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Multiple Sklerose früh behandeln

Nach der Diagnose sollten Patienten mit Multipler Sklerose (MS) möglichst schnell behandelt werden. Das fordert einer der renommiertesten Experten auf diesem Gebiet, Professor Ludwig Kappos, Chefarzt Neurologie am Universitätsspital in Basel. Er stützt sich dabei auf eine Studie, bei der Patienten mit unterschiedlichem Behandlungsbeginn über elf Jahre hinweg verfolgt und auf ihren Gesundheitszustand hin überprüft wurden.

„Unsere Studie bestärkt uns darin, Betroffenen bereits beim ersten Auftreten von hochverdächtigen MS-Symptomen dringend eine vorbeugende Therapie zu empfehlen. Ein früher Behandlungsbeginn hat gegenüber einer verzögerten Therapieeinleitung nachweisbare Vorteile, weil damit der Ausbruch von MS verzögert oder sogar verhindert werden kann“,

sagte Kappos in einer Pressemitteilung. Im Hintergrund der Studie stehen auch Meinungsverschiedenheiten zwischen den Neurologen angesichts sehr unterschiedlicher Verlaufsformen der Krankheit. Bei manchen Patienten schreiten die Behinderungen wie Schwäche, Koordinations- und Sprachstörungen nur langsam fort. Meist entwickelt sich die Krankheit auch in Schüben. Beschwerden wie Taubheit, eingeschränktes Sehvermögen, Kraftminderung oder Gleichgewichtsstörungen tauchen plötzlich auf und vergehen wieder, manchmal sogar ohne Behandlung. Dies hatte in der Vergangenheit einige Experten dazu bewogen, bei der Gabe von Medikamenten Zurückhaltung zu fordern. Immerhin können Beta-Interferone, die als Standard-Arzneien gegen die MS gelten, auch Nebenwirkungen wie Schwäche und Müdigkeit hervorrufen, die die Lebensqualität der Patienten beeinträchtigen.

Die Einschätzung des Behandlungserfolgs ist auch deshalb schwierig, weil nach den Krankheitsschüben im Gehirn offenbar ein Reparaturprozess statt findet, der die Schäden zumindest teilweise kompensiert. Angesichts eines in der Regel jahrzehntelangen Krankheitsverlaufs konnten die bisherigen Studien mit ihren wenigen Jahren Laufzeit Kosten und Nutzen einer möglichst frühen Behandlung daher nicht zuverlässig beurteilen, sagen die Forscher um Kappos. Hier schafft die neue Untersuchung nun Klarheit, deren Ergebnisse ich wie folgt zusammenfassen und übersetzen möchte:

Teilgenommen haben 468 Personen mit ersten verdächtigen MS-Symptomen, die aber noch nicht ausreichten, um eine sichere Diagnose zu stellen. Immerhin konnten andere Ursachen ausgeschlossen werden und Magnetresonanzaufnahmen des Gehirns hatten mindestens zwei asymptomatische „Herde“ nachgewiesen – also Regionen mit MS-typischen Veränderungen.

Die Teilnehmer erhielten dann nach dem Zufallsprinzip innerhalb von maximal 60 Tagen ab Beginn der Symptome entweder das Medikament Interferon β-1b oder ein Scheinmedikament. Nach spätestens zwei Jahren oder früher, wenn bei den Betreffenden nach einem zweiten Schub MS diagnostiziert wurde, konnte die Placebo-Gruppe ebenfalls auf die Einnahme von Interferon β-1b oder eines vergleichbaren Medikaments umsteigen.

Elf Jahre nach dem Beginn der Studie konnten die Forscher die Daten von fast 300 Patienten auswerten. Es  zeigte sich, dass jene mit früher Therapie eine um 33 Prozent niedrigere Wahrscheinlichkeit hatten, definitiv an MS zu erkranken als jene, die erst später behandelt wurden. Außerdem verstrich bei der frühen Gruppe deutlich mehr Zeit bis zum ersten Rückfall der Krankheit, nämlich 1888 Tage im Vergleich zu 931 Tagen bei der späteren Gruppe. Schließlich war auch die Häufigkeit von Krankheitsschüben in der frühen Gruppe um 19 Prozent geringer gewesen. Diese Unterschiede spiegelten sich allerdings nicht beim Vergleich der Behinderung. „Insgesamt hatten beide Gruppen nach elf Jahren nur wenig dauerhafte Beeinträchtigungen“, teilen die Forscher mit. Die durchschnittliche Verschlechterung auf der zehnstufigen Behinderungsskala EDSS hatte jeweils nur 0,5 Punkte betragen, und nur rund acht Prozent der Teilnehmenden waren nach elf Jahren vorzeitig berentet.

Originalartikel:

Kappos L, Edan G, Freedman MS, et al. The 11-year long-term follow-up study from the randomized BENEFIT CIS trial. Neurology. 2016;87:1-10.  (noch kein Link verfügbar)

(veröffentlicht auf hinstimulator.de am 11. August 2016)

Gute Laune aus dem Handy

Man mag den Kopf schütteln über den aktuellen Hype um das Handy-Spiel Pokémon Go, aber lassen Sie es uns positiv sehen: Beim Fangen der virtuellen Viecher kommen die Spieler wenigstens in Freie und lernen ihre Umgebung kennen. Das scheint mir allemal besser als Extreme-Couching, Koma-Saufen und andere angesagte Freizeitaktivitäten.

Nun haben Psychologen der Universität Basel zusammen mit Kollegen aus Korea, den USA und Deutschland eine weitere nützliche Anwendung für Smartphones entdeckt: In einer Studie mit 27 gesunden jungen Männern übertrugen sie Übungen aus der Psychotherapie auf die Geräte, und verbesserten damit deutlich die Stimmung der Teilnehmer über die zweiwöchige Übungsphase hinweg.

In einer Pressemitteilung berichten die Forscher um PD Dr. Marion Tegethoff:

Die Probanden hatten die Wahl zwischen verschiedenen bewährten und neueren psychotherapeutischen Übungsbausteinen, sogenannten Mikro-Interventionen. So riefen sich manche der Teilnehmer während der Übungsphase emotionale Erlebnisse in Erinnerung, während andere Probanden kurze Sätze oder Zahlenfolgen kontemplativ wiederholten oder mit ihrer Gesichtsmimik spielten. Ihre Stimmungslage erfassten die Probanden auf ihrem Smartphone, indem sie jeweils vor und nach der Übung kurze Fragen durch Ankreuzen auf einer sechsstufigen Skala beantworteten. Wem es gelang, seine Stimmung durch die kurzen Übungseinheiten unmittelbar zu verbessern, profitierte auch längerfristig: Die Stimmung stieg insgesamt über die zweiwöchige Studienphase an.

Aus ihrer Mini-Studie ziehen die Forscher die Bilanz, dass smartphone-gestützte Mikro-Interventionen psychotherapeutische Angebote unter Umständen sinnvoll ergänzen könnten. „Die Befunde belegen die Nutzbarkeit smartphonebasierter Mikro-Interventionen zur Verbesserung der Stimmung in konkreten Alltagssituationen“, so Tegethoff. Um die Befunde zu erhärten, seien aber weitere Untersuchungen notwendig.

In ihrer Arbeit sieht die Psychologin auch einen Beitrag zur personalisierten Medizin, weil damit jederzeit und an jedem Ort ein Hilfsangebot verfügbar werde. Wer mag, kann sich auf der Webseite der Fachzeitschrift „Frontiers in Psychology“ selbst einen Eindruck von den Übungen verschaffen. Dort können fünf (englischsprachige) Videos betrachtet und somit auch für eigene Entspannungsübungen genutzt werden ( -> Video 1,  Video 2, Video 3, Video 4, Video 5).

Die Videos stehen allen Interessierten frei zur Verfügung, sodass sie auch für zukünftige Studien genutzt werden können, betonen die Forscher. Gleichzeitig warnen sie aber davor, dass diese Videos bei Menschen mit Depressionen oder einer anderen psychischen Erkrankung keine Behandlung durch eine Fachperson ersetzen können!

Quelle: Gunther Meinlschmidt, Jong-Hwan Lee, Esther Stalujanis, Angelo Belardi, Minkyung Oh, Eun Kyung Jung, Hyun-Chul Kim, Janine Alfano, Seung-Schik Yoo und Marion Tegethoff: Smartphone-based psychotherapeutic micro-interventions to improve mood in a real-world setting. Frontiers in Psychology (2016)

Neue Rezepte gegen die Fallsucht

Es kann jedem passieren, zu jedem Zeitpunkt und an jedem Ort: Eine vorübergehende Geistesabwesenheit oder mitten im Satz das völlige Unvermögen, die eben noch präsenten Worte zu formulieren, zählen zu den vergleichsweise harmlosen Varianten epileptischer Anfälle.

Für Unbeteiligte oftmals erschreckend sind dagegen die von Medizinern als „Grand mal“ (französisch: Großes Übel) beschriebenen Erscheinungsformen: Wie ein Blitz aus heiterem Himmel kommt es etwa zu einem plötzlichen Verkrampfen der Muskulatur – manchmal noch ein Schrei und die Betroffenen stürzen wie ein gefällter Baum zu Boden. Unfähig zu atmen bleiben sie mehrere Sekunden liegen, bis dann rhythmische Muskelzuckungen einsetzen, die zwei bis drei Minuten anhalten können. Rötlicher Schaum vor dem Mund, verstärkt noch das Entsetzen der Umstehenden, dabei hat sich der jetzt scheinbar tief schlafende Mensch während des Muskelkrampfes doch „nur“ auf die Zunge gebissen. Wenn dieser endlich erwacht, kann er sich an nichts mehr erinnern. Um sich herum lauter verstörte Gesichter, hat er selbst oftmals Schwierigkeiten, das Geschehene zu begreifen.

Nicht selten wird auch sofort der Notarzt verständigt, was laut dem früheren Vorsitzenden des Kuratoriums Epilepsie, Jürgen Peiffer, „zwar verständlich, aber unnötig“ ist. Wichtig sei es vor allem, den „krampfenden“ Menschen vor Verletzungen durch die unkontrollierten Bewegungen zu schützen rät der ehemalige Direktor des Instituts für Hirnforschung an der Universität Tübingen. Peiffer wird nicht müde, immer wieder darauf hinzuweisen, daß keiner vor solch einem Mißgeschick gefeit ist.

„Jedes menschliche Gehirn kann unter bestimmten Umständen mit einem epileptischen Anfall reagieren“, unterstreicht auch Peter Berlit von der Neurologischen Klinik am Essener Alfried Krupp Krankenhaus. Auf einem Journalistenseminar der Firma Wellcome, das kürzlich in München stattfand, hob Berlit hervor, daß etwa jeder Zwanzigste damit rechnen muß, einmal in seinem Leben einen mehr oder weniger stark ausgeprägten „Gelegenheitsanfall“ zu bekommen. Auslöser können so unterschiedliche Faktoren sein wie Schlafentzug, Sauerstoffmangel, Alkohol oder DrogenG, das Flimmern eines Fernsehapparates oder die rhythmischen Lichtblitze in einer Diskothek.

Von einer Epilepsie sprechen die Experten zwar erst dann, wenn die Anfälle sich wiederholen, dennoch geht man für die Bundesrepublik von 800000 Kranken aus – etwa ebenso viele, wie es Zuckerkranke gibt. Unter ihnen muß ein Drittel damit rechnen, mehr als einen Anfall pro Monat zu erleiden. Ein weiteres Drittel ist zwischen einem und zwölf Mal jährlich betroffen, das letzte Drittel seltener. Zwischen den Anfällen sind die Patienten geistig meist völlig störungsfrei und ohne sorgfältige Diagnose von gesunden Menschen nicht zu unterscheiden.

Trotz ihrer weiten Verbreitung wird die manchmal als „heimlich-unheimliche Krankheit“ titulierte Epilepsie in der Öffentlichkeit kaum zur Kenntnis genommen. Noch immer hält jeder vierte Deutsche die Epilepsie für eine Geisteskrankheit, fast ein Drittel gab in einer Umfrage sogar an, ihr Kind dürfe keinen Epilepsiekranken heiraten. Gerade Schulkinder haben unter solchen Einstellungen sehr zu leiden, wie Gerda Hefner, Psychiaterin an der Bonner Epileptologischen Klinik, zu berichten weiß. Sie sind dem Spott der Mitschüler ausgesetzt, wenn nach einem Anfall etwa eine Pfütze unter dem Stuhl zurückbleibt, als sichtbarer Beweis dafür, daß sie das Wasser nicht haben halten können.

Auch die gutgemeinten Bemühungen der Eltern oder Lebenspartner können Anfallskranken zu schaffen machen. Die übertriebene Fürsorge der Familie und die daraus erwachsende Abhängigkeit hinterläßt zwangsläufig ihre Spuren, auch wenn die Epilepsie im Laufe der Jahre kuriert werden kann. „Natürlich haben diese Menschen ein erhöhtes Risiko, aber man darf sie auch nicht zu sehr unter die Käseglocke setzen“, rät Gerda Hefner.

Zur sozialen Ausgrenzung, die in der Bundesrepublik laut Professor Heinz-Joachim Meenke viel stärker ausgeprägt ist, als in den Vereinigten Staaten oder den europäischen Nachbarländern, kommen noch eine Reihe handfester Nachteile hinzu. Meenke, der sich am Berliner Rudolf Virchow Klinikum immer wieder mit den psychosozialen Folgen der Krankheit auseinandersetzten muß, trifft häufig auf besorgte Patienten, die ihr Leiden aus Angst vor Entlassung gegenüber ihrem Arbeitgeber und den Kollegen verschweigen.

Schwierigkeiten gibt es auch beim Abschluß privater Lebens-, Kranken- und Unfallversicherungen, denn die früher auch als „Fallsucht“ bezeichnete Krankheit erhöht das Risiko tödlicher Unfälle beträchtlich. Meist tritt eine Ausschlußklausel in Kraft, die alle Folgen der Epilepsie vom Versicherungsschutz ausnimmt, oder es werden erheblich höhere Prämien verlangt. Eine erhöhte Selbstmordrate unter Epileptikern kann als trauriger Beweis dafür gelten, daß ein Leben in ständiger Angst und die oft ablehnende Reaktion der Mitmenschen für viele zur unerträglichen Belastung wird.

Weniger dramatisch scheint dagegen das für alle Epileptiker geltende generelle Fahrverbot, doch wird auch diese Vorsichtsmaßnahme von vielen als beträchtliche Einschränkung der persönlichen Freiheit empfunden. Den Führerschein dürfen die Betroffenen erst wieder beantragen, wenn sie mindestens zwei Jahre anfallsfrei waren. Während der Sinn dieser Regelung von Ärzten und Patienten kaum in Frage gestellt wird, traf ein anderes Handicap auf weniger Verständnis: „Bis vor kurzem war die Verbeamtung von Anfallskranken grundsätzlich nicht möglich“, erläutert Meenke.

Die Krankheit mag unheimlich sein – unheilbar ist sie nicht. Gerade in den letzten Jahren wurde das Arsenal an Medikamenten, die gegen die zahlreichen Formen der Epilepsie zum Einsatz kommen, beträchtlich erweitert. Vigabatrin und Lamotrigin, Clobazam und Gabapentin, Oxacarbazepin, Felbamat und Topiramat heißen die Präparate, die in jüngster Zeit neu auf Markt kamen oder kurz vor der Zulassung stehen.

Den raschen Fortschritten in der Hirnforschung ist es größtenteils zu verdanken, daß derzeit rund 100 weitere Arzneimittelkandidaten in amerikanischen und europäischen Labors getestet werden. „Insgesamt eine Verbesserung der Therapie“ erwartet daher Christian E. Elger, Direktor der Klinik für Epileptologie der Universität Bonn, für die nähere Zukunft. „Der große Durchbruch aber wird ausbleiben“, sagte Elger gegenüber der Ärztezeitung.

Trotz der vergleichsweise großen Zahl von Arzneimitteln gelingt es derzeit nur in etwas mehr als der Hälfte aller Fälle, sämtliche Anfälle zu unterdrücken, so Stefan R.G. Stodieck von der Klinik für Neurologie der Universität Münster. Bei einem weiteren Viertel wird zwar die Zahl der Anfälle verringert; die psychologische Belastung aber bleibt. Außerdem leidet ein Drittel aller Patienten – auch derjenigen, bei denen sich keine Besserung zeigt – unter Arzneimittelnebenwirkungen, die laut Stodiek „zum Teil sehr massiv sein können“.

Da nicht jedes Medikament bei jeder Anfallsform hilft, wird die Suche nach der besten Arznei oftmals zu einem jahrelangen Wechselspiel von Versuch und Irrtum. Es verwundert daher nicht, daß jeder dritte Patient seine verordneten Medikamente nur unregelmäßig einnimmt.

Stodiek ist sich mit seinen Kollegen dennoch einig, daß es viele Gründe für einen möglichst frühzeitigen Therapiebeginn gibt. Zum einen sinken die Erfolgschancen, je länger die Krankheit unbehandelt bleibt; zum anderen erhöht jeder Anfall die Wahrscheinlichkeit für den Nächsten. Warum das so ist, glaubt der Epileptologe mit neueren Erkenntnissen aus der Gehirnforschung erklären zu können:

Demnach handelt es sich bei der Epilepsie um spontane elektrische Entladungen größerer Gruppen von Nervenzellen (Neurone). Bei vielen Patienten werden offensichtlich immer die gleichen Nervenbahnen aktiviert, die sich dadurch einschleifen und – so die Theorie der Neurobiologen – immer leichter erregbar werden. Die Entladungen selbst kommen vermutlich zustande, weil sich ein Ungleichgewicht eingestellt hat zwischen einem anregenden Botenstoff – dem Glutamat und der aus dem Glutamat gebildeten Gamma-Aminobuttersäure (GABA), welche die Aufregung im Gehirn zu dämpfen vermag.

Das resultierende Dauerfeuer der Neurone kann von verschiedenen Regionen des Gehirns seinen Ausgang nehmen. Bei bestimmten Formen der Epilepsie, den sogenannten fokalen Anfällen, sind dann jeweils die Körperpartien oder -funktionen zuerst betroffen, die von der entsprechenden Hirnregion gesteuert werden. Beginnt solch ein fokaler Anfall beispielsweise mit einem Zucken des Mundwinkels oder rhythmischen Kaubewegungen gelingt es oftmals, die Störung einer eng umschriebenen Hirnregion zuzuschreiben. Bleibt die medikamentöse Behandlung erfolglos, so kann bei schweren Fällen ein chirurgischer Eingriff erwogen werden, bei dem das „epileptogene Areal“ entfernt wird, ohne daß es beim Patienten zu bleibenden Schäden kommt.

Drei Zentren für derartige Eingriffe gibt es in Deutschland: Neben Bonn und Bethel verfügt seit kurzem auch die Universität Erlangen-Nürnberg über ein Epilepsiezentrum der höchsten Leistungsstufe. Mit fünf Millionen Mark fördert dort das Bundesministerium für Gesundheit die Versorgung von Epilepsiepatienten, für die ein operativer Eingriff die einzige Chance auf ein normales Leben bedeutet.

Allerdings ist auch dies nur ein Tropfen auf den heißen Stein: Den jährlich etwa 200 Operationen, die in Deutschland durchgeführt werden, stehen etwa 20000 Epileptiker gegenüber, die durch solch einen Eingriff geheilt werden könnten. Immerhin dauert die Vorbereitung eines Eingiffs rund drei Wochen, in denen der Patient rund um die Uhr überwacht werden muß. Anhand von Videoaufnahmen und der laufend aufgezeichneten Hirnstromkurven versuchen Neurologen und Neurochirurgen, Informatiker und Ingenieure, Physiker und Psychologen gemeinsam, den Krankheitsherd zu ermitteln.

Modernste Diagnosegeräte messen winzige Magnetfelder im Gehirn und erlauben eine dreidimensionale Darstellung der feinsten Strukturen. All der Aufwand dient letztlich dazu, das Risiko für den Patienten möglichst gering zu halten. In bis zu 85 Prozent aller Fälle führen diese Operationen am kompliziertesten Organ des Menschen zum Erfolg: Die Patienten werden auf Dauer von ihren Anfällen befreit.

Für die Zukunft träumt Stodiek jedoch von einem Verfahren, das auf den ersten Blick utopisch erscheinen mag: Ein „Hirnschrittmacher“ soll mit kleinen Stromstößen den rechten Takt angeben, sobald die grauen Zellen aus dem Schritt geraten. Wie der „New Scientist“ vermeldet, ist ein erster Schritt in diese Richtung bereits gelungen:

Mit Elektroden, die im Nacken von Epilepsiepatienten angebracht wurden, stimulierte ein amerikanisch-europäisches Forscherteam in kurzen Abständen den Nervus vagus, einen der großen Nervenstränge, die vom Gehirn ausgehend die Arbeit der inneren Organe steuern.

Dazu implantierten die Ärzte bei 127 Patienten ein kleines Steuergerät auf der linken Brustseite unter der Haut. In etwa zehnminütigem Abstand schickte dieser Stimulator elektrische Reize an den Nervus vagus. Nach 18 Monaten zählten die Wissenschaftler im Durchschnitt nur noch halb so viele Anfälle wie zu Beginn der Behandlung.

Die Epilepsiekranken, bei denen Medikamente wirkungslos geblieben waren, mußten dabei als Nebenwirkung ein Kribbeln während der Stimulationen in Kauf nehmen, auch klagten manche über leichte Halsschmerzen. Mit einem über den Stimulator gehaltenen Magneten konnten die Patienten die elektrischen Reize auch selbst hervorrufen, was in einigen Fällen ausrichte, um eine sich anbahnende Attacke im Keim zu ersticken.

(erschienen in der Süddeutschen Zeitung am 16. September 1993)

Quellen:

  1. Journalistenseminar der Firma Wellcome in München, 1993
  2. Science: A stimulating way to reduce epileptic fits, von Anne Davies, New Scientist 31.7.1993.

Wenn die Neuronen im Gleichtakt schlagen

Wie schafft es unser Gehirn, Objekte, die beispielsweise auf dem Arbeitstisch herumliegen, überhaupt als Objekte zu erkennen? Für die meisten Menschen existiert dieses Problem überhaupt nicht, denn man „sieht“ ja die Kaffeetasse und den Kugelschreiber, kann diese Gegenstände mit großer Selbstverständlichkeit greifen und von der Unterlage unterscheiden.

Für die Hirnforscher ist dies allerdings keine gültige Erklärung. Denn „eigentlich“ bekommen die Nervenzellen der menschlichen Netzhaut ja nur ein zweidimensionales – flaches – Abbild der Umgebung geboten, eine Fläche, die sich aus unterschiedlich hellen oder dunklen Grautönen zusammensetzt.

Erschwerend kommt noch hinzu, daß dieses Bild durch das Zusammenspiel von Pupille und Augenlinse auf den Kopf gestellt wird. Doch damit nicht genug; schließlich haben wir zwei Augen und somit zwei Abbilder zu berücksichtigen, die ähnlich, aber nicht identisch sind.

Nochmals komplizierter wird die Angelegenheit, wenn man bedenkt, daß die in Blickrichtung rechts außen liegenden Gegenstände schlußendlich in der Sehrinde der linken Hirnhälfte registriert werden und umgekehrt. Dies ist nur möglich, weil jeweils die Hälfte der Nerven einer Netzhaut über eine „Kreuzung“ – das Chiasma opticum – im Zwischenhirn laufen muß. Nachdem die einlaufenden Nervenreize noch eine „Umspannstation“ überwinden müssen, entsteht schließlich in der Sehrinde der Eindruck eines Bildes.

Die Kaffeetasse, die halblinks vor uns steht, wird somit von Nervenzellen im linken und im rechten Auge registriert. Bemerkenswerterweise laufen diese Meldungen dann in einer Hirnregion, der Sehrinde, wieder zusammen; die zwei gemeldeten Kaffeetassen verschmelzen zu einer.

Genaugenommen könnte dieser Schaltplan der Nervenzellen aber nur erklären, wie die Bildpunkte, aus denen unsere Tasse besteht, von der Netzhaut bis in die Sehrinde gelangen. Die eigentliche Abgrenzung des Objekts „Kaffeetasse“ von der Unterlage besorgt das Zusammenspiel mehrerer Gruppen von Nervenzellen, die bei Säugetieren in der Sehrinde zu finden sind. Durch Teamwork erkennen diese Zellen, daß hier ein Gegenstand vorliegt.

Die Information, die vom Auge kommt, wird auf schätzungsweise 20 oder 25 Regionen parallel verteilt. Jeder Abschnitt beschäftigt sich dann mit einem Aspekt des Bildes, etwa mit Farbe, Form oder Lokalisation im Raum. Eine dieser Gruppen wird beispielsweise nur dann aktiv, wenn mehrere Bildpunkte gleicher Lichtstärke auf einer Linie liegen.

Eine andere Gruppe von Nervenzellen registriert vielleicht den Kontrast, das heißt den Unterschied in der Lichtstärke, zwischen der weißen Tasse und der grünen Schreibunterlage. Wieder eine andere Gruppe von Nervenzellen reagiert überhaupt nicht, weil sie auf Bewegung „geeicht“ ist. Diese Sensoren sind besonders hilfreich, wenn ein Objekt, das sich kaum vom Untergrund abhebt (ein Chamäleon etwa), sich zu regen beginnt.

Das allgemeine Prinzip, nach dem Figuren von ihrem Hintergrund unterschieden werden können, beruht also auf dem Erkennen von zusammengehörigen (kohärenten) Merkmalen. Die Gruppen von Nervenzellen aber, die beispielsweise die Farbe oder die Orientierung eines Gegenstandes registrieren, sind im Gehirn relativ weit verstreut. Die Entfernung beträgt bei Zellgruppen in einer Hirnhälfte bis zu sieben Millimeter, ein gewaltiger Abstand, zumindest nach dem Maßstab der Neuroanatomen.

Erst in jüngster Zeit ist man dahintergekommen, wie verschiedene Zellgruppen, die auf das gleiche Merkmal ansprechen, miteinander in Verbindung bleiben: Offensichtlich entladen diese Zellen sich im Gleichtakt, wenn sie auf den gleichen Gegenstand reagieren. Sie „feuern“ ihre Impulse dann jeweils zum gleichen Zeitpunkt, und das 40 bis 60 Mal in einer Sekunde. Mißt man dagegen Zellen, die ihre Reize nicht von einem abgrenzbaren Gegenstand empfangen, so ergibt sich ein wildes Durcheinander von aktiven und ruhigen Phasen. Offensichtlich sprechen diese Zellen nicht miteinander.

Diese Ergebnisse aus dem Labe des Frankfurter Neurobiologen Wolf Singer stießen ursprünglich auch auf Skepsis in der Forschergemeinde. Im Gegensatz zu philosophischen Erklärungsversuchen konnten verschiedene Vorhersagen des Modells allerdings im Experiment überprüft werden. Bisher hat dieses Modell zur Entstehung des menschlichen Bewußtseins jedenfalls alle Prüfsteine überwinden können.

(erschienen in „DIE WELT“ am 22. November 1991)

Der lange Weg zum intelligenten Roboter

Der erste Schritt ist getan: Deutsche Wissenschaftler haben eine Nervenzelle und einen Transistor miteinander verbunden. Die Nervenzelle als biologische Einheit erzeugt einen äußerst schwachen Stromimpuls, der an das elektronische Bauteil weitergeleitet und dort tausendfach verstärkt wird. Während die Ulmer Forscher ausgehend von der „biologisch-technischen Synapse“ langfristig an die Entwicklung neuer Sensoren denken, ist die Fantasie mancher Zeitgenossen den technischen Möglichkeiten bereits weit vorausgeeilt.

Sie träumen davon, die Fähigkeiten von Mensch und Maschine zu vereinen und so die biologisch gesetzten Grenzen des eigenen Daseins zu überwinden. Zeuge dieser Träume ist eine Fülle von mehr oder weniger gut gemachten Büchern und Kinofilmen, vom Science-Fiction-Klassiker „2001 – Odyssee im Weltraum“ mit dem eigensinnigen Bordcomputer HAL 9000 bis hin zum Kampf zwischen guten und bösen Androiden in der Hollywood-Produktion Terminator II.

Noch aus der Zeit des kalten Krieges stammt der Vorschlag, Raketen mit Taubenhirnen auszustatten. Wenn es irgendwie gelänge, die Zellen eines Tieres „umzuprogrammieren“, könnte man eine intelligente Waffe schaffen, die dann fähig sein sollte, ihr Ziel selbstständig aufzuspüren. Natürlich, so argumentierte man, wären solche Geschosse auch in der Lage, Freund von Feind zu unterscheiden und lohnende Ziele ausfindig zu machen.

Ob derartige Ausgeburten der Ingenieurskunst jemals Realität werden, steht in den Sternen. Cruise-Missiles jedenfalls weichen heutzutage auch ohne Taubenhirn nur wenige Meter von ihrem Ziel ab, und die ehemals aufsehenerregende Idee wurde zu den Akten gelegt. Dennoch ist die Leistungsbilanz moderner Computer im Vergleich zum Tierreich eher ernüchternd. Die Rechenkraft eines Schneckenhirns beispielsweise wird heute gerade von den neuesten Bürocomputern bewältigt. Die schnellsten Supercomputer können es immerhin schon mit einem Mäusegehirn aufnehmen, sind allerdings selten unter zehn Millionen Mark zu haben.

Doch obwohl diese Wunderwerke (die Supercomputer) schon gut 100 Milliarden Informationseinheiten (Bit) pro Sekunde verarbeiten können, bleibt es doch in aller Regel bei der stumpfsinnigen Rechenarbeit. Noch immer sind alle „gewöhnlichen“ Computer bewegungsunfähig. Nur wenige Roboter können heute bereits zwei Treppenstufen überwinden, ohne auf die Nase zu fallen.

Diese Prototypen wie der 220 Kilogramm schwere „Asshy“ im Shibaura Institut für Technologie, Tokyo, sind hingegen zu sehr damit beschäftigt, die Balance zu halten, als daß man sie auch noch mit Rechenaufgaben belästigen könnte. Mit seiner stattlichen Größe von 210 Zentimetern vermag Asshy zwar durchaus zu beeindrucken, Gehversuche sind aber auch nach über zwanzig Jahren Forschung noch mit einem großen Risiko behaftet, wie Asshys geistiger Vater, Akira Sato bereitwillig einräumt.

Eine Ausnahme bilden lediglich die insektenähnlichen Roboter, die am Massachusetts Institute of Technology von Rodney Brooks entwickelt werden. Das bisher erfolgreichste Modell, der sechsbeinige „Genghis“ hat etwa die Größe eines Schuhkartons und schafft es immerhin seine Bewegungen zu koordinieren. Was fehlt ist allerdings nach immer ein Roboter – ob in Menschengestalt oder nicht – der die Fähigkeit zur freien Bewegung kombiniert mit einer akzeptablen Rechenleistung.

Doch wäre es nicht wunderbar, wenn man einer Maschine auch Entscheidungen zumuten könnte, die ein gewisses Urteilsvermögen voraussetzen? Wenn diese Maschinen in der Lage wären, Probleme selbsttätig zu erkennen und zu lösen? Wäre dies nicht ein weiterer Schritt hin zu ein Gesellschaft, in der die Menschen nur noch das tun, was ihnen zusagt?

In diese Richtung bewegen sich die Vorstellungen von Hans Moravec, Direktor des Labors für mobile Roboter an der amerikanischen Carnegie Mellon Universität. Er eröffnet sein unter Wissenschaftlern heiß diskutiertes, Buch „Mind Children“ mit den Worten: „Ich glaube, daß Roboter mit menschlicher Intelligenz in fünfzig Jahren weit verbreitet sei werden.“

Über die Frage, ob derartige Maschinen jemals ein „Bewußtsein“ entwickeln können, gehen die Ansichten ebenfalls stark auseinander. Moravec ist der Meinung, daß alles was dafür gebraucht wird, ein Modell der Außenwelt sei, das komplex genug ist um die Konsequenzen verschiedener Entscheidungen durchzuspielen. Er glaubt, dass der Zeitpunkt schon abzusehen ist, an dem jede wichtige körperliche oder geistige Funktion des Menschen ein künstliches Pendant haben wird. „In spätestens fünfzig Jahren haben wir den intelligenten Roboter, eine Maschine die denken und handeln wird wie ein Mensch.“

(erschienen in „DIE WELT“ am 13. November 1991)

Ethische Fragen drängen sich auf

Im jüngsten Kino-Kassenschlager, dem „Terminator II„, wird der Zuschauer mit einer recht gewalttätigen Vision geschockt: Intelligente Maschinen, von Menschen erdacht und gebaut, sollen im Jahr 1997 die amerikanische Verteidigung übernehmen. Als die Militärs feststellen, daß die Supercomputer ein eigenes Bewußtsein entwickeln, versucht man den Stecker zu ziehen. Die Maschinen antworten mit einem atomaren Gegenschlag; drei Milliarden Menschenleben werden ausgelöscht.

Die Geschichte von den Robotern, die durchdrehen und die Kontrolle an sich reißen, ist zwar alles andere als neu, dennoch gibt es Grund zur Vorsicht. Als die Computer des amerikanischen Lenkwaffenkreuzers Vincennes am 3. Juli 1988 einen iranischen Airbus nicht von einem Militärjet zu unterscheiden vermochten, verloren 290 Zivilisten ihr Leben. Wenn schon „gewöhnliche“ Technologie zu derartigen fatalen Verwechselungen führen kann, ist dann die Gefahr durch denkende, lernfähige und somit auch unberechenbare Computer nicht ungleich größer?

Eine neue Broschüre des Bundesforschungsministeriums räumt hierzu ein, daß die Anwendungsmöglichkeiten neuronaler Netzcomputer „natürlich auch den Keim zu unkontrollierbarer Eigendynamik“ in sich bergen. Aus diesem Grunde sei eine die technische Entwicklung begleitende Technikbewertung erforderlich, formulierte eine zehnköpfige Expertenkommission. An eine Einschränkung der Forschungstätigkeit oder gar an ein Verbot der Entwicklung neuronaler Netze wird aber nicht gedacht. Zu vielfältig sind offensichtlich die Vorteile der neuen Technologie, die von medizinischen Anwendungen über Spracherkennung und -übersetzung bis hin zur Erkundung des Weltalls reichen, um nur einige Beispiele zu nennen.

Schon länger als die Neuroinformatiker machen sich Biologen und Mediziner Gedanken über die Konsequenzen ihres Tuns. Denn einerseits finden die Resultate der Neurobiologie ja unmittelbaren Eingang bei der Entwicklung künstlicher Neuronaler Netze; andererseits bringt die Erforschung des menschlichen Gehirns auch eine Vielzahl eigener ethischer Probleme mit sich.

Schon die Experimente selbst, die ja in den weitaus meisten Fällen an Versuchstieren durchgeführt werden, stoßen oft auf heftige Kritik in der Öffentlichkeit. Bilder von jungen Katzen oder von Menschenaffen, deren Hirnströme mit Hilfe von implantierten Elektroden gemessen werden, haben – nicht nur auf den Tierfreund – eine stark emotionalisierende Wirkung. Ob die Tiere bei diesen Experimenten nun Schmerz empfinden oder nicht, ob die Experimente zu meßbaren Fortschritten in der Medizin führen und ob diese Art der Nutzung von Mitgeschöpfen mehr oder weniger grausam ist als die gemeinhin akzeptierte Massentierhaltung, danach wird nur in Ausnahmefällen gefragt.

Der Frankfurter Hirnforscher Wolf Singer ist sicher kein Einzelfall: „Wenn Rundfunk oder Fernsehen anrufen, heißt es immer nur: Hier haben wir was gegen Sie vorliegen. Sie können, wenn Sie wollen, um fünf vorbeikommen und noch schnell ein Statement zu Ihrer Verteidigung abgeben.“ Zu komplex sind wohl die Probleme, mit denen die Neuroforscher zu kämpfen haben, zu gering der „Unterhaltungswert“, um die notwendige öffentliche Diskussion anzustoßen, an der beide Seiten brennend interessiert sein sollten.

Denn je mehr wir über die Funktion der grauen Zellen herausfinden, umso größer werden auch die Chancen zur Manipulation. Einer Ratte, der man die Möglichkeit gegeben hatte, durch Tastendruck eine Elektrode im eigenen Hirn zu stimulieren, betätigte den „Lustschalter“ an die 5000-mal in der Stunde – bis sie erschöpft zusammenbrach.

Buchautor Johannes Holler („Das neue Gehirn“) bezeichnet das Hirn zu Recht als den größten Drogenhersteller und -Konsumenten. Die dort hergestellten Botenstoffe verändern im Zusammenspiel mit ihren Ankerplätzen in jeder Sekunde unsere Wirklichkeit; erzeugen Liebe und Lust, Haß und Depression. Rund 70 Botenstoffe und 50 Ankerplätze sind bisher bekannt, und ständig werden neue dazu entdeckt.

Durch die gezielte Entwicklung neuer Medikamente könnte beispielsweise die Wirkung des Rauschgiftes Cannabis aufgehoben werden, indem man den seit kurzem bekannten Ankerplatz blockiert. Auch einem Eiweiß, an dem Kokain seine Wirkung entfaltet, sind die Forscher auf der Spur. Ein Ersatzstoff für Nikotin, das ebenfalls bestimmte Rezeptoren im Gehirn aktiviert, könnte Millionen Raucher von ihrer Sucht befreien.

Doch nicht nur Suchtkranke, sondern auch Millionen von Patienten, die alleine in Deutschland an Depressionen, Schizophrenie, Epilepsie und der Alzheimer´schen Krankheit leiden, wollen die Möglichkeiten der Neuroforschung nutzen. Sie vertrauen darauf, daß unsere Gesellschaft mit den Risiken und Versuchungen dieser Wissenschaft besser zurechtkommt als lustbesessene Laborratten.

(erschienen in „DIE WELT“ am 8. November 1991)

Interview mit Wolf Singer

 

Ankündigung des Interviews auf Seite 1

Wolf Singer ist einer der renommiertesten deutschen Hirnforscher, (inzwischen ehemaliger) Direktor am Max-Planck-Institut in Frankfurt und war später Mitbegründer des Frankfurt Institute of Advanced Sciences. Ich durfte ihn für die Reihe „WELT im Gespräch“ interviewen, und hier ist das Ergebnis:

Das Gehirn des Menschen ist zweifellos das komplizierteste Gebilde, das wir kennen. Viele Wissenschaftler sind der Ansicht, wir könnten das Gehirn nie vollständig verstehen. Sie dagegen haben Ihre gesamte Karriere diesem Unterfangen gewidmet. Warum tun Sie das?

Singer: Das Gehirn hat mich schon immer interessiert. Ich habe nie Medizin studieren wollen, um praktischer Arzt zu werden wie mein Vater. Ich wollte ein Studium Generale absolvieren, mich mit dem Lebendigen beschäftigen, am liebsten gleich mit dem Menschen. Während meiner Studienzeit in München hat man Epileptiker noch häufig dadurch behandelt, daß man die Verbindungen zwischen den beiden Hirnhälften durchtrennte. Dabei stellte man fest, daß nicht alles, was vom Menschen wahrgenommen wird, daß nicht alle Reize, auf die der Organismus reagiert, auch bewußt verarbeitet werden.

Eine ganze Hälfte des Gehirns, so fand man, kann nicht „reden“ und über das berichten, was sie gemacht hat. Damals hat man versucht, diese Beobachtung im Zusammenhang mit der Schizophrenie zu sehen. Die Idee war, daß der Schizophrene deshalb die gespaltenen Bewußtseinszustände hat, weil er seine beiden Hirnhälften nicht koordinieren kann. Eine Hypothese, die jetzt keiner mehr aufrechterhalten würde. Ich bin damals in München durch ein Seminar über die neuronalen Grundlagen des Bewußtseins in Berührung gekommen mit der Hirnforschung, habe mich dann um eine Doktorarbeit bemüht und die habe ich auch gekriegt.

Das heißt, Sie hatten schon ganz von Anfang an auch eher philosophische Fragen im Hinterkopf; Sie glaubten, mit biologischen Methoden vielleicht so etwas wie ein Bewußtsein ergründen zu können?

Singer: Ich bin immer davon ausgegangen, daß unsere geistigen Leistungen auf biochemischen Vorgängen beruhen und etwas mit der Hirnfunktion zu tun haben müssen. Eine wichtige Motivation für alle, die eine medizinische Ausbildung haben, ist natürlich auch die Einsicht, daß ganz große Krankheitskomplexe vollkommen unverstanden sind, soweit sie mit dem Zentralnervensystem zusammenhängen. Es gibt bis heute überhaupt keine akzeptable Erklärung für die endogenen Depressionen oder für die Schizophrenien, obwohl die Krankheiten außerordentlich häufig sind. Ein bis zwei Prozent der Bevölkerung werden irgendwann einmal in einem der beiden Bereiche klinisch auffällig. Alles, was man da therapeutisch macht, beruht auf Versuch und Irrtum. Man weiß halt, das funktioniert irgendwie, aber warum das funktioniert, oder warum was nicht funktioniert, weiß keiner.

Dann plagt einen natürlich das katastrophale Unvermögen nach Hirnverletzungen. Therapeutische Bemühungen sind erfolglos, weil beschädigte Nervenzellen nicht nachwachsen. Jetzt lernt man allmählich, daß das nicht so sein muß, daß während der Evolution des Menschen solche Mechanismen nicht eingebaut worden sind, weil es vermutlich früher überhaupt keinen Sinn gemacht hat, nach Schädel-Hirnverletzungen, die so schwerwiegend waren, daß es im Gehirn zu Veränderungen kam, noch Reparaturmechanismen einzubauen. Diese Verletzungen sind ohnehin nie überlebt worden. Das hat sich mittlerweile geändert.

Durch intensive medizinische Bemühungen überleben heute viele Unfallopfer auch schwere Hirnverletzungen. Noch kann man die Schäden nicht wirklich reparieren. Aber es zeichnet sich jetzt schon die Möglichkeit ab, daß es gelingen wird, die Prozesse wieder anzustellen, die während der Entwicklung des Menschen ablaufen. Am Rückenmark, bei Querschnittslähmungen gibt es jetzt wirklich zum ersten Mal Hoffnungen.

Für den Laien erscheint das Gewebe des Gehirns beim Blick durch das Mikroskop als heilloses Durcheinander von undefinierbaren Strukturen, ein undurchdringliches Dickicht aus hunderten verschiedener Zelltypen. Wie kann man denn da noch die Hoffnung bewahren, dieses Gebilde irgendwann einmal wirklich verstehen zu können?

Singer: Ja, das kommt einem natürlich nach wie vor frivol vor. Aber es ist halt so in der Natur, daß sehr komplexe Funktionen auf einfache Prinzipien zurückgehen. Ob das wirklich so ist, wissen wir nicht, aber der Gestaltdruck unserer Seele macht, daß wir nach einfachen Prinzipien suchen. Und wir finden sie auch. Man kann erstaunlicherweise trotz der ungeheuren Komplexität in vielen Bereichen überschaubare, einfache allgemeine Funktionsprinzipien angeben. Es funktioniert. Und man kann das ja auch imitieren in künstlichen Systemen und sieht, daß die dann – wenn auch sehr primitive – Leistungen erbringen können.

Ihre Arbeiten zeigen, daß die Strukturen des Gehirns sich in einem Wechselspiel mit Umwelteinflüssen herausbilden. Demnach wird die Entwicklung dieses Organs also nicht ausschließlich von unseren Genen gesteuert?

Singer: Das läßt sich am Beispiel der Hirnrinde am besten illustrieren. Es ist ja so, daß die Komplexität der Verschaltungen der Hirnrinde eine Größenordnung erreicht hat, die es unmöglich macht und auch sinnlos erscheinen läßt, jede einzelne Verbindung genetisch festzulegen. Das würde einen ungeheuren Codierungsaufwand erfordern. Ich weiß nicht, wie gut die Berechnungen sind, aber es gibt zumindest Vermutungen, daß das in den Genen gespeicherte Material nicht ausreicht, um das alles zu strukturieren. Außerdem hätte dies den Nachteil, daß das System dann sehr unflexibel wird und sich nicht gut anpassen kann an die realen Gegebenheiten.

Nun sieht man, daß während der Entwicklung wichtige Entscheidungen über die endgültige Verdrahtung von Arealen in der Hirnrinde oder von einzelnen Nervenzellen im Dialog mit der Umwelt gefällt werden. Man muß dann nicht alles von vornherein festlegen, sondern man kann warten, bis die Information von außen verfügbar wird. Das System kann sich dann viel besser an die wahren Begebenheiten anpassen.

Nun, weil das so ist und weil jeder Organismus in einer anderen Umwelt aufwächst, wird es sinnlos, über die allgemeinen Verschaltungsprinzipien hinaus, die natürlich von Individuum zu Individuum gleich sind, auch noch im Detail nach Wiederholungen zu suchen. Die wird man nicht finden, weil sich jedes Hirn ein bißchen anders selbstorganisiert. Und deshalb muß man die Prinzipien rauskriegen, nach denen sich das Gehirn entwickelt. Nur so kann man verstehen, wie das Ganze funktioniert. Das ist wichtiger als zu versuchen, das fertige System in allen Einzelheiten aufzudröseln. Letzteres würde zu so vielen verschiedenen Beschreibungen führen, wie man Gehirne untersucht.

Kann man denn beziffern, wie stark die menschliche Entwicklung von der Umwelt beeinflußt wird, und wie groß der Anteil unserer Gene ist?

Singer: Wahrscheinlich ist die Frage schon falsch gestellt. Das jetzt in Prozent unterteilen zu wollen, ist nicht möglich, weil Sie im Nachhinein nicht unterscheiden können, ob eine bestimmte Verbindung nicht da ist, weil sie genetisch nicht angelegt worden ist, oder weil sie zunächst genetisch vorgesehen war, und später wieder abgeräumt worden ist. Das greift so eng ineinander, daß die genetischen Instruktionen und die Instruktionen, die aus dem Umfeld kommen, gar nicht richtig zu trennen sind. Das fängt schon ganz am Anfang an, mit der befruchteten Eizelle.

Gene sind nie alleine irgendwo. Die sitzen schon im Kern in einer Zelle, die ein Umfeld für die Gene darstellt. Und die Zelle sitzt in der Regel eingebettet in einem Organismus. Die ersten Signale, die die Gene anschalten, die kommen ja von außen, die kommen nicht aus den Genen selber, sondern das ist die Umgebung, die sagt, so jetzt fangt mal an, euch zu verdoppeln, jetzt wird geteilt. Also, die Entwicklung ist von Anfang an ein Dialog zwischen Genen und deren Umgebung. Und wenn man das eine wegnimmt oder das andere wegnimmt, bleibt der Entwicklungsprozeß stehen.

Lassen sich diese Erkenntnisse, die ja vorwiegend durch Versuche an Katzen und Affen gewonnen wurden, so ohne weiteres auf den Menschen übertragen?

Singer: Ja, diese Untersuchungen, die natürlich alle an Tieren vorgenommen worden sind, die lassen sich direkt auf den Menschen und auf die Entstehung menschlicher Krankheiten übertragen. Bei einem Kind, das schielt, zeigen sich in der Hirnrinde genau die gleichen Veränderungen wie sie auch bei einer schielenden Katze oder bei einem schielenden Affen gefunden wurden. Man kann Aufgrund der Tierversuche Voraussagen machen darüber, wie die Wahrnehmung beim Menschen gestört wird. Das ist eine ganz direkte Entsprechung.

Können Sie ein Beispiel für die praktische Umsetzung Ihrer Forschung in den klinischen Alltag geben?

Singer: Man hat aus diesen Tierversuchen gelernt, daß bestimmte Leistungen während kritischer Altersphasen erworben werden. Wenn die Verschaltung der Nervenzellen nicht zum richtigen Zeitpunkt erfolgt, dann läßt sich das nicht mehr nachholen. Das ist sowohl für den Erwerb der Sehfähigkeit als auch für den Sprachgebrauch nachgewiesen. Möglicherweise gilt das auch für den Erwerb höherer, sozialer Leistungen.

Im Bereich der Sehphysiologie haben die Tierversuche ganz bestimmt das Bewußtsein dafür geschärft, daß man frühzeitig erkennen muß, wenn was schiefläuft. Also, wenn man Schielkinder hat, dann weiß man, daß ganz früh und hartnäckig therapiert werden muß, wenn man die kritische Phase nicht verpassen will. Früher hat man gedacht, jetzt lassen wir die erst mal auswachsen, und dann reparieren wir die Stellung der Augen. Aber dann ist es zu spät.

Das gleiche gilt, wenn Reize aus der Umwelt das Gehirn über längere Zeit hinweg nicht erreichen. Früher war das relativ häufig, daß durch Trübungen der Hornhaut oder Linsentrübungen die Aufnahme optischer Signale durchs Auge gestört war. Das haben die Leute nicht besonders ernstgenommen und haben gedacht, dann warten wir halt, bis die im operationsfähigen Alter sind, bis man das bequem machen kann, und dann tauschen wir die Linsen aus und machen die Hornhaut wieder sauber. Bis man gelernt hat, daß das überhaupt nichts mehr nutzt, weil die Reifungsprozesse in der Hirnrinde, die der Erfahrung bedürfen, abgelaufen sind und nicht nachgeholt werden können. Und deshalb operiert man jetzt, wenn man mit solchen Problemen konfrontiert wird, so früh wie nur irgend möglich.

Lassen sich die Erkenntnisse auch bei der Erziehung von Kindern umsetzen?

Singer: Das ist schwer zu beantworten. Die kulturhistorische Entwicklung zeigt, daß die Menschen selber auf ganz vieles gekommen sind, ohne daß sie über kritische Phasen und Neurophysiologie Bescheid wußten. Man weiß einfach, daß man Kinder früh mit Sprache konfrontieren muß, damit sie es lernen, und wenn sie eine Fremdsprache zusätzlich erwerben sollen, dann muß man das auch früh machen, damit man die kritische Phase nicht verpaßt.

In diesem Bereich kann man natürlich sagen, die Menschen haben irgendwann gelernt, daß man den Kindern möglichst früh möglichst viele Stimuli geben sollte. Aber die Hirnforschung gibt mittlerweile ja sogar Hinweise darauf, wie das menschliche Bewußtsein zustande kommen könnte.

Singer: Ja, das ist zurzeit ein sehr faszinierendes Gebiet. Die Philosophen haben das ja auch zur Kenntnis genommen, daß im Bereich der Neurobiologie jetzt Entdeckungen möglich werden, die direkt relevant sind für philosophische Diskussionen, insbesondere für erkenntnistheoretische Ansätze. Andererseits gibt es eine stattliche Anzahl von Psychologielehrstuhl-Inhabern in Europa, insbesondere in der Bundesrepublik, die sagen, sie brauchten die Neurobiologie nicht, weil die Neurobiologie immer wieder Konzepte entwickelt hat, die die Psychologie in die Irre geführt habe. Das muß man sich mal klarmachen!

Das Wissen über die Mechanismen, durch die sich entwickelnde Gehirne Wissen über die Umwelt erwerben und das so erworbene Wissen dann wieder benutzen, um die Umwelt zu interpretieren, um Konstrukte zu bauen, das ist für die Erkenntnistheorie schon sehr wichtig. Es läßt sich in diesem Licht wohl nicht mehr aufrechterhalten, daß wir in der Lage wären, die Welt so zu erkennen, wie sie ist. Es wird immer deutlicher, daß unsere Hirne Konstruktionen entwerfen, die auf unsere Bedürfnisse zugeschnitten sind.

Beispielsweise ist unser Begriff von Materie nur entstanden durch die unmittelbare Erfahrung, die unsere Sinnessysteme möglich machen – und auch zwar nur in einem ganz engen Bereich des Größenkontinuums physikalischer Dimensionen. Das gilt eben alles so im Zentimeter- und Millimeterbereich, aber wenn man durch Instrumente guckt, die einem entweder den ganz großen Bereich zugänglich machen, das Weltall oder den ganz kleinen Bereich, den atomaren und subatomaren Bereich, dann sieht man, daß diese Konzepte und Beschreibungen da nicht zutreffend sind.

Könnte man vielleicht überspitzt sagen, daß die Grenzen der Erkenntnis durch die Strukturen unseres Gehirns vorgegeben sind und gar nicht so sehr durch die Möglichkeiten der Naturwissenschaft?

Singer: Naturwissenschaft selber ist ja schon ein Kulturprodukt und damit Produkt von interagierenden Gehirnen. Insofern werden sich in den Beschreibungssystemen der Naturwissenschaften natürlich die Axiome widerspiegeln, jene als absolut richtig anerkannten Grundsätze, für die es keines weiteren Beweises bedarf. Auch diese Axiome sind zunächst einmal durch Primärerfahrungen des Gehirns entwickelt worden.

Sie haben, vereinfacht ausgedrückt, Hinweise darauf gefunden, wie das Bewußtsein zustande kommt. Gruppen von Nervenzellen (Neuronen), die Reize vom selben Objekt erhalten, feuern demnach ihre Signale im Gleichtakt, auch wenn diese Zellen im Gehirn räumlich getrennt sind.

Singer: Trotz der gewaltigen Zahl von hundert Milliarden Neuronen kann unser Gehirn unmöglich alle möglichen Erscheinungsformen aller möglichen Objekte in einzelnen Zellen abspeichern, das würde die Zahl dieser Zellen sehr schnell erschöpfen. Demnach muß die Repräsentation von Figuren, Objekten, Inhalten, auch von Symbolen immer durch Gruppen miteinander verbundener Zellen Ensembles – erzeugt werden, wobei eine bestimmte Zelle zu verschiedenen Zeitpunkten an verschiedenen Ensembles teilhaben können muß.

Ähnlich wie ein bestimmtes Merkmal in sehr vielen verschiedenen Figuren vorkommen kann, kann eine bestimmte Zelle in sehr vielen verschiedenen Ensembles vorkommen. Wenn man aber jetzt dieses Ensemble-Kodierungskonzept weiterverfolgt, dann kriegt man ein Problem, wenn mehrere Ensembles gleichzeitig aktiv sind, dann wissen sie nämlich wieder nicht, welche Zelle zu welchem Ensemble gehört.

Aus diesem Grund hat Christoph von der Malsburg schon 1981 vorgeschlagen, dem Ensemble eine zeitliche Struktur aufzuprägen, so daß alle Elemente in einem Ensemble immer gleichzeitig und zusammen aktiv sind, und dann kann ein zweites Ensemble ebenfalls aktiv sein, und zwar in einem anderen Takt. Dafür haben wir direkte Beweise gefunden. Gleichzeitig haben aber auch andere Leute darüber nachgedacht, wie es denn gehen kann, daß man trotz heftiger Bemühungen keine Nervenzellen finden kann, die selektiv auf Gesichter oder auf die Großmutter oder auf einen gelben Volkswagen ansprechen.

Es gibt also keine höchste Instanz, in der Bewußtsein passiert, oder in der sich Wahrnehmung kristallisiert?

Singer: Nein, stattdessen gibt es sehr viele Areale, die sich mit unterschiedlichen Aspekten befassen. Die liegen parallel zueinander, sind stark miteinander verflochten. So wird die Information, die vom Auge kommt, auf 20 oder 25 Areale parallel verteilt, die sich nun mit unterschiedlichen Aspekten beschäftigen. Die einen mehr mit Bewegung, die anderen mehr mit Farbe, die anderen mehr mit Formen, die anderen mehr mit Lokalisation im Raum usw. Und nun fragen wir, wie kommt um Gottes Willen das alles wieder zusammen, so daß sie dann zum Schluß den gelben Volkswagen in der Wiese stehen sehen.

Und weil man weder eine Zelle gefunden hat, die den gelben Volkswagen in der Wiese abbildet, noch ein Areal, wo das alles wieder zusammenliefe, mußte man annehmen, die Repräsentation des gelben Volkswagens in der grünen Wiese ist eben die Gesamtheit der Aktivitäten, die in diesen räumlich verteilten Arealen zu dem bestimmten Zeitpunkt vorhanden sind.

Aber wie bindet man die jetzt zusammen? Dafür sind dann Hypothesen formuliert worden, zuerst von dem Nobelpreisträger Francis Crick, daß das irgendwie über eine zeitliche Synchronisation geschehen müsse. Sie brauchen einmal den gelben Volkswagen in der grünen Wiese, ein andermal brauchen sie den Fahrer im gelben Volkswagen, dann müssen sie ganz andere Bindungen machen. Sie können nicht für jede mögliche Konstellation des gelben Volkswagens feste Verbindungen im Gehirn haben, sondern sie brauchen eine dynamische Architektur, die Sie kontextabhängig verändern können. Wir haben dann gesagt, nun ja, wenn das im Sehsystem so läuft, dann wird es ja wohl auch für die Bewegungssteuerung gelten und warum dann nicht gleich überall?

Ein Thema, das die Öffentlichkeit wesentlich stärker erregt als die Erfolge der Grundlagenforschung sind die Tierversuche, die in der gesamten Biomedizin angestellt werden.

Singer: Das ist auch für uns schwierig. Wir werden ja, wie Sie wissen, sehr stark überwacht. Wir müssen für alles, was wir tun, ausführliche Beschreibungen liefern, müssen unsere Vorhaben genehmigen lassen von Kommissionen, in denen Tierversuchsgegner oder Tierschützer sitzen, Fachleute – die in der Minderheit sind – und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens. Darüber hinaus wird natürlich institutsintern jedes Projekt ausführlich diskutiert, und die ethischen Fragen sind implizit immer mit dabei. Sie werden außerdem schon wegen der Handhabbarkeit die Tiere immer in Vollnarkose versetzen, wenn Sie operieren müssen.

Bleibt das Opfern von Leben. Das ist nicht zu umgehen. Wenn man an lebenden Strukturen arbeiten will – und das muß man, wenn man rauskriegen will, wie ein Hirn organisiert ist -, dann nehmen wir damit die Tötung des Tieres in Kauf, wobei das schmerzlos erfolgt. Damit stehen wir nun auf der gleichen Ebene derer, die Tiere töten, um sie zu essen.

Ich vermag nicht zu verstehen, wie man ignorieren kann, daß die Entwicklung von Medikamenten gegen die Epilepsie ausschließlich auf Tierversuche zurückgeht, daß das wachsende Verständnis der Wirkung von suchterzeugenden Drogen ohne diese Versuche nicht möglich gewesen wäre. Für mich ist eine Medizin, die handelt, ohne zu wissen, was sie tut, genauso unerträglich wie eine, die tatenlos daneben steht.

Viele Menschen sagen sich, na ja, wir hören in Deutschland mit diesen Versuchen auf, weil wir ethisch am weitesten entwickelt sind, aber irgendjemand wird ja nachher schon die Polio-Impfstoffe und die Sachen für Aids noch weiterentwickeln, damit man das dann auch weiterverwenden kann. Denn es ist ja ganz schön, wenn man sich Insulin spritzen kann, wenn es die eigene Frau ist oder das eigene Kind. Womit ich schlecht leben kann, ist, wenn Tierversuchsgegner die Familie bedrängen, die Kinder bedrohen. Wir hatten hier auch einen Molotow-Cocktail-Anschlag aufs Labor. Nur durch Zufall ist das Haus nicht in die Luft gegangen. Da werden wir halt manchmal grantig.

In Deutschland scheint die Grundlagenforschung kein allzu hohes Ansehen zu genießen, anders als beispielsweise in den Vereinigten Staaten.

Singer: Ich glaube, wir haben uns daran gewöhnt, daß der Wissenschaftler in Deutschland eher ein Buhmann ist. Wir werden ja nicht zu den Kulturträgern gezählt – Kultur, das sind die schönen Künste und die Geisteswissenschaften. Daß Naturwissenschaften auch einen starken kreativen Aspekt haben, auch eine künstlerische Ader verlangen und eigentlich mit zum Kulturbetrieb gehören, das ist hier wenig verankert. Zur Allgemeinbildung gehört das Wissen um Goethes Biographie. Neulich habe ich irgendwo gehört, daß immer noch zwanzig Prozent meinen, daß die Sonne um die Erde kreist, also da hängt sicher was schief.

Die meisten meiner Freunde sind nicht aus dem naturwissenschaftlichen Bereich. Aber eins scheint mir doch wohl zuzutreffen, daß die Wissenschaftler im Allgemeinen, wenn sie gut sind, sich dadurch auszeichnen, daß sie relativ wenig Vorurteile haben, relativ wenig verführbar sind und einen relativ gut entwickelten Skeptizismus haben gegenüber der Verläßlichkeit von irgendetwas. Und das sind eigentlich Eigenschaften, die in einer Demokratie ganz brauchbar sind.

Erstaunlich, daß die deutsche Hirnforschung im internationalen Vergleich trotz dieser Hemmnisse so gut dasteht.

Singer: Wir werden gut unterstützt. Insbesondere die mehr integrative Hirnforschung ist hier noch relativ gut erhalten trotz des enormen Zuwachses der Molekularbiologie, die weltweit jetzt boomt. Aber das wird uns für die Zukunft ein wertvolles Kapital sein, daß wir hier viel erhalten haben, trotz der gleichzeitigen sehr guten Entwicklung der Molekularbiologie.

Die Finanzierung war über die letzten Jahre sehr gut, ich würde denken, wir stehen hier europaweit an der Spitze. Entsprechend gut sind auch die Resultate. Aber jetzt wird es schwierig durch die Kosten der Wiedervereinigung. Das werden wir deutlich zu spüren kriegen, daß das nicht alles umsonst geht. Schon jetzt hat der Tarifabschluß von sechs Prozent die versprochenen fünf Prozent Zuwachsraten, die in der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) und in der Max-Planck-Gesellschaft festgeschrieben waren, aufgefressen. Viele Probleme der DFG und der Max-Planck-Gesellschaft könnten mit 100 Millionen Mark gelöst werden. Sie müssen schreiben, daß es schwierig wird, und daß die ja nicht anfangen dürfen, sich jetzt auf den Lorbeeren auszuruhen.

(erschienen in „DIE WELT“ am 28. Oktober 1991)

Reaktionen ohne Hilfe des Gehirns

Wer sich mal die Finger verbrannt hat, weiß die blitzschnelle Reaktion seines Nervensystems zu schätzen. Denkt man nämlich über die eigene Ungeschicklichkeit nach, so wird man zu dem Schluß kommen, daß ein „primitiver“ Reflex uns vor weitaus Schlimmerem bewahrt hat.

Eine tiefgründige Analyse der Wechselwirkungen zwischen heißer Flamme und nackter Haut wäre in dieser Situation offensichtlich fehl am Platze gewesen. Stattdessen schützen uns „Direktschaltungen“ zwischen fühlenden Nervenzellen und den Muskeln des Körpers im Rückenmark. Die höheren Funktionen des Gehirns werden dazu nicht gebraucht.

Nicht einmal jede tausendste Nervenzelle gehört zur Klasse der sogenannten Motoneuronen. Diese Spezialisten sind es, die letztendlich den Muskelfasern den Befehl geben, sich zusammenzuziehen. Einer der einfachsten Schaltkreise wird beim Arzt überprüft: Wenn der Doktor mit dem Hämmerchen die richtige Stelle trifft- die Patellarsehne genau unterhalb der Kniescheibe -, schnellt das Bein nach vorne, selbst wenn der Patient sich noch so fest vornimmt, diese Bewegung zu verhindern.

In den letzten Jahren ist es gelungen, die Vorgänge zwischen Motoneuron und dem Zusammenziehen der Muskelfaser bis in molekulare Details aufzuklären. Ähnlich wie die Kommunikation zwischen zwei Nervenzellen beginnt die Aktion damit, daß das eingehende elektrische Signal einen chemischen Botenstoff freisetzt; in diesem Fall den Neurotransmitter Acetylcholin. Dieser bewirkt, daß der „Muskeltreibstoff“ Kalzium in die Muskelzellen strömt: Die Muskelfilamente verschieben sich gegeneinander, es kommt zur Kontraktion.

(erschienen in „DIE WELT“ am 23. Oktober 1991)

In der Welt der elektrischen Düfte

Elektrische Düfte durchziehen das Labor von Garry Lynch an der University of California in lrvine bei Los Angeles. Elektrische Düfte? Dr. Ursula Stäubli, die vor Jahren aus der Schweiz hierhergekommen ist, um den Geheimnissen des Lernens auf die Schliche zu kommen, muß etwas weiter ausholen.

Bei trainierten Ratten war es ihr gelungen, die Erinnerung an einen gelernten Geruch wieder wachzurufen; und zwar indem sie mit einer feinen Elektrode im Gehirn der Tiere an bestimmten Stellen einen winzig kleinen Strom anlegte. Dies ist möglich, weil die Hirnstrukturen, die an der Geruchserkennung beteiligt sind, schon recht genau kartiert sind.

Der Geruch war ursprünglich in fast schon klassischen Versuchen erlernt worden: Eine Ratte, die in einem Labyrinth sitzt, hat die Wahl zwischen zwei Düften. Geht sie dem einen nach – Rosenwasser etwa -, so erhält sie als Belohnung am Ziel einen Schluck Wasser. Verfolgt das Tier dagegen den anderen Geruch – Schweizer Käse vielleicht – so wird es am Ende des Ganges mit Lichtblitzen „geärgert“.

Innerhalb von einigen Dutzend Durchgängen lernen die Ratten zwischen den beiden Gerüchen zu unterscheiden. Auch beim nächsten oder übernächsten Geruchspaar lernen die Tiere die Lektion nach der 20 oder 30 Wiederholungen. „Wenn die Ratte dann wieder im Labyrinth sitzt; kann man beispielsweise einen unbekannten Geruchsstoff einsetzen, und einen anderen, der einmal gelernt wurde, nur elektrisch simulieren. Die Ratte wird dann dem gelernten Geruch nachgehen, obwohl der eigentlich gar nicht ‚wirklich‘ vorhanden ist.“

Bis zu 180 verschiedene Gerüche können so im Gehirn der Tiere gespeichert werden. Interessanterweise erfolgt das Lernen dabei immer schneller. Schon nach kurzer Zeit genügen den Ratten weniger als fünf Versuche, um den Unterschied zwischen „guten“ und „bösen“ Düften zu begreifen. Das einmal Gelernte bleibt dann über Monate hinweg präsent und kann sogar mit einer Elektrode abgerufen werden, wie Stäublis Experimente zeigen.

Dabei kommt der Biologin zugute, daß die betroffenen Hirnregionen verhältnismäßig einfach organisiert sind. Der „olfaktorische Kortex“, wo die Wahrnehmung des Geruchs erfolgt, enthält „nur“ vier Schichten von Nervenzellen; die Geruchsrezeptoren in der Nase leiten ihre Signale über nur eine Zwischenstation hierher. Die – verhältnismäßig – einfache Verkabelung ermöglicht es nicht nur, einzelne Neurone zu reizen; sie erlaubt es auch, anderen Fragestellungen gezielt nachzugehen.

Wie Professor Lynch bemerkt, hat man zwar eine ungefähre Vorstellung davon, wie sich bestimmte Verbindungen zwischen den beteiligten Nervenzellen beim Lernen „einschleifen“, das erklärt aber noch lange nicht alle Leistungen, die mit Lernen und Gedächtnis in Verbindung gebracht werden. So ist es beispielsweise noch völlig ungeklärt, wie Erinnerungen in eine zeitliche und räumliche Ordnung gebracht werden, wie sie ins Gedächtnis „zurückgeholt“ werden (wo waren sie denn in der Zwischenzeit?), oder wie es möglich sein kann, dem einmal Gelernten ständig neues hinzuzufügen, ohne alte Gedächtnisinhalte zu zerstören.

„Wir beanspruchen, mit unserer Arbeit eine biologische Theorie des Lernens und des Gedächtnisses zu errichten, die wohl mit den bisher existierenden psychologischen Erklärungsversuchen nicht viel gemeinsam haben wird. Da wird zum Beispiel über Kurzzeitgedächtnis und Langzeitgedächtnis gesprochen, aber unsere Ergebnisse und die anderer Arbeitsgruppen zeigen, daß es für diese Konzepte vielleicht gar keine biologische Entsprechung gibt. Wahrscheinlich handelt es sich stattdessen um einen kontinuierlichen Prozeß, dessen einzelne Elemente wir noch nicht lokalisieren können, weil die hier verwirklichten Vorgänge unserer Intuition zuwieder laufen.

Das ist wie in der Quantenphysik. Viele der Dinge, die man dort gefunden hat, sind in unserer alltäglichen Umgebung nicht zu beobachten. Aber wenn man das immer weiterverfolgt, dann kommt man schließlich zu einer Art Offenbarung, die die Art und Weise, wie wir die Welt sehen, völlig verändert. Wenn wir erst einmal am Ziel sind, werden wir nicht nur erkennen, wie Netzwerke von Nervenzellen miteinander arbeiten. Wir könnten ebenso eine Offenbarung erfahren. Vielleicht denken wir gar nicht, was wir denken.“

Diese tiefschürfenden Erkenntnisse hinderten Lynch allerdings nicht daran, zusammen mit dem Computerwissenschaftler Richard Granger die bei Ratten gefundenen Verschaltungsregeln in einem Computerprogramm zu simulieren. Wird dem Programm nun das elektronische Äquivalent eines neuen Duftes eingegeben, so können Lynch und Granger am Bildschirm verfolgen, wie die Software eine elektronische Antwort gibt, und immer wieder die gleichen Kunstneuronen aktiviert. Die große Überraschung kam, als das Programm begann, die Daten selbstständig in verschiedene Kategorien einzuordnen: die beiden hatten ihrer Software die Fähigkeit zur Erkenntnis mit auf den Weg gegeben…

(erschienen in „DIE WELT am 16. Oktober 1991)

Hirnforschung von der Keule bis zur Gentechnik

„Hirnschäden sind so alt wie die Menschheit“, sagt Stanley Finger, Professor für Psychologie an der Washington University im amerikanischen St. Louis. Er deutet dabei auf den drei Millionen Jahre alten Schädel eines Australophitecus, der offensichtlich von hinten mit einer Keule erschlagen wurde.

Vor etwa zehntausend Jahren, noch während der Steinzeit also, wurden bereits „Operationen“ durchgeführt, bei denen man die Schädeldecke öffnete. Neues Knochenwachstum im Bereich um die Wunde beweist, daß die Primitiv-Patienten derartige Eingriffe in vielen Fällen überlebten. „Wahrscheinlich haben die prähistorischen Mediziner Kopfweh und Geisteskrankheiten behandeln wollen“, meint Finger und verweist darauf, daß auch die alten Griechen Löcher in die Schädeldecke bohrten, um „böse Geister“ freizusetzen.

Nach derlei Pioniertaten brachte dann erst die Zeit der Aufklärung differenziertere Einsichten zutage. Emanuel Swedenborg postulierte 1734, daß verschiedene Gebiete der Großhirnrinde, in der die „höheren“ Hirnfunktionen angesiedelt sind, unterschiedliche Teile des Körpers kontrollieren.

Der Neurochirurg Paul Broca war es vermutlich, der den Anstoß zur der gruseligen Geschichte von Dr. Jekyll und Mr. Hyde gab. Im Jahre 1863 konnte er nämlich zeigen, daß die beiden Hälften des Gehirns teilweise unterschiedliche Funktionen ausüben. Weil das Sprachvermögen offensichtlich in der linken Hemisphäre lokalisiert war, glaubte man, die rechte Hälfte des Gehirns müsse die unzivilisierte – tierische – Komponente beherbergen.

Damit hatte man aber gerade erst an der Oberfläche gekratzt – und das im wahrsten Sinne des Wortes. Schaut man im Mikroskop auf die nur zwei bis drei Millimeter dicke Hirnrinde, so finden sich dort rund 100.000 Zellen auf einem Quadratmillimeter, geordnet in sechs Schichten, die auf zunächst undurchschaubare Weise miteinander verdrahtet sind.

Hätten nicht der spanische Hirnanatom Ramon y Cajal und sein italienischer Konkurrent Camillo Golgi gegen Ende des 19. Jahrhunderts eine neue Färbetechnik entwickelt – dieser „gordische Knoten“ in unserem Kopf wäre wohl noch immer ungelöst. Die Metallsalze des Farbstoffes färben scheinbar zufällig nur jeweils eine unter hunderten von Zellen an und machen damit das entsprechende Neuron erst wirklich sichtbar.

Jetzt konnte man die Zellen des Gehirns in ihrer verwirrenden Vielfalt zwar sehen; wie sie funktionierten wußte man aber immer noch nicht. Durch nach heutigen Maßstäben ziemlich rüde Experimente am offenen Gehirn von Epileptikern wußte man immerhin, daß das Ganze wohl etwas mit elektrischer Aktivität zu tun hatte.

Erst die vergleichsweise riesigen Neuronen des Tintenfischs erlaubten es, das Verhalten einzelner Nervenzellen zu untersuchen. Bei einem Durchmesser von bis zu einem Millimeter und mehreren Zentimetern Länge konnte man Elektroden in Form einer Glaskapillare entlang der Längsachse dieser Zellen einschieben. Setzte man jetzt einen kurzen elektrischen Reiz an einem Ende der Zelle, so konnte man beobachten, daß ein „Aktionspotential“ an der Elektrode vorüberzog. Nur wenn der Reiz eine gewisse Schwelle überschreitet, so pflanzt sich diese Spannungsdifferenz zwischen Zellinnen- und Außenseite über die ganze Zelle fort.

Aber wie? Heute weiß man durch die Arbeiten der frischgekürten Nobelpreisträger Bert Sakmann und Erwin Neher, daß winzig kleine Eiweißmoleküle in der Zellhülle – die Ionenkanäle – sich der Reihe nach öffnen. Innerhalb einer tausendstel Sekunde strömen pro Kanal rund 8000 geladene Teilchen (Ionen) ins Zellinnere, dann schließt sich der Kanal und andere Eiweiße befördern die eingedrungenen Ionen wieder nach draußen. Unterdessen wird der gleiche Vorgang am nächsten Kanal eingeleitet, so daß der Reiz sich innerhalb von Sekundenbruchteilen von einem Ende der Zelle zum anderen fortpflanzen kann.

Dort kann die Zelle das Signal dann auf das nächste Neuron übertragen. Das Aktionspotential führt dazu, daß am Zellende kleine Bläschen mit Neurotransmittern platzen. Diese Botenstoffe des Nervensystems überwinden dann den synaptischen Spalt, der zwei Nervenzellen voneinander trennt. Auf der nachgeschalteten Zelle wird die chemische Botschaft durch Rezeptormoleküle empfangen und – wenn der Reiz stark genug ist – ein neues Aktionspotential ausgelöst.

Gentechnische Methoden haben es in den letzten Jahren möglich gemacht, die Erbinformationen für eine Vielzahl von Ionenkanälen und Rezeptoren aufzuspüren und die entsprechenden Gene zu isolieren. Erst kürzlich wurde auch die Struktur eines Eiweißes aufgeklärt, das den Neurotransmitter Acetylcholinesterase zerlegt.

Diese Methoden erlauben es, die Schlüsselmoleküle des Nervensystems in großen Mengen herzustellen, für weitere Experimente ebenso wie für die Entwicklung dringend benötigter Medikamente. Geschätzte 800.000 Patienten, die unter der Alzheimer´schen Krankheit leiden und deren Angehörige warten ebenso dringend auf neue Arzneien, wie die ungefähr 3,2 Millionen Menschen, die in Deutschland zumindest zeitweilig unter Krankheiten des Nervensystems leiden.

Vielleicht können die bösen Geister, die man schon in der Steinzeit beschwor, dann doch noch verjagt werden. Und vielleicht lassen sich die Wunder, die ein gesundes Gehirn vollbringt, auch einmal mit Maschinen erzielen, von denen die Ingenieure heute nur träumen können.

(erschienen in „DIE WELT“ am 11. Oktober 1991)