In den Industrieländern können vier von zehn Krebskranken heute von Chirurgen und Strahlentherapeuten gerettet werden. Durch die Weiterentwicklung der Bestrahlungstechniken will man am Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) in Heidelberg diese Erfolgsquote weiter steigern. Denn noch immer sterben jährlich in Europa rund 265.000 Menschen, weil ein örtlich wachsender Tumor nicht auf Dauer in Schach gehalten werden kann.

Bei der erschreckend hohen Zahl der Betroffenen könnten selbst kleine Fortschritte in der Strahlentherapie Tausende von Menschenleben retten. Wolfgang Schlegel von der Abteilung Physik und medizinische Strahlenphysik des Krebsforschungs-Zentrums zog kürzlich eine Bilanz über die Bemühungen, die Strahlentherapie im Bereich von Kopf und Hals zu verbessern.

In Zusammenarbeit mit der Radiologischen Klinik der Universität Heidelberg sucht man nach neuen Wegen, möglichst viel Strahlung auf den Tumor zu richten, ohne dabei das umliegende gesunde Gewebe zu zerstören. Dem steht entgegen, daß die energiereichen Strahlen auf dem Weg zu den meist versteckt im Schädelinneren liegenden Geschwülsten erst die Schädeldecke passieren müssen, um anschließend zentimeterdicke Schichten gesunder Zellen zu durchqueren – oftmals an besonders strahlenempfindlichen Strukturen vorbei wie den Sehnerven oder dem Hirnstamm. Unregelmäßig geformte Tumoren erschweren die Therapie zusätzlich.

Mit großem technischem Aufwand war es der zwölfköpfigen Arbeitsgruppe in den letzten drei Jahren möglich, für 160 Patienten individuelle „dreidimensionale Behandlungspläne“ zu erstellen. Die mit Computer- und Magnetresonanz-Tomographie gewonnenen Daten über Lage, Form und Ausmaß des Tumors werden in räumliche Bilder umgesetzt. Darauf lassen sich auch Bereiche hervorheben, die durch Strahlung besonders gefährdet sind.

Im nächsten Schritt wird dann am Computer simuliert, aus welchen Richtungen bestrahlt werden muß, um ein möglichst günstiges Verhältnis von Wirkung und Nebenwirkung zu erhalten. Die Form der Strahlenbündel kann zudem durch eine verstellbare Blende genau dem Umriß des Tumors angepaßt werden. Der Therapieplan wird so lange neu berechnet, bis die optimale Einstellung gefunden wurde.

Um die Präzision auch während der eigentlichen Behandlung zu gewährleisten, hat man sich in Heidelberg einiges einfallen lassen. Die Patienten tragen dabei individuell angefertigte Gesichtsmasken aus Kunststoff, die mit einer stabilen Halterung fixiert werden. Laser helfen, den Patienten jeweils exakt zu lagern. Dadurch ist es möglich, im Verlauf von sechs Wochen dreißig Bestrahlungen mit einer Genauigkeit von einem Millimeter durchzuführen.

Durch gleichzeitige Rotation von Patient und Gerät gelingt es, eine extrem hohe Strahlendosis zu erzielen und dennoch das umliegende Gewebe zu schonen. Auch die Implantation radioaktiver Substanzen direkt ins Gehirn, die sogenannte interstitiale Bestrahlung, profitiert von diesem Prinzip. Hiermit wurden an insgesamt 350 Patienten gute Ergebnisse erzielt. Wie groß die Vorteile der Präzisionsstrahlentherapie gegenüber dem herkömmlichen Vorgehen sind, läßt sich derzeit nicht exakt ermitteln, weil es sich bei den meisten Heidelberger Patienten um schwierige Fälle handelte. Nach einer Überarbeitung der Computerverfahren und der mechanischen Komponenten durch eine medizintechnische Firma soll die Methode jedoch in Kürze allen interessierten strahlentherapeutischen Einrichtungen zur Verfügung stehen, sagte Schlegel.

Gleichzeitig fördert die Europäische Gemeinschaft die dreidimensionale Strahlentherapie. Im Rahmen des Covira-Programms werden knapp 20 Millionen Mark bereitgestellt, die auch der Entwicklung neuartiger, computergestützter Anatomieatlanten des Gehirns zugutekommen. Covira steht für „Computer Vision in Radiology“. Das Programm zielt darauf ab, den Ärzten schon vor Beginn der Behandlung eine möglichst genaue räumliche Vorstellung des Schädelinneren zu vermitteln.

Die größten Schwierigkeiten bei der Verbreitung der in Heidelberg entwickelten Methoden sieht Schlegel in der noch äußerst kleinen Anzahl von Spezialisten. Die Kostenfrage steht erst an zweiter Stelle. Gegenüber der herkömmlichen Radiotherapie sind die neuen Techniken zwar nur 10 Prozent teurer, doch sind für eine Bestrahlungseinheit schon jetzt etwa vier Millionen Mark aufzubringen.

Künftig soll die Präzisionsstrahlentherapie auch bei anderen, schwer zugänglichen Tumoren erprobt werden. In Frage kämen der Prostatakrebs oder Tumoren des Enddarms und der Lunge. Zudem hofft man, neben den bisher üblichen Photonenstrahlen bald auch Protonen und – in 10 bis 15 Jahren sogar schwere Ionen nutzen zu können.

Diese Teilchenstrahlen streuen im Gewebe weniger als Photonen. Mit den geladenen Teilchen ließen sich vor allem diejenigen Tumoren besser bekämpfen, die sich in unmittelbarer Nähe empfindlicher Organe befinden.

Während Schlegel sich vom Aufbau einer derartigen „Strahlenpyramide“ erhofft, mehr Menschenleben retten zu können, gab sich sein englischer Kollege Richard Peto in Heidelberg eher skeptisch. Peto, der durch die Entwicklung neuer mathematischer Methoden zur Analyse medizinischer Studien von sich reden machte, glaubt, daß wesentlich mehr Patienten von einer Entrümpelung der deutschen Datenschutzgesetze profitieren würden als von der Weiterentwicklung der Strahlentherapie.

„Ein ausufernder Datenschutz kann lebensrettende Forschung verhindern“, meinte der streitbare Epidemiologe. Auch das Erkennen von schädlichen Umwelteinflüssen werde dadurch verzögert. Innerhalb Europas seien die Schwierigkeiten in Deutschland am größten. So könnte selbst ein Reaktorunfall, den man verheimlicht, wegen der Gesetzeslage im Zweifelsfall nicht nachgewiesen werden. Falsch verstandene ethische Richtlinien dürften daher unnötige Todesfälle zur Folge haben.

(erschienen in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung am 30. Dezember 1992)