Ungefähr 60 Billionen einzelner Zellen, deren Zusammenspiel genauestens aufeinander abgestimmt ist, bilden den Körper eines erwachsenen Menschen. In jeder Sekunde unseres Lebens müssen alleine etwa 2,5 Millionen rote Blutkörperchen neu gebildet werden. Dazu kommen dann noch Hunderttausende anderer, oft hochspezialisierter Zellen. Immer wieder fällt dann die Entscheidung zwischen Teilung und Spezialisierung. Dabei ist das Spezialistentum oft eine Sackgasse, aus der kein Weg mehr herausführt: Einmal eine Nervenzelle, immer eine Nervenzelle – und das ist gut so.
Für Biologen und Mediziner ist diese Weichenstellung gleichermaßen interessant, weil eine falsche Entscheidung zu einer Krebsgeschwulst führen kann. Statt sich in ihr Schicksal zu fügen und dem Organismus beispielsweise als Haut-, Darm- oder Leberzelle zu dienen, vermehrt sich solch eine Zelle ungehemmt und wird zum Tumor. Doch wie erfährt eine Zelle, welchen Weg sie antreten soll, und vor allem: Gibt es noch einen Weg zurück, wenn die Entscheidung erst einmal gefallen ist? Kann dieses Signal vielleicht von außen gegeben werden – mit einem Medikament etwa – und so zur Bekämpfung von Krebs beitragen?
Am Institut für Genetik und Toxikologie des Kernforschungszentrums Karlsruhe geht Professor Peter Herrlich mit seiner Arbeitsgruppe diesen Fragen nach. Der Mediziner fand heraus, dass viele unterschiedliche Umwelteinflüsse auf den gleichen „Schalter“ wirken, dessen Stellung über das weitere Schicksal einer Zelle entscheiden kann. So beeinflusst die im Sonnenlicht enthaltene UV-Strahlung ebenso wie bestimmte Hormone eine gemeinsame zelluläre Signalkette. Auch Phorbolester (PE), die in manchen tropischen Pflanzen enthalten sind und die Krebsentstehung begünstigen, wirken letztlich auf diese Signalkette.
All diese Reize bestimmen die Aktivität eines Eiweißstoffes, der als AP-1 bezeichnet wird. Im aktiven Zustand sucht AP-1 einen sehr kurzen Abschnitt der DNA auf und veranlasst dort die Produktion von Kollagenase, einem weiteren Eiweiß. Die Kollagenase kann Bindegewebe auflösen und erleichtert damit Krebszellen die Wanderung durch den menschlichen Körper, wodurch Tochtergeschwülste entstehen können. Andererseits spielt dieses Eiweiß aber auch in der Wundheilung eine wichtige Rolle.
Zellen, die nach einer PE-Gabe Kollagenase produzieren und sich zu vermehren beginnen, können mit Hormonen der Nebennierenrinde (Glucocorticoide) „umprogrammiert“ werden. Während nämlich Phorbolester und UV-Strahlung AP-1 aktivieren, haben Glucocorticoide genau die entgegengesetzte Wirkung. Dieser Befund ist für die Krebsforschung wichtig, weil damit gezeigt wird, dass die Entscheidung einer Zelle zur Teilung nicht endgültig sein muss.
Allerdings wirken Glucocorticoide nicht allein auf AP-1. Sie benötigen vielmehr die Hilfe eines Botenstoffes, mit dem sie gemeinsam zum Zellkern reisen, wo AP-1 seine Wirkung entfaltet. Diese Rolle wird von sehr komplexen Molekülen übernommen, den G-Rezeptoren, die zu Zehntausenden im Inneren der Zelle herumschwimmen. Erst nachdem ein Hormon an solch einen G-Rezeptor andockt, ist dieser in der Lage, auch AP-1 zu binden und die Produktion von Kollagenase zu verhindern.
AP-1 selbst ist ein hochinteressantes Molekül. Es besteht aus zwei Teilen, die über eine Art Reißverschluss miteinander verzahnt sind. Beide Untereinheiten sind als Proto-Onkoproteine bekannt, als Eiweiße also, die in der Krebsentstehung eine Rolle spielen können. Eines der beiden Eiweiße, genannt JUN, kann bei Hühnern Bindegewebskrebs verursachen. Das andere Eiweiß, FOS, kann bei Mäusen zu Störungen in der Knochenentwicklung führen, ein von Viren produzierter Verwandter sogar zu bösartigen Tumoren.
Aber warum produziert der Körper derart gefährliche Stoffe? Proto-Onkoproteine sind natürlich nicht dazu da, um eine Krebsgeschwulst entstehen zu lassen; insofern ist der Name leicht missverständlich. Diese E weiße, von denen mittlerweile Dutzende bekannt sind, bilden vielmehr die unverzichtbaren Teile einer Signalkette, an deren Ende die Spezialisierung oder die Teilung einer Zelle steht. Ohne sie könnte aus einer befruchteten Eizelle kein Mensch entstehen; Wunden würden nicht heilen, und das Immunsystem bliebe machtlos bei einem Angriff feindlicher Mikroorganismen.
Erst bei einem „Betriebsunfall“ werden die Proto-Onkoproteine gefährlich. Chemikalien, energiereiche Strahlung und andere Umwelteinflüsse können das komplexe Netzwerk durcheinanderbringen. Dabei sind die chemischen Mechanismen die einen solchen Unfall auslösen können, die gleichen, die in jeder gesunden Zelle wirken, wie Herrlich zeigen konnte. Stoppsignale wie etwa der Kontakt zu benachbartem Gewebe, bleiben dann unbeachtet. Steuerzeichen in Form von Hormonen und anderen Wachstumsfaktoren werden ignoriert. Wenn schließlich die „Wachmannschaft“ in Form des Immunsystems die durchgedrehte Zelle nicht ausschalten kann, kommt es zu Katastrophe, und eine Krebsgeschwulst entsteht. Bedenkt man die unvorstellbare Zahl der Zellteilungen, die in den rund 70 Jahren eines Menschenlebens stattfinden, entsteht dennoch Respekt vor diesem hochpräzisen Regelwerk.
(erschienen in der WELT am 3. März 1990)