Wer glaubt, seinem Gummibaum durch tägliche Streicheleinheiten zu schnellerem Wachstum verhelfen zu können, der irrt. Über 80 Prozent aller Pflanzenarten reagieren zwar auf mechanische Reize wie Wind, Regen und andere Berührungen, doch diese Gewächse bleiben meistens kleiner als ihre unbehelligten Artgenossen. Schon vor 20 Jahren beobachtete man, dass bereits das regelmäßige Vermessen von Laborpflanzen ausreicht, um deren Wachstum merklich zu beeinträchtigen.

Thigmomorphogenese heißt der Zungenbrecher, mit dem Botaniker dieses Phänomen beschreiben. Janet Braam und Ronald Davis von der Stanford-Universität in Kalifornien gelang es jetzt, einige der Vorgänge aufzuklären, die bei diesem rätselhaften Anpassungsverhalten in den Pflanzen ablaufen. Die Forscher untersuchten dazu Arabidopsis-Gewächse, eine Spezies, die sich in den Labors der Molekularbiologen großer Beliebtheit erfreut. Es zeigte sich, dass Pflanzen, die zweimal täglich sanft gestreichelt wurden, dabei im Wachstum deutlich zurückblieben; schon nach 14 Tagen hatten ungestörte Kontrollpflanzen mehr als die doppelte Höhe erreicht.

Wie die beiden Wissenschaftler jetzt in der Fachzeitschrift „Cell“ berichten, werden unter den Abertausenden von Pflanzengenen durch Regen, Wind oder Berührung der Blätter nur vier oder fünf aktiviert. Dadurch nimmt die Anzahl der Botenmoleküle (mRNA), die diese genetischen Informationen zu den Eiweiß-Fabriken der Zellen tragen, rapide zu. Bereits 30 Minuten nach der Behandlung haben sie sich um das Zehn- bis Hundertfache vermehrt. Dabei waren die Pflanzen offensichtlich in der Lage, die Stärke der Berührung zu erspüren. Je mehr Gewicht nämlich auf den Blättern lastete, umso kräftiger vermehrten sich die Botenmoleküle der Berührungsgene.

Doch welche Eiweißstoffe sind es, deren Produktion durch die Berührungsgene angekurbelt wird? Und was bewirken diese Substanzen in der Pflanze? Um diese Fragen zu klären, ermittelten die Forscher zunächst die exakte Reihenfolge (Sequenz) der molekularen Bausteine für die fadenförmigen Erbmoleküle. Mit Computerhilfe wurden die gefundenen Sequenzen dann mit denen verglichen, wie sie in internationalen Datenbanken für jedermann frei zugänglich sind. Eines der gefundenen Berührungsgene, so ergab die Computersuche, enthält den Bauplan für Calmodulin. Zwei weitere Eiweiße, die von den Arabidopsis-Gewächsen produziert werden, sind dem Calmodulin offensichtlich sehr ähnlich. Dieses Eiweiß ist bei allen Tier- und Pflanzenarten zu finden und spielt bei der Weiterleitung von Reizen eine zentrale Rolle.

In Pflanzen ist Calmodulin unter anderem an der Regulation von Zellteilung, Zellwachstum und Photosynthese (Herstellung von Zuckern mit Hilfe des Sonnenlichts) beteiligt. Calmodulin arbeitet dabei wie eine Kommandozentrale, in der Informationen über den Zustand der Pflanze gesammelt werden. Als Nachrichtenträger dienen Calcium-Ionen, die sehr ungleichmäßig in den verschiedenen Teilen der Pflanze verteilt sind. Durch eine Berührung – so spekulieren Braam und Davis – könnten diese geladenen Teilchen schlagartig aus ihren Depots in den pflanzlichen Zellen freigesetzt werden. Jedes Calmodulin-Molekül bindet dann bis zu vier dieser Ionen gleichzeitig – je mehr Calcium vorhanden ist, umso mehr Bindungsstellen werden besetzt.

Abhängig von der Anzahl der gebundenen Ionen wählt sich Calmodulin unterschiedliche Reaktionspartner. Dadurch können weitere Eiweißmoleküle (cAMP-Phospodiesterase und ATPase) aktiviert werden, die direkt in den pflanzlichen Stoffwechsel eingreifen oder, Staffelläufern gleich, den Einsatzbefehl in die entferntesten Winkel der Zelle tragen. Das Rätsel der Thigmomorphogenese ist damit allerdings noch längst nicht vollständig gelöst. Es bleiben weitere Fragen: Was bewirken die beiden Eiweiße, die bisher noch nicht identifiziert werden konnten? Warum muss die Zahl der Calmodulin-Moleküle nach dem Berührungsreiz vermehrt werden? Strenggenommen, so betonen die Forscher ist sogar, ist noch nicht einmal bewiesen, „dass“ die gefundenen Eiweiße für die Wachstumshemmung verantwortlich sind.

(erschienen in der WELT am 19. Mai 1990. Letzte Aktualisierung am 8. März 2017)

Originalliteratur: Braam J, Davis RW. Rain-, wind-, and touch-induced expression of calmodulin and calmodulin-related genes in Arabidopsis. Cell. 1990 Feb 9;60(3):357-64.

Was ist daraus geworden? Mit mehr als 700 Zitierungen bekam diese Fachpublikation enorm viel Aufmerksamkeit von der Forschergemeinde. Beide Wissenschaftler sind heute noch aktiv, und Davis wurde noch mit 73 Jahren von der Zeitschrift The Atlantic für seine Erfindungen in der Biotechnologie als einer der größten lebenden Innovatoren geehrt.