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Polio-Opfer lehnten Impfung aus Glaubensgründen ab

Bei der jüngsten Poliomyelitis-Epidemie in den Niederlanden sind bislang 68 Erkrankungen erfaßt worden, zwei dieser Patienten sind an der Krankheit gestorben. Das hat Dr. Tom van Loon aus Bilthofen auf einem Symposium, das im Hygieneinstitut der Universität Bonn stattfand, berichtet. Wie der Leiter der Virologischen Abteilung am Reichsinstitut für Volksgesundheit und Umwelthygiene Bilthofen erläuterte, wurden Lähmungen der Extremitäten bei 42 Kranken registriert, bei sieben Patienten war eine künstliche Beatmung erforderlich, außerdem erkrankten elf Infizierte an einer Meningitis.

Trotz eines mittleren Durchimpfungsgrades von 97 Prozent ist nach Angaben von van Loon in manchen eng begrenzten Regionen der Niederlande jeder zehnte ungeschützt. Außer Menschen, die während des Zweiten Weltkrieges geboren wurden und dadurch in eine „Impflücke“ fielen, handelt es sich vorwiegend um jene 80.000 Angehörigen verschiedener religiöser Gemeinschaften, welche Impfungen aus Glaubensgründen ablehnen. Bis auf eine Ausnahme zählten alle 68 Opfer der jüngsten Epidemie zu diesem Personenkreis. Bei der Epidemie des Jahres 1978 sei der gleiche sozio-geographische „Cluster“ betroffen gewesen, sagte van Loon. Damals habe es 110 Opfer gegeben.

Die Chronologie der jüngsten Ereignisse belegt nach Ansicht des Virologen außer der Notwendigkeit von Schutzimpfungen auch die Effizienz des niederländischen Gesundheitswesens: Am 17. September des vergangenen Jahres wurden Lähmungserscheinungen bei einem 14jährigen Jungen aus Streefkerk bei Rotterdam registriert.

Innerhalb weniger Tage ergaben epidemiologische und molekularbiologische Befunde die Diagnose „Polio Typ III“, so daß schon am 21. September allen Personen ohne ausreichenden Impfschutz in einem Umkreis von 55 Kilometern um Streefkerk die Poliovakzine angeboten werden konnte – womit laut van Loon Schlimmeres verhindert worden ist. Die Herkunft des Virus sei aber noch immer unbekannt, es weise lediglich eine entfernte Ähnlichkeit mit einem indischen lsolat auf.

Aus Genf lobte inzwischen Robert Kim-Farley, Direktor des WHO-lmpfprogrammes, die „effiziente und professionelle Arbeit der holländischen Kollegen“, fügte aber gleichzeitig eine Warnung hinzu: Die Lektion besteht darin, daß selbst die Länder mit dem besten Impfschutz dem Risiko importierter Infektionen und Epidemien ausgesetzt sind, solange das Poliovirus nicht völlig von diesem Planeten verschwunden ist.“

(erschienen in der Ärzte-Zeitung am 8. April 1993)

Polio – Die Ausrottung bleibt ein Traum

In vielen Entwicklungsländern fordert die Kinderlähmung (Poliomyelitis) auch heute noch ihre Opfer. Schätzungen über die Zahl derjenigen, die von dieser Viruskrankheit betroffen sind, schwanken zwischen 250000 und zwei Millionen Menschen.

In den industrialisierten Ländern dagegen, wo schon seit Ende der fünfziger Jahre umfassende Impfprogramme zum Schutz der Bevölkerung‘ eingeführt wurden, tritt die grausame Krankheit nur noch sehr selten auf. Nach Angaben des Berliner Bundesgesundheitsamtes (BGA) sowie des Statistischen Bundesamtes in Wiesbaden erkrankte im letzten Jahr in der Bundesrepublik nur noch eine einzige Person an der Poliomyelitis. Auch für die Jahre davor lässt sich die Zahl derjenigen, die nach einer Infektion mit dem Virus erkrankten, an zwei Händen abzählen.

Wie Dr. Klaus-Dieter Zastrow vom Institut für Sozialmedizin und Epidemiologie des BGA betonte, handelte es sich dabei ausschließlich um eingeschleppte Fälle: Die Betroffenen hatten sich jeweils während eines Auslandaufenthaltes infiziert. Auch diese Ansteckungen hätten sich wohl zum größten Teil vermeiden lassen, wenn die Reisenden rechtzeitig an einer Auffrischungsimpfung teilgenommen hätten. Zumeist waren die Betroffenen nämlich noch nie geimpft worden; in anderen Fällen lag die Impfung schon mehr als 20 Jahre zurück. Die Mediziner warnen daher vor einer völlig unberechtigten Impfmüdigkeit in der Bevölkerung.

Prominentes Opfer: Der US-Präsident Franklin Roosevelt wurde 1921 ein Opfer der Poliomyelitis und war seitdem von der Hüfte ab weitgehend gelähmt (Foto: Margaret Suckley via Wikimedia Commons) Prominentes Opfer: Der US-Präsident Franklin Roosevelt erkrankte 1921 an der Poliomyelitis und war seitdem von der Hüfte ab weitgehend gelähmt (Foto: Margaret Suckley via Wikimedia Commons)

Prominentes Opfer: Der US-Präsident Franklin Roosevelt erkrankte 1921 an der Poliomyelitis und war seitdem von der Hüfte ab weitgehend gelähmt (Foto: Margaret Suckley via Wikimedia Commons)

Selten wurde eine schwere Krankheit so schnell unter Kontrolle gebracht wie die Kinderlähmung in Nordamerika und Europa nach Einführung des ersten Impfstoffes. Zahlen für die USA belegen den drastischen Rückgang der Infektionen: Fast 40000 Erkrankungen pro Jahr lautete die Bilanz, als 1954 eine landesweite Kampagne gestartet wurde, in der eine von Dr. Jonas Salk entwickelte Vakzine aus abgetöteten Krankheitserregern zum ersten Mal zum Einsatz kam. Wenige Jahre später war die Anzahl der Kinderlähmungen schon auf unter 600 Fälle gesunken.

Nachdem Albert Sabin Anfang der sechziger Jahre einen Impfstoff aus abgeschwächten lebenden Polioviren entwickelt hatte, ging die Zahl der Kinderlähmungen in den USA nochmals zurück – auf mittlerweile kaum mehr als ein Dutzend Erkrankungen pro Jahr.

Das ursprüngliche „wild type“-Virus war von Sabin und seinen Kollegen so lange in Zellkulturen gehalten worden, bis sich schließlich eine Variante isolieren ließ, die zwar die fatale Krankheit nicht mehr hervorrief, die das Immunsystem aber noch in vollem Umfang stimulierte. Dieser „Sabin“-Impfstoff zählt heute zu den sichersten Vakzinen überhaupt und wurde von der Bevölkerung bislang voll akzeptiert. Dazu trug sicher auch die einfache und schmerzlose Art der „süßen“ Schluckimpfung bei.

In extrem seltenen Fällen – etwa bei einer unter drei Millionen Impfungen – treten jedoch Komplikationen auf, die unter anderem dadurch zustande kommen, dass die – lebenden – Viren durch spontane Genveränderungen ihre krankmachende Eigenschaft zurückgewinnen. Auch Geimpfte können dann unter Umständen an der Kinderlähmung erkranken. Mit gentechnischen Tricks „umgebaute“ Polioviren sollen in Zukunft dazu beitragen, das Impfrisiko noch einmal zu senken.

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) ist von der Wirksamkeit der Poliomyelitis-Impfung so überzeugt, dass sie 1976 ein Programm startete, das sich neben anderen Krankheiten auch die Ausrottung der Kinderlähmung bis zum Jahre 1990 zum Ziel gesetzt hatte. Leider wurde der schöne Traum, Krankheiten weltweit auszurotten, bisher nur für die Pocken verwirklicht. Im Falle der Poliomyelitis stehen dem jedoch die mangelhaften hygienischen Verhältnisse in den Entwicklungsländern entgegen: Das Virus wird nämlich häufig durch Fäkalien übertragen, die ins Trinkwasser gelangen.

Der Lebendimpfstoff muss auch dort versagen, wo Durchfall (Diarrhö) eine weitverbreitete Erscheinung ist. In Indien sind etwa 30 Prozent der Neuerkrankungen darauf zurückzuführen, dass die Impfviren, die den Schutz vermitteln sollen, ausgeschieden werden, bevor sie sich im Darm ansiedeln können. Es wird daher auch die Frage diskutiert, ob sich für diese Länder nicht die gute alte – inzwischen mehrfach verbesserte – Vakzine aus abgetöteten Erregern besser eignet, die mittels Spritzen injiziert wird.

Für die Bundesrepublik jedoch halten es Fachleute wie Dr. Horst- Günther Weber, Medizinischer Direktor des Gesundheitsamtes Hannover, für erforderlich, die gegenwärtige Praxis der Poliomyelitis-Schluckimpfung beizubehalten. Diese solle auch weiterhin vom öffentlichen Gesundheitsdienst und niedergelassenen Ärzten gleichermaßen angeboten werden, betont der Experte in einem Beitrag für die Zeitschrift „Sozialpädiatrie“.

Wiederholungsimpfungen sollten im Abstand von etwa zehn Jahren durchgeführt werden, um einen hohen Durchimpfungsgrad zu gewährleisten. Die einstmals gefürchtete Kinderlähmung kann so auch weiterhin in Schach gehalten werden.

(erschienen in der WELT vom 26. August 1989)

59-info@2xWas ist daraus geworden? Noch immer ist die Kinderlähmung nicht ausgerottet. Seit dem Erscheinen meines Artikels ist die Zahl der Fälle zwar weltweit um 99 % gesunken, und die letzte Ansteckung in Deutschland gab es im Jahr 1990. Zu oft wurden jedoch Impfkampagnen durch Kriege und neuerdings auch religiöse Fanatiker verhindert oder abgebrochen.