Einen Computer, der Texte erkennt und vorliest, präsentierte Professor Terrence Sejnowski in einer amerikanischen Fernsehshow. Die Zuschauer waren begeistert von der ersten TV-Demonstration eines künstlichen neuronalen Netzes. Ein perfektioniertes System könnte etwa Blinden aus der Zeitung vorlesen; öffentliche Bibliotheken ließen sich per Telefon abfragen.

Nur Marvin Minsky, der jahrelang gepredigt hatte, daß derartige Leistungen nur mit der Progammiertechnik der Künstlichen Intelligenz zu verwirklichen seien, wollte das „Gestammel“ nicht verstanden haben. Wie auch immer, der Computer verdankt seine Fähigkeiten einem Programm (NETtalk), das eine Anordnung von mehreren Hundert Nervenzellen in drei Schichten simuliert. Die Eingabeschicht erkennt Textstücke von je sieben Buchstaben und ist über eine Zwischenschicht mit 26 „Ausgabeneuronen“ verbunden. Diese spezialisieren sich auf 17 Phoneme, auf Pausen, Betonungen und Übergänge – die Grundelemente der Sprache.

Anfangs gibt der angeschlossene Lautsprecher nur Unsinn von sich, doch wird nach jedem Fehler die korrekte Aussprache in der Ausgabeschicht eingestellt und die Stärke der Verbindungen zur Zwischenschicht verändert. Verbesserte Aussprache wird mit verstärkten Verbindungen zur Ausgabeschicht „belohnt“ und umgekehrt; langsam tastet man sich an das richtige Ergebnis heran.

Nach dem Lernen einiger Tausend Worte klingt das Netz in etwa 90 Prozent aller Fälle richtig – und das völlig ohne Regelwerk und ohne eine lange Liste der vielen sprachlichen Ausnahmeregeln. Unbekannte Worte werden fast so gut erkannt wie bereits einstudierte. NetTalk lernt also Regeln, die weder Linguisten noch Neurobiologen noch Programmierer bisher ergründen konnten.

(erschienen in „DIE WELT“ am 30. Oktober 1991)