das Speed in Form von Gelatineplättchen auf dem Markt aufgetaucht, die auf der Zunge zergehen.

Besonders gefährlich sind die „Mini-hits“ genannten Heroinportionen, die beim Haschisch-Kauf von Dealern kostenlos mit angeboten werden. Das Heroin wird dann beim Drehen eines Joints zugemischt – meist ohne dass die Betroffenen wissen, was sie da eigentlich rauchen. Einige wenige dieser „Super-joints“ führen bereits zur totalen Heroinabhängigkeit.

Erwartungen, dass die Angst, sich beim Fixen mit dem Aids-Virus zu infizieren, zu einem Absatzrückgang beim Heroin führen könnte, haben sich zerschlagen. Die einzige Konsequenz der Fixer: Heroin wird jetzt wieder vermehrt geraucht statt gespritzt. Dieses Verhalten findet seinen Niederschlag in dem hierzulande vergleichsweise niedrigen Prozentsatz an HIV-infizierten Süchtigen: Bei 13 bis 14 Prozent der Drogentoten konnte das Aids-Virus im Blut nachgewiesen werden. Dagegen sind mehr als die Hälfte der 200000 Fixer in New York City von dem Erreger befallen.

Die Aufmerksamkeit der Experten erstreckt sich aber nicht nur auf die illegale Drogenszene. Dies machte der Rechtsmediziner Professor Joachim Gerchow mit einem Hinweis auf den gesellschaftlich tolerierten Drogenkonsum klar. Das legale Suchtmittel Alkohol fordere alleine in Bundesrepublik etwa 30 000 Menschenleben jährlich. Kindermann sprach in diesem Zusammenhang sogar von einer „Drei-Klassen-Suchtgesellschaft“. Neben den illegalen Drogen, die im Brennpunkt des Medieninteresses stehen, warnte er vor der zunehmenden Medikamentenabhängigkeit („Sucht auf Rezept“) und der „billigen Sucht im Supermarkt“, die es auch Kindern leicht mache, an Alkohol oder Zigaretten heranzukommen.

(erschienen in der WELT am 14. Juli 1989)

59-info@2xWas ist daraus geworden? Tatsächlich ging die Zahl der Drogentoten in 1989 auf mehr als 1000 steil nach oben. Im Jahr 2000 waren es dann sogar doppelt so viele (2030). Seitdem ist die Zahl der Todesopfer durch harte Drogen wieder gesunken – im letzten Berichtsjahr 2014 waren es 1032, wie diese Grafik zeigt.

Alzheimer – Das Bild rundet sich immer mehr ab

Weltweit arbeiten sich Wissenschaftler immer näher an die Ursache der Alzheimer´schen Krankheit (AK) heran. Nach vorsichtigen Schätzungen leiden alleine in der Bundesrepublik rund 600000 Menschen unter dieser Form des frühzeitigen geistigen und körperlichen Zerfalls. Noch weit vor Aids ist die Krankheit, die meist erst bei Menschen in höherem Alter auftritt, die vierthäufigste Todesursache in den westlichen Industrieländern.

Die Untersuchung der Gehirne Verstorbener ergibt immer wieder das gleiche Bild: Im Inneren der Nervenzellen finden sich Bündel von Proteinfasern (Fibrillen) und in den Zellzwischenräumen sind sogenannte senile Plaques zu sehen. Den Kern dieser unlöslichen Ablagerungen bildet ein Eiweißstoff, der inzwischen als ß-Amyloid bezeichnet wird. Umhüllt wird dieser Kern von abgestorbenen Stützzellen des Nervengewebes und von degenerierten Nervenendigungen. Bis zu 6000 dieser Plaques finden sich in befallenen Hirnregionen auf nur einem Quadratmillimeter.

Alzheimer-Fibrillen unter dem Mikroskop - Wikipedia

Alzheimer-Fibrillen aus dem Hippocampus unter dem Mikroskop (Foto: Patho via Wikimedia Commons [CC BY-SA 3.0])

Schon lange bemühen sich Forscher in den USA, in Australien und in Europa darum, die Rolle des ß-Amyloids bei der Entstehung der Krankheit zu entschlüsseln. Der Arbeitsgruppe um Professor Konrad Beyreuther vom Zentrum für Molekulare Biologie in Heidelberg (ZMBH) gelang es vor einigen Jahren, das ß-Amyloid aus den Plaques herauszulösen. Der Weg war damit frei, um sich mit gentechnischen Methoden auf die Suche nach jenem Abschnitt des menschlichen Erbgutes zu machen, der die  Bauanleitung für diesen Eiweißstoff enthält.

Dabei ergab sich Überraschendes: Das ß-Amyloid ist nur ein verhältnismäßig kleines Bruchstück eines viel größeren Vorläufermoleküls. Vieles spricht dafür, dass diesem Vorläufer eine wichtige Funktion im Gehirn zukommt. Man weiß jetzt, dass es in die Hülle (Membran) der Nervenzellen eingebettet ist. Besonders häufig ist es in den Synapsen zu finden jenen Schaltstellen, an denen elektrische Impulse von einer Zelle an die nächste übertragen werden. Dort könnte das Amyloidprotein, so wird zur Zeit vermutet, von außen kommende Signale in das Zellinnere weiterleiten oder bei der Verständigung der Zellen untereinander eine Rolle spielen.

Mit der Isolierung des Gens machte man eine interessante Entdeckung: Die Erbanlagen für den  Vorläufer des ß-Amyloids finden sich auf Chromosom 21. Genau dieses Chromosom aber ist bei der recht weit verbreiteten Erbkrankheit des Down-Syndroms („Mongolismus“) dreimal vorhanden und nicht in nur zwei Kopien, wie bei gesunden Körperzellen. Bei Patienten mit Down-Syndrom treten ähnliche Erscheinungen wie bei der AK auf, allerdings bereits im Alter von 35 bis 40 Jahren: Im Gehirngewebe mongoloider Patienten finden sich auch die amyloiden Ablagerungen. So glaubte man zunächst, die Krankheit auf überzählige Kopien des Gens zurückführen zu können.

Dies erwies sich aber als verfrühte Hoffnung. Offensichtlich ist das Gen für den Vorläufer der ß-Amyloids bei den allermeisten AK-Patienten genau so häufig vorhanden wie bei Gesunden. Die Suche ging daher weiter und richtete sich jetzt vor allem auf die Frage, ob irgendwelche anderen Stoffe in der Zelle das Amyloid-Gen beeinflussen könnten.

Als Prof. Beyreuther die dem Gen übergeordneten Kontrollregionen auf der DNA näher untersuchte, fand er Bindungsstellen für mindestens sieben verschiedene Botenstoffe. Unter anderem können an dieser „regulatorischen Region“ Hormone, Onkoproteine – sie spielen bei der Krebsentstehung eine Rolle – und Hitzeschockproteine andocken. Letztere werden beim Menschen durch Stress, falsche Ernährung und Durchblutungsstörungen aktiviert.

Ein Wechselspiel zwischen diesen und anderen Faktoren bestimmt dann offenbar, wieviel von dem Amyloid produziert wird. Beyreuther hofft, dass man in naher Zukunft lernt, diese Botenstoffe mit geeigneten Medikamenten zu beeinflussen. Dann könnte man die Produktion des Amyloidproteins drosseln.

Ist ein Übermaß an Amyloid aber schon genug um die Entwicklung der AK in Gang zu setzen?  Gentechnisch veränderte Mäuse sollen helfen, diese Frage zu klären. Im Reagenzglas vertauschten die Forscher die regulatorische Region des Amyloid-Gens mit einem fremden Stück Erbgut. So wurde ein Schalter konstruiert, den – man nach Belieben „An“ und „Aus“ stellen konnte;. Die Bauanleitung für das Amyloidprotein wurde dann in Mäuse übertragen. Durch Nahrungszusätze konnten die Wissenschaftler jetzt den Befehl zur vermehrten Produktion des Eiweißstoffes geben.

Ergebnis: Selbst wenn diese „transgenen“ Mäuse künstlich angeregt werden, fünf bis zehn Mal soviel Vorläufer des ß-Amyloids herzustellen wie ihre unveränderten Artgenossen, zeigt sich kein Effekt. Von Plaques und anderen Veränderungen des Gehirns, wie sie für die AK typisch sind, war nichts zu sehen. Für Konrad Beyreuthers Arbeitsgruppe war das ein ganz klarer Hinweis darauf, dass schon ein „Primärschaden“ vorliegen muss: Ein Übermaß an Amyloidprotein alleine kann die Krankheit nicht auslösen, wenn das Gehirn nicht vorher schon geschädigt wurde.

Neue Forschungsmöglichkeiten eröffnet eine Entwicklung, über die Sarah-Jane Richards und ihre Kollegen (Universität Cambridge) im vergangenen Monat auf einer Konferenz in Seattle berichteten. Ihnen gelang es erstmals, ein Tiermodell für die Alzheimer´sche Krankheit zu schaffen. Die Forscher transplantierten das Nervengewebe embryonaler Mäuse, die vom Down-Syndrom betroffen waren, in das Gehirn von gesunden (erwachsenen) Artgenossen. Nach mehreren Monaten konnte man bei den Empfängermäusen die senilen Plaques und Neurofibrillenbündel finden, die für Down Syndrom und AK charakteristisch sind.

Die Ablagerungen waren nicht nur im transplantierten Gewebe selbst, sondern auch in den direkt angrenzenden Hirnregionen der Tiere zu sehen. Alles deutet darauf hin, das mit dem Transplantat auch der gesuchte „Primärschaden“ übertragen wurde, den es nun in weiteren Experimenten einzugrenzen gilt.

Neben der spontan auftretenden Form der AK gibt es auch eine erbliche Form, die beim Menschen als „familiäre Alzheimer´sche Krankheit“ (fAK) bekannt ist und etwa ein Zehntel aller AK-Fälle ausmacht. Das Gen, das für diese Form verantwortlich ist, liegt in der Nähe des Amyloid-Gens und bewirkt, dass die Betroffenen wesentlich früher erkranken als bei der spontanen Form. Wenn es den Forschern gelingen würde, auch dieses Gen noch aus der Riesenmenge anderer Erbanlagen herauszufischen, könnte man weitere Hinweise gewinnen, welche Vorgänge der Ablagerung von ß-Amyloid vorangehen.

„Das Bild rundet sich immer mehr ab, es wird spannend“ fasst Beyreuther die jüngsten Fortschritte  auf diesem Gebiet zusammen. Allzu hohe Erwartungen will er jedoch nicht aufkommen lassen. „Wir wissen, wo wir hingehen müssen, aber das Problem ist nicht in einem halben Jahr zu lösen.“ Dreißig Jahre etwa dauert es, bis die AK zur fatalen Hirnschrumpfung fortgeschritten ist. Es wäre daher bereits ein Erfolg der Forschung, wenn es gelingt, den Krankheitsprozess zu verlangsamen. Die AK zu heilen, wird dagegen erst ein sekundäres Ziel sein.

(erschienen in der WELT am 1. Juli 1989)

Spielsucht: Die Groschengräber in der Daddelhalle

Im Odeon Spielcenter ist es 15 Minuten vor Schluss. Die Flipper und Videospiele sind verlassen, im spärlich beleuchteten Raum drängen sich zwei Dutzend Männer vor leuchtenden Kästen die einfache Melodien summen. Buntbemalte Rädchen drehen sich unaufhörlich, Karten zappeln hinter Glas, tausende von Lämpchen blinken im hektischen Rhythmus. Manchmal klimpern Münzen.

Nur wenige Frauen sind hier zu sehen. Sie haben ihre Freunde begleitet – widerwillig, wie man an ihren Gesichtern ablesen kann. Die Männer – Teenager zum Teil, andere schon im Rentenalter – spielen an Münzautomaten. Fast alle Geräte sind in Betrieb, manche Kunden spielen an zwei, drei oder vier Maschinen gleichzeitig. Cool sitzen sie vor „ihrem“ Kasten, scheinbar überlegt verfolgen sie die Digitalanzeigen: Anzahl der Spiele, Sonderspiele, Einsatz, Gewinn. Andere hämmern hektisch auf die verschiedenen Tasten: Start, Stopp und Risiko, immer wieder Risiko. „Das Gerät zahlt im Durchschnitt mindestens die gesetzlich vorgeschriebenen 60% der Einsätze aus“, so steht es auf jedem einzelnen Münzspielautomaten zu lesen. Ein schwacher Trost für die überwiegende Mehrzahl der Spieler, die auch heute keine „goldene Serie“ gehabt haben. „Raus jetzt, morgen ist auch noch ein Tag“ sagt der Aufseher und die bunten Kästen lassen ein letztes Mal „Game Over“ aufblinken.

„Game Over“, das ist auch der Name eines Hilfsvereins für spielsüchtige Menschen in Mannheim. Zur Zeit hat die Gruppe ca. 25 Mitglieder, bis auf eine Ausnahme alle männlichen Geschlechts. Ein Münzspielautomat im Büro des Vereins macht stutzig, doch dies sei nur ein „Denkmal“ ohne Innenleben erklärt Dirk Naubereit, der hier mit einem weiteren Kollegen arbeitet. Dirk ist „nebenher“ Student, für seine Arbeit in der Selbsthilfegruppe bekommt er eine Aufwandsentschädigung von monatlich 300 Mark, Teil eines Zuschusses von 5000 Mark, die der Drogenverein Mannheim ebenso bereitstellt wie die Räumlichkeiten. Bereitwillig erzählt er von seiner Arbeit: In den letzten vier Wochen alleine habe er neun Erstgespräche mit süchtigen Spielern gehabt. „Wir bemerken, dass die Spieler immer jünger werden, ca. 50% sind schon einmal straffällig geworden.“ Diese Beschaffungskriminalität sei durchaus mit der von Drogenabhängigen zu vergleichen.

Die durchschnittlichen Spielschulden der Gruppenmitglieder liegen nach seinen Angaben zwischen 50000 und 70000 Mark, in einem Einzelfall wurde sogar ein Schuldenberg von 58000 Mark in nur neun Monaten aufgetürmt. Eine Motivationsgruppe soll den Willen stärken, dem Teufelskreis von Spielsucht, finanziellen und persönlichen Schwierigkeiten zu entrinnen. „Sich einzugestehen, dass man süchtig ist, abhängig ist, das ist der erste Schritt.“

Die Informationsgemeinschaft Münz-Spiel ist da ganz anderer Meinung: Von Sucht könne keine Rede sein bei der „vergleichsweise geringen Zahl von Menschen“ die mehr Geld ausgeben als sie sich leisten können. Diese Zahl wird von den Automatenbetreibern mit 20000 angegeben, andere Schätzungen gehen von mindestens 10-mal so vielen Fällen aus. Bei einem Gesamtumsatz von 1987 über 4 Milliarden Mark mit steigender Tendenz wehrt sich denn auch die Branche gegen „übereifrige Verbotsfanatiker“ und zaghaft erhobene Vorschläge zur Erhöhung der Vergnügungssteuer.

Bei „Game Over“ stößt man auf wenig Verständnis für diese Nöte. Einer Vergnügungssteuer von derzeit 60 Mark pro Gerät und Monat stehen die sechs-, bis achttausend Mark gegenüber, die im gleichen Zeitraum an einem günstigen Standort erzielt werden können.

Dirk erzählt, wie das früher war bei ihm: „Alle Freunde und Bekannte sind damals, als das Jugendzentrum geschlossen wurde, in die Spielhalle abgewandert.“ Wie so viele andere auch hatte er am Anfang gewonnen. Er wollte mehr, verbrachte bald acht bis vierzehn Stunden täglich vor den Spielautomaten. Irgendwann hat er doch noch die Kurve gekriegt. Dirk ist jetzt seit mehreren Jahren spielfrei. Seine Arbeit bei „Game Over“ hilft ihm, dass es auch so bleibt.

Andere sind nicht so glücklich: Ich bin wieder im Odeon Spielcenter. Multi-Multi, Formel 1, Roulette, Big Jack und die anderen Maschinen sind schon wieder bei der Arbeit. Unermüdlich schlucken sie die Groschen der Kundschaft. Es ist elf Uhr morgens, aber viele Gesichter kenne ich schon aus der Nacht zuvor. Den junge Mann, der das Sichtfenster zuhält, bevor er mit schnellen Bewegungen die Risiko-Taste drückt, zum Beispiel. Er träumt vom großen Geld – aber das machen die anderen.

Reportage als Teil einer (erfolglosen) Bewerbung bei der Henri-Nannen-Journalistenschule im Frühjahr 1989.