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Milliarden-Schäden durch Uranabbau im Erzgebirge

Schneeberg. Der Uranbergbau in der ehemaligen DDR hat schwerwiegende Umweltprobleme hinterlassen. Umweltminister Klaus Töpfer zeigte sich erschrocken über das Ausmaß der Verwüstungen und den sorglosen Umgang mit schwach radioaktiven Substanzen, der im Erzgebirge jahrzehntelang betrieben wurde und teilweise noch anhält. Anlässlich einer Bürgerversammlung im sächsischen Schneeberg warb Töpfer um Vertrauen für die Umweltpolitik der Bundesregierung.

Abraumhalden bei Schneeberg im Erzgebirge (Copyright 1990, Michael Simm)

Der größte Bergbaubetrieb der Region, die Wismut AG mit derzeit 30.800 Arbeitern, hat seit dem Ende des zweiten Weltkrieges 220.000 Tonnen aufbereitetes Uran (yellow cake) in die Sowjetunion geliefert, ebenso viel wie die Vereinigten Staaten im gleichen Zeitraum produzierten. Das Metall, welches nach einer weiteren Anreicherungsstufe als Kernbrennstoff‘ oder Sprengsatz für Nuklearwaffen dient, wurde unter immensen Kosten für Mensch und Natur gefördert.

Schlammartige Rückstände der Erzaufbereitung werden in gigantischen Absetzbecken von der Größe mittlerer Baggerseen gelagert, die allmählich austrocknen und dabei radioaktiven Staub freisetzen. Erst wenn alle Becken mit Abdeckmaterialien versiegelt sind, ist auch die Gefahr einer Verseuchung von Grund- und Oberflächenwasser durch diese Becken gebannt.

Arbeiten dazu sind bereits in Gang, doch die Beseitigung der riesigen Abraumhalden, die bei der Erzförderung anfielen, wird längere Zeit in Anspruch nehmen: Über 3000 dieser Halden, die bis zu 130 Meter hoch sind, produzieren säurehaltige Sickerwässer, die ebenfalls unkontrolliert ins Grundwasser gelangen.

Die Wismut AG ist eine deutsch-sowjetische Aktiengesellschaft, die noch zu Zeiten des alten Regimes gegründet wurde. Jetzt soll sie unter dem im April berufenen Generaldirektor Horst Richter einen umfassenden Sanierungsplan erstellen. Die unmittelbaren Kosten für die Beseitigung der Schäden dieses Raubbaus schätzt Richter auf 5,4 Milliarden Mark. Eine Beteiligung der Sowjets an den Kosten halten sowohl Töpfer als auch Richter für unwahrscheinlich.

Hohe Priorität gilt auch der Sicherung medizinischer Daten der Wismut-Mitarbeiter. Nach Schätzungen standen fast eine Million Menschen zeitweilig in den Diensten der Gesellschaft. Derzeit befinden sich deren Daten noch im Arbeitshygienischen Zentrum der Region Wismut, doch ist bereits ein unabhängiges Institut mit der Auswertung beauftragt worden.

(erschienen auf der Titelseite der WELT am 27. Oktober 1990. Letzte Aktualisierung am 17. April 2017)

Was ist daraus geworden? Eine extrem umfangreiche Aufarbeitung dieser Geschichte findet sich mittlerweile auf der Wikipedia. Auch zahlreiche Bücher wurden über die Hinterlassenschaft der Wismut geschrieben, darunter auch „Uran für Moskau“ von Rainer Karlsch. Einen Fachartikel mit dem Thema „Gesundheitliche Folgen der beruflichen Strahlenbelastung im deutschen Uranbergbau“ von Maria Schnelzer, Nora Fenske, Linda Walsh, Michaela Kreuzer fand ich im Umwelt und Mensch – Informationsdienst, Nr. 01/2015, der gemeinsam vom Bundesamt für Strahlenschutz (BfS), Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR), Robert Koch-Institut (RKI), und Umweltbundesamt (UBA) herausgegeben wird. Demnach wurden 60000 frühere Wismut-Arbeit über viele Jahe hinweg regelmäßig untersucht mit dem Ergebnis: „Bis Ende 2008 waren 25.438 Personen (43% der Kohorte) verstorben, 3.500 von ihnen an Lungenkrebs. Dies entspricht im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung einer Verdoppelung der Lungenkrebssterblichkeit, welche vorwiegend auf die berufliche Radonbelastung und in geringerem Maß auch auf die Belastung mit Quarzfeinstaub zurückzuführen ist.“

Forschung in der DDR – Ein Blick hinter die Kulissen

„Dies ist mein erster Vortrag, den ich in englischer Sprache halte. Fünfzig Jahre real existierender Sozialismus haben unseren Geist und unseren Verstand zerstört.“ Dr. Peter Stosiek hat sichtlich Mühe, seinen Zorn zu verbergen. Seine Präsentation auf dieser Fachkonferenz über neuere Aspekte der Krebsforschung nimmt einen ungewöhnlichen Anfang.

Bilder aus Görlitz sind zu sehen; zerfallene Häuserzeilen, Putz blättert von den Fassaden. Hier lebt und arbeitet der Mediziner, der am pathologischen Institut des Bezirkskrankenhauses solide wissenschaftliche Arbeit geleistet hat. Endlich kann Stosiek den westlichen Kollegen die Ergebnisse seiner Forschung vortragen. Stosiek ist nur einer von vielen ostdeutschen Wissenschaftlern, denen Reisen in das westliche Ausland jahrzehntelang verboten waren. Der Vortrag endet ebenso ungewöhnlich wie er begonnen hat: „Ich warne vor den Wendehälsen. Sie haben die Partei gewechselt, ihr Gedächtnis abgelegt und ihr Aussehen verändert – aber sie sind noch immer unter uns.“

Nicht nur für die zahlreich vertretenen ostdeutschen Wissenschaftler war die 62. Titiseekonferenz des Boehringer Ingelheim Fonds ein besonderes Ereignis. Neben den Westdeutschen Medizinern und Immunologen erlebten auch Teilnehmer aus den Vereinigten Staaten und Großbritannien, aus Frankreich und Österreich, aus Polen, der CSSR und der Sowjetunion deutsche Geschichte hautnah. Dr. Jim Primus spricht für viele, die einen rein wissenschaftlichen Verlauf der Tagung erwartet hatten: „Ja natürlich habe ich zuhause im Fernsehen gesehen, wie die Mauer fiel, habe die Ereignisse und Diskussionen verfolgt.“ Die enormen Veränderungen sind Primus aber erst im Verlauf der Konferenz wirklich bewusst geworden. Völlig offen berichteten die osteuropäischen Forscher von ihrer oft schwierigen und frustrierenden Arbeit unter den alten kommunistischen Regimen.

„Als erster und hoffentlich auch letzter DDR-Bürger“ hatte Prof. Günter Pasternak die traditionsreiche Veranstaltung organisiert. Der Direktor des Zentralinstitutes für Molekularbiologie in Berlin-Buch führt mit 650 Mitarbeitern eine der größten Forschungseinrichtungen der DDR. Pasternak, der die vom Runden Tisch für alle Institutsdirektoren geforderte Vertrauensabstimmung mit einer dreiviertel Mehrheit überstand, berichtete vor Journalisten über alte und neue Probleme für die rund 25000 Mitarbeiter der Akademie der Wissenschaften in der DDR.

Viele von Pasternaks Mitarbeitern etwa kannten ihre Westdeutschen Kollegen nur aus den Fachzeitschriften in den gut versorgten Bibliotheken. Nur jeder vierte wurde als zuverlässig genug eingeschätzt um in den privilegierten Reisekader aufgenommen zu werden, der Westreisen erst möglich machte. Geradezu albern mutet es an, dass die deutsch-deutsche Zusammenarbeit größtenteils über Drittländer abgewickelt werden musste. Auch Pasternak selbst war mehrmals in den Vereinigten Staaten und auch in Südamerika. Erst vor gut zwei Jahren kam es zu einer Annäherung, die ihm als Parteimitglied den Besuch westdeutscher Labors ermöglichte.

Der Fall der Mauer eröffnet eine ganz neue Dimension der Zusammenarbeit für die DDR-Wissenschaftler. Für sie wird die Forschung jetzt wahrhaft grenzenlos. Mitarbeiter in Pasternaks Institut etwa erhielten schon Angebote aus dem Westen, eine Verlockung der nicht jeder widerstehen kann. Denn selbst im Zentralinstitut für Molekularbiologie, das als eine der Vorzeige-Einrichtungen der alten Führung gilt, fehlte es nicht selten an Verbrauchsgegenständen wie bestimmten Chemikalien oder Zentrifugenbechern. Nicht selten, so Pasternak, hätten die Lieferzeiten über ein Jahr betragen.

Trotz mangelnder Devisen ist es den Ostdeutschen aber gelungen, den Anschluss an die rapide Entwicklung in der Biomedizinischen Forschung zu halten. „Wir beherrschen die Methoden der Gentechnik“, sagt Pasternak und verweist darauf, dass die pränatale Diagnose von Erbkrankheiten wie der Mukoviszidose oder der Duchenne’schen Muskeldystrophie in jedem Bezirkskrankenhaus möglich sei. Unter dem alten Regime sei auch die gentechnische Produktion von Stoffen vorangetriebenen worden, die in der Klinik zum Einsatz kommen sollen, ebenso die eigenständige Entwicklung von Nachweisverfahren zur Krebserkennung. Diese Arbeiten wurden vor allem unter dem Aspekt der internationalen Unabhängigkeit durchgeführt. Anders als in der Bundesrepublik war es dabei für DDR-Institute eine Selbstverständlichkeit, in enger Zusammenarbeit mit der Industrie auf eine schnelle Anwendung der erzielten Erfolge hinzuarbeiten. Allein in Pasternaks Institut wurde beispielsweise fast die Hälfte des offiziellen Jahreshaushaltes von 23 Millionen Ostmark durch die Industrie aufgebracht.

Heute jedoch muss sich der Spitzenwissenschaftler Sorgen um den Fortbestand seines Institutes machen; die weitere Finanzierung ist ungeklärt. „Wir können uns keine Phase in der Wiedervereinigung leisten, in der die Mitarbeiter nicht bezahlt werden, sonst sind die Leute weg“, mahnt der 57jährige der schon recht genaue Vorstellungen davon hat, wie die Zukunft der drei großen Institute in Berlin-Buch aussehen könnte. Am liebsten möchte er das Institut für Molekularbiologie mit denen für Krebsforschung und für Herz-Kreislauf verbinden.

So könnte ein „Gesundheitszentrum für ganz Deutschland“ entstehen, das mit über 1500 Mitarbeitern auch den größten Westdeutschen Forschungszentren Paroli bieten könnte. Allerdings, so betont Pasternak: „Wir wollen in Berlin-Buch kein Abklatsch des Deutschen Krebsforschungszentrums in Heidelberg sein.“ Stattdessen solle die biomedizinische Grundlagenforschung bis hin zur hochspezialisierten Betreuung der Patienten unter einem Dach erfolgen. Die Infrastruktur des Ostberliner Forschungszentrums böte hierfür ideale Voraussetzungen.

Ungeklärt bleibt allerdings, wer die Kosten für ein derartiges Großprojekt übernehmen soll. Pasternak glaubt, dass nach einer „Kreditierung für die Anfangszeit“ der Forschungskomplex in der Lage wäre, seine ökonomischen Grundlagen zu sichern. Derzeit allerdings werden vornehmlich Projekte mit Beteiligung westlicher Partner finanziert. „Wenn wir eigene Ideen selbst verwirklichen wollen, kriegen wir kein Geld, wir werden ausgehungert“ beklagt der Forscher und sieht Parallelen zur Politik: „Das ist wie mit der Parteienfinanzierung. Ost-CDU und Ost-SPD erhalten reichlich Geld, aber der Neue Aufbruch, der das Ganze in Gang gebracht hat, bekommt nichts“.

(Bericht von der 62. Internationalen Titiseekonferenz, 9. – 13. Mai 1990, geschrieben für die WELT, aber nach meinen Unterlagen niemals veröffentlicht. Mehr noch als die wissenschaftlichen Inhalte der Konferenz haben damals die Berichte der ostdeutschen Forscher meinen Horizont erweitert und mein Bild vom real existierenden Sozialismus geprägt.)