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Ein Jungbrunnen für die Muskeln?

Inspiriert von einem Fachartikel, den ich für Univadis.de geschrieben habe, habe ich das Wort „Urolithin“ gegoogelt. Binnen einer halben Sekunde findet die Suchmaschine 180.000 Einträge. Der oberste stammt von der Wikipedia, ist äußerst knapp und belehrt mich: „Die Urolithine sind eine Gruppe natürlicher Phenole, die beim Abbau von Ellagsäure und Ellagitanninen im Verdauungstrakt entstehen.“ Ellagsäure und Ellagitannine sind wiederum in Granatäpfeln enthalten – und das ist wohl auch der Grund, warum Google mir noch über den eigentlichen Suchergebnissen gleich 5 Anbieter von Granatapfel-Extrakten einblendet.

Eine Handvoll Kapseln kostet zwischen 20 und 55 Euro, und dafür gibt es z.B. „Vorbeugung und Unterstützung für das Herz-Kreislaufsystem“, „Antioxidantien“, „gesundheitsfördernde Polyphenole“, „wertvolle Mineralstoffe“ und „optimale Bioverfügbarkeit der verwendeten Inhaltstoffe“.

Generell bin ich sehr skeptisch, was die Versprechungen von Nahrungsergänzungsmitteln angeht. Zwar habe ich auch schon Vitaminpillen und Kombipräparate geschluckt. Spätestens als im Jahr 1996 jedoch eine große Studie ergeben hatte, dass Vitamin B und E bei Rauchern das Risiko für Lungenkrebs erhöhten, lasse ich die Finger von dem Zeug und verlange generell harte Beweise für den Nutzen jeglicher Pille, bevor ich sie schlucke.

Harte Beweise findet man häufig in klinischen Studien, und so wurde ich hellhörig, als ich in der Fachzeitschrift JAMA Network Open von den Effekten einer Supplementierung durch Urolithin A auf die Muskelausdauer und „mitochondriale Gesundheit“ bei älteren Menschen las. Grund zur Skepsis gibt zwar die kleine Zahl von nur 66 Teilnehmern und die Finanzierung der Studie durch das Unternehmen Amazentis, wo man sich weltweite Patente für eine Urolithin A-Zubereitung unter dem Markennamen Mitopure™ gesichert hat.

Immerhin war die Studie aber randomisiert und doppel-blind angelegt. Das bedeutet, dass die Teilnehmer nach dem Losverfahren täglich entweder 1 Gramm Urolithin A erhielten oder ein wirkungsloses Scheinpräparat (Placebo). Um zu verhindern, dass die Erwartung das Ergebnis beeinflussen würde, erfuhren zudem die beteiligten Wissenschaftler und die Probanden erst am Ende der Studie, wer was erhalten hatte.

Wie es sich für eine ordentliche Studie gehört, hatten die Forscher im Voraus festgelegt, woran sie den Nutzen von Urolithin A messen wollten: Die durchschnittlich 72 Jahre alten Senioren mussten zu Beginn der Studie und nach 4 Monaten 6 Minuten lang gehen, wobei die Zahl der Schritte gemessen wurde. Jene, die Urolithin A bekommen hatten, schafften im zweiten Anlauf 61 Meter mehr, bei den Placebo-Empfängern waren es 43 Meter. Zwar sieht dies auf den ersten Blick wie ein leichter Vorteil für das Nahrungsergänzungsmittel aus. Die statistische Analyse ergab jedoch, dass der Unterschied ebenso gut auf einer zufälligen Schwankung beruhen könnte („nicht signifikant“).

Als nächstes schauten die Forscher mithilfe der Magnetresonanzspektroskopie in Muskeln der Hand und am Schienbein nach, ob die Substanz ATP (eine Art „Energieriegel“ für die Zellen) nach zweimonatiger Einnahme von Urolithin A gegenüber Placebo vermehrt gebildet wurde. Dies war indes nicht der Fall. Am Schienbeinmuskel hatten die Produktion von ATP unter Urolithin A scheinbar sogar abgenommen. Doch auch hier ergab die statistische Analyse: kein signifikanter Unterschied.

Umso erstaunlicher mutet das Ergebnis des dritten Tests an, den die Wissenschaftler unternommen haben: Sie baten ihre Probanden, möglichst oft die Hand- bzw. Schienbeinmuskeln anzuspannen und zählten die Zahl der Kontraktionen bis zur Erschöpfung. Diejenigen Senioren, die 2 Monate lang Urolithin A genommen hatten, schafften dies in der Hand durchschnittlich 95 mal, und am Schienbein 41 mal. Probanden, die nur ein Placebo bekommen hatten, erreichten dagegen nur 12 bzw. 6 Kontraktionen. Allerdings: Nach 4 Monaten hatten die Placebo-Empfänger deutlich aufgeholt, sodass der Unterschied zwischen den Gruppen gemäß den Regeln der Statistik erneut nicht eindeutig (signifikant) war.

Trotz dieser eher zwiespältigen Ergebnisse kommen die Autoren der Studie – darunter mehrere Mitarbeiter des Herstellers – zu dem Schluss, dass Urolithin A bei längerfristigem Gebrauch dem alters-assoziierten Muskelschwund entgegenwirken könnte. Begierig wurde die, von einer Pressemitteilung begleitete, Geschichte vor allem in den USA von den Medien aufgenommen. Schon wird Urolithin A als „Jungbrunnen“ gefeiert, der die Leistung steigert und das Altern der Muskeln umkehren könne. Für den Hersteller sind das sicher gute Nachrichten. Ich aber bleibe bei meiner Skepsis und setze gegen Alterserscheinungen weiterhin auf schweißtreibende Ausritte mit meinem Rennrad.

Quellen:

Kraftwerke auf Rädern

Als „Medizinische Wunder auf Rädern“ werden Männer vom Schlage eines Miguel Indurain immer wieder beschrieben. Mit seinem rekordverdächtigen Kreislaufsystem ist der Baske auch in diesem Jahr wieder Favorit auf den Gewinn der Tour de France.

Doch auch seine Mitstreiter fallen – im medizinischen Sinne – aus dem Rahmen: „Ich bin mir ziemlich sicher, daß sie hier keine normalen Leute finden“, sagt Ulrich Hartmann vom Institut für Sportmedizin der Universität Köln.

Während auch Normalbürger mit einigem Trainingsaufwand in der Lage sein dürften, im Flachland 200 Kilometer an einem Tag mit dem Fahrrad zurückzulegen, wird etwa für die vorstehenden Bergetappen schon ein besonderes Rüstzeug braucht: Eine der Grundvoraussetzungen für diese ungeheure Ausdauerleistung ist, salopp formuliert, eine Sonderausstattung der Radprofis. Denn die meisten von ihnen tragen schon von Geburt an einen extrem hohen Anteil roter Muskelfasern mit sich. Diese Art von Kraftpaketen – sie bewirken die Ausdauer – machen bei den meisten Menschen kaum mehr als die Hälfte der Muskelmasse aus; der Rest ist für die Schnellkraft zuständig.

Die Top-Athleten der Tour de France dagegen verfügen über bis zu 90 Prozent roter Muskelfasern. Sie liegen mit diesem Wert in einem Bereich, der höchstens von jedem zwanzigsten Menschen erreicht wird. Während die Zahl der Fasern zeitlebens konstant bleibt, läßt sich deren Form und Inhalt sehr wohl beeinflussen. Über mindestens sieben Jahre sollte man dafür gut 40000 Trainingskilometer pro Saison abstrampeln, rät Ausdauerspezialist Hartmann. Nach dieser Strecke – sie entspricht etwa sechs Erdumrundungen – hat sich die Zahl der kraftspendenden Mitochondrien in jeder Zelle mehr als verdoppelt.

Doch auch das beste Kraftwerk ist nutzlos, wenn nicht genug Brennmaterial zur Verfügung steht: Energiequelle Nummer eins ist der Sauerstoff, der von den roten Blutkörperchen transportiert wird. So überrascht es kaum, daß die Athleten nicht nur mit straffen Waden beeindrucken: Nach drei bis vier Wochen Höhentraining haben sie ihre Blutmenge deutlich vermehrt. Der mithin verbesserte Sauerstofftransport (er kann auch durch die verbotene Eigenbluttransfusion erreicht werden) erhöht die Leistung um etwa drei Prozent – ein Vorteil, auf den heute kaum ein Radprofi verzichten kann.

Mit Sauerstoff beladen werden die Blutzellen in der Lunge. Auch sie ist bei Radprofis vergleichsweise oft überdimensioniert und faßt beim Ausnahmesportler Miguel Indurain mit 7,8 Litern ein Viertel mehr als bei den besten Amateuren. Schließlich ist auch das letzte Glied der Kette an die extremen Anforderungen hervorragend angepaßt: Radprofis haben große Herzen, manchmal sind sie doppelt so groß wie die 0,8 Liter eines, sagen wir, Büroangestellten.

Auch Sportmediziner sprechen hier allerdings seltener von Rekordmaßen, eher schon von krankhaften Veränderungen. Während des Rennens pumpen diese Herzen dann in jeder Minute bis zu 40 Liter Blut durch die Venen – das entspricht immerhin dem Inhalt eines mittleren Aquariums. Die 50 Liter, die Champion Indurain zugeschrieben werden, hält Hartmann allerdings für übertrieben. Auch Radprofis sind Menschen; spätestens in den Bergen werden sie durch die wachsende Zahl der Aussteiger daran erinnert. Zwischen zehn bis zwölf Liter Flüssigkeit schwitzen sie dann heraus. Nicht umsonst gibt es in jedem Team die Wasserträger, deren Aufgabe im Wortsinn auch darin besteht, im Viertelstundenrhythmus die Depots der Stars aufzufüllen.

Am Berg steigt der Energieverbrauch auf bis zu 10.000 Kilokalorien am Tag. Das ist nicht nur viermal so viel wie der Grundumsatz – es ist auch deutlich mehr als jene 6000 Kilokalorien, welche die Sportler in den kurzen Pausen in sich hineinschaufeln können. Anders als im Flachland reicht die Verbrennung mit Sauerstoff jetzt oft nicht mehr aus. Es wird umgeschaltet, zunächst auf die Kohlehydratreserve der Leber und schließlich – wie bei Verhungernden – auf die Eiweißbausteine der Muskeln. Wer auch diese Herausforderung noch besteht, hat gute Chancen, beim Endspurt der Tour auf den Champs Elysee dabei zu sein.

(erschienen in der WELT am 20. Juli 1993)