Als „Medizinische Wunder auf Rädern“ werden Männer vom Schlage eines Miguel Indurain immer wieder beschrieben. Mit seinem rekordverdächtigen Kreislaufsystem ist der Baske auch in diesem Jahr wieder Favorit auf den Gewinn der Tour de France.

Doch auch seine Mitstreiter fallen – im medizinischen Sinne – aus dem Rahmen: „Ich bin mir ziemlich sicher, daß sie hier keine normalen Leute finden“, sagt Ulrich Hartmann vom Institut für Sportmedizin der Universität Köln.

Während auch Normalbürger mit einigem Trainingsaufwand in der Lage sein dürften, im Flachland 200 Kilometer an einem Tag mit dem Fahrrad zurückzulegen, wird etwa für die vorstehenden Bergetappen schon ein besonderes Rüstzeug braucht: Eine der Grundvoraussetzungen für diese ungeheure Ausdauerleistung ist, salopp formuliert, eine Sonderausstattung der Radprofis. Denn die meisten von ihnen tragen schon von Geburt an einen extrem hohen Anteil roter Muskelfasern mit sich. Diese Art von Kraftpaketen – sie bewirken die Ausdauer – machen bei den meisten Menschen kaum mehr als die Hälfte der Muskelmasse aus; der Rest ist für die Schnellkraft zuständig.

Die Top-Athleten der Tour de France dagegen verfügen über bis zu 90 Prozent roter Muskelfasern. Sie liegen mit diesem Wert in einem Bereich, der höchstens von jedem zwanzigsten Menschen erreicht wird. Während die Zahl der Fasern zeitlebens konstant bleibt, läßt sich deren Form und Inhalt sehr wohl beeinflussen. Über mindestens sieben Jahre sollte man dafür gut 40000 Trainingskilometer pro Saison abstrampeln, rät Ausdauerspezialist Hartmann. Nach dieser Strecke – sie entspricht etwa sechs Erdumrundungen – hat sich die Zahl der kraftspendenden Mitochondrien in jeder Zelle mehr als verdoppelt.

Doch auch das beste Kraftwerk ist nutzlos, wenn nicht genug Brennmaterial zur Verfügung steht: Energiequelle Nummer eins ist der Sauerstoff, der von den roten Blutkörperchen transportiert wird. So überrascht es kaum, daß die Athleten nicht nur mit straffen Waden beeindrucken: Nach drei bis vier Wochen Höhentraining haben sie ihre Blutmenge deutlich vermehrt. Der mithin verbesserte Sauerstofftransport (er kann auch durch die verbotene Eigenbluttransfusion erreicht werden) erhöht die Leistung um etwa drei Prozent – ein Vorteil, auf den heute kaum ein Radprofi verzichten kann.

Mit Sauerstoff beladen werden die Blutzellen in der Lunge. Auch sie ist bei Radprofis vergleichsweise oft überdimensioniert und faßt beim Ausnahmesportler Miguel Indurain mit 7,8 Litern ein Viertel mehr als bei den besten Amateuren. Schließlich ist auch das letzte Glied der Kette an die extremen Anforderungen hervorragend angepaßt: Radprofis haben große Herzen, manchmal sind sie doppelt so groß wie die 0,8 Liter eines, sagen wir, Büroangestellten.

Auch Sportmediziner sprechen hier allerdings seltener von Rekordmaßen, eher schon von krankhaften Veränderungen. Während des Rennens pumpen diese Herzen dann in jeder Minute bis zu 40 Liter Blut durch die Venen – das entspricht immerhin dem Inhalt eines mittleren Aquariums. Die 50 Liter, die Champion Indurain zugeschrieben werden, hält Hartmann allerdings für übertrieben. Auch Radprofis sind Menschen; spätestens in den Bergen werden sie durch die wachsende Zahl der Aussteiger daran erinnert. Zwischen zehn bis zwölf Liter Flüssigkeit schwitzen sie dann heraus. Nicht umsonst gibt es in jedem Team die Wasserträger, deren Aufgabe im Wortsinn auch darin besteht, im Viertelstundenrhythmus die Depots der Stars aufzufüllen.

Am Berg steigt der Energieverbrauch auf bis zu 10.000 Kilokalorien am Tag. Das ist nicht nur viermal so viel wie der Grundumsatz – es ist auch deutlich mehr als jene 6000 Kilokalorien, welche die Sportler in den kurzen Pausen in sich hineinschaufeln können. Anders als im Flachland reicht die Verbrennung mit Sauerstoff jetzt oft nicht mehr aus. Es wird umgeschaltet, zunächst auf die Kohlehydratreserve der Leber und schließlich – wie bei Verhungernden – auf die Eiweißbausteine der Muskeln. Wer auch diese Herausforderung noch besteht, hat gute Chancen, beim Endspurt der Tour auf den Champs Elysee dabei zu sein.

(erschienen in der WELT am 20. Juli 1993)