Im Odeon Spielcenter ist es 15 Minuten vor Schluss. Die Flipper und Videospiele sind verlassen, im spärlich beleuchteten Raum drängen sich zwei Dutzend Männer vor leuchtenden Kästen die einfache Melodien summen. Buntbemalte Rädchen drehen sich unaufhörlich, Karten zappeln hinter Glas, tausende von Lämpchen blinken im hektischen Rhythmus. Manchmal klimpern Münzen.

Nur wenige Frauen sind hier zu sehen. Sie haben ihre Freunde begleitet – widerwillig, wie man an ihren Gesichtern ablesen kann. Die Männer – Teenager zum Teil, andere schon im Rentenalter – spielen an Münzautomaten. Fast alle Geräte sind in Betrieb, manche Kunden spielen an zwei, drei oder vier Maschinen gleichzeitig. Cool sitzen sie vor „ihrem“ Kasten, scheinbar überlegt verfolgen sie die Digitalanzeigen: Anzahl der Spiele, Sonderspiele, Einsatz, Gewinn. Andere hämmern hektisch auf die verschiedenen Tasten: Start, Stopp und Risiko, immer wieder Risiko. „Das Gerät zahlt im Durchschnitt mindestens die gesetzlich vorgeschriebenen 60% der Einsätze aus“, so steht es auf jedem einzelnen Münzspielautomaten zu lesen. Ein schwacher Trost für die überwiegende Mehrzahl der Spieler, die auch heute keine „goldene Serie“ gehabt haben. „Raus jetzt, morgen ist auch noch ein Tag“ sagt der Aufseher und die bunten Kästen lassen ein letztes Mal „Game Over“ aufblinken.

„Game Over“, das ist auch der Name eines Hilfsvereins für spielsüchtige Menschen in Mannheim. Zur Zeit hat die Gruppe ca. 25 Mitglieder, bis auf eine Ausnahme alle männlichen Geschlechts. Ein Münzspielautomat im Büro des Vereins macht stutzig, doch dies sei nur ein „Denkmal“ ohne Innenleben erklärt Dirk Naubereit, der hier mit einem weiteren Kollegen arbeitet. Dirk ist „nebenher“ Student, für seine Arbeit in der Selbsthilfegruppe bekommt er eine Aufwandsentschädigung von monatlich 300 Mark, Teil eines Zuschusses von 5000 Mark, die der Drogenverein Mannheim ebenso bereitstellt wie die Räumlichkeiten. Bereitwillig erzählt er von seiner Arbeit: In den letzten vier Wochen alleine habe er neun Erstgespräche mit süchtigen Spielern gehabt. „Wir bemerken, dass die Spieler immer jünger werden, ca. 50% sind schon einmal straffällig geworden.“ Diese Beschaffungskriminalität sei durchaus mit der von Drogenabhängigen zu vergleichen.

Die durchschnittlichen Spielschulden der Gruppenmitglieder liegen nach seinen Angaben zwischen 50000 und 70000 Mark, in einem Einzelfall wurde sogar ein Schuldenberg von 58000 Mark in nur neun Monaten aufgetürmt. Eine Motivationsgruppe soll den Willen stärken, dem Teufelskreis von Spielsucht, finanziellen und persönlichen Schwierigkeiten zu entrinnen. „Sich einzugestehen, dass man süchtig ist, abhängig ist, das ist der erste Schritt.“

Die Informationsgemeinschaft Münz-Spiel ist da ganz anderer Meinung: Von Sucht könne keine Rede sein bei der „vergleichsweise geringen Zahl von Menschen“ die mehr Geld ausgeben als sie sich leisten können. Diese Zahl wird von den Automatenbetreibern mit 20000 angegeben, andere Schätzungen gehen von mindestens 10-mal so vielen Fällen aus. Bei einem Gesamtumsatz von 1987 über 4 Milliarden Mark mit steigender Tendenz wehrt sich denn auch die Branche gegen „übereifrige Verbotsfanatiker“ und zaghaft erhobene Vorschläge zur Erhöhung der Vergnügungssteuer.

Bei „Game Over“ stößt man auf wenig Verständnis für diese Nöte. Einer Vergnügungssteuer von derzeit 60 Mark pro Gerät und Monat stehen die sechs-, bis achttausend Mark gegenüber, die im gleichen Zeitraum an einem günstigen Standort erzielt werden können.

Dirk erzählt, wie das früher war bei ihm: „Alle Freunde und Bekannte sind damals, als das Jugendzentrum geschlossen wurde, in die Spielhalle abgewandert.“ Wie so viele andere auch hatte er am Anfang gewonnen. Er wollte mehr, verbrachte bald acht bis vierzehn Stunden täglich vor den Spielautomaten. Irgendwann hat er doch noch die Kurve gekriegt. Dirk ist jetzt seit mehreren Jahren spielfrei. Seine Arbeit bei „Game Over“ hilft ihm, dass es auch so bleibt.

Andere sind nicht so glücklich: Ich bin wieder im Odeon Spielcenter. Multi-Multi, Formel 1, Roulette, Big Jack und die anderen Maschinen sind schon wieder bei der Arbeit. Unermüdlich schlucken sie die Groschen der Kundschaft. Es ist elf Uhr morgens, aber viele Gesichter kenne ich schon aus der Nacht zuvor. Den junge Mann, der das Sichtfenster zuhält, bevor er mit schnellen Bewegungen die Risiko-Taste drückt, zum Beispiel. Er träumt vom großen Geld – aber das machen die anderen.

Reportage als Teil einer (erfolglosen) Bewerbung bei der Henri-Nannen-Journalistenschule im Frühjahr 1989.