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Forschung unter einem Zeltdach

Eine – nicht nur für Schweizer Verhältnisse – gewagte Ausstellung ist noch bis zum 3. November vor den Toren Zürichs zu bewundern. Auf 60.000 Quadratmeter Fläche präsentiert sich die Crème de la crème der eidgenössischen Wissenschaft. Rund 300 aktuelle Forschungsprojekte, von der Tiefbohrung über sprechende Maschinen bis zur Atmosphärenforschung, werden vorgestellt. Neben „harten“ Themen wie Mathematik und Physik gibt es nachdenkliche Beiträge zur Rolle der Naturwissenschaften in unserer Welt.

Geradezu abenteuerlich mutet die Architektur der Ausstellungsgebäude an: Ein achtteiliges Ringzelt, aufgespannt an ebenso vielen Masten, ähnelt dem Münchner Olympiadach. Vier der Masten sind begehbar, allerdings nur für schwindelfreie Besucher. Denen präsentiert sich Europas größte Zeltanlage.

Unter 46 Tonnen schweren Kunststoffs kann der wissenschaftlich interessierte Laie das Ergebnis einer einzigartigen Kraftanstrengung der gesamten Schweizer Forschungsszene bewundern: Über 1000 Personen aus öffentlichen Hochschulen und privaten Forschungsanstalten haben sich auf Anregung von Georg Müller bereit erklärt, jedem, der es möchte, ihre Arbeit zu erklären. Müllers Initiative ist es zu verdanken, daß die Heureka nach langem Tauziehen um die Baugenehmigung mit der Stadt Zürich doch noch zustande kam.

Erst Ende November 1990 konnte mit dem Bau begonnen werden drei Monate später als geplant. In einem Gewaltakt wurden dann bei Wind und Wetter waghalsige Montagen durchgeführt. Noch am Tage der Eröffnung wurde im Akkord gearbeitet. Ein guter Teil der Schwierigkeiten, mit denen die Heureka zu kämpfen hat, ist durch die anfangs zögerliche Haltung der Behörden begründet.

So gab es erst Ende August einen Ausstellungskatalog, in dem sämtliche Projekte verzeichnet sind. Damit hätten sich die Besucher, die zunächst eher spärlich erschienen, abfinden können. Was den Veranstaltern aber beißende Kritik einbrachte, war die peinliche Tatsache, daß ein Großteil der Ausstellungsgegenstände schon nach kurzer Zeit defekt war. Viele der Projekte zum „Anfassen und Selbermachen“ leiden darunter.

Dies ist besonders ärgerlich, weil immerhin ein Drittel der Gesamtkosten (mehr als 30 Millionen Franken) über den Eintrittspreis finanziert wird. Der schlägt denn auch mit saftigen 20 Franken zu Buche. Immerhin ein Drittel der Mittel kommt von der öffentlichen Hand, der Rest von der Industrie. Die lange Liste der Gönner reicht vom Aargauischen Elektrizitätswerk bis zu den Zürcher Ziegeleien, und auch die Nasa oder die sowjetische Tiblisi-Universität haben ihr Scherflein beigetragen.

Schon am Eingang wird der Besucher mit dem Prinzip vertraut gemacht, das den größeren Teil der Ausstellung prägt. Unbefangen erklimmt er ein montiertes Lawinenstützwerk. Schweift dann sein Blick zur Anzeigetafel, so kann er unversehens sein aktuelles (Über-)Gewicht ablesen. Für manchen Wissenschaftsfreund ist damit das Streben nach Erkenntnis bereits beendet.

Einer kleinen, aber umso wißbegierigeren Minderheit werden umfangreiche Erklärungstafeln angeboten. Dort ist unter anderem nachzulesen, daß die typisch Schweizer Konstruktion einen Druck von bis zu 80 Tonnen pro Quadratmeter aushalten kann. Auch die relativ simple Meßvorrichtung, die es erlaubt, ganze Schulklassen zu wiegen, ist mit Grafiken anschaulich erklärt.

In Zelt 1 drängen sich Schüler vor einem Lithophon. Das Musikinstrument enthält keinerlei elektronische Elemente, stattdessen sind dunkle Platten aus Serpentin auf Resonatoren montiert, die mit einer verstärkten Klaviermechanik angeschlagen werden. Nach anfänglichem Zögern spielt ein Schüler etwas holprig „Oh when the saints“.

Damit ist das Eis gebrochen, der nächste Besucher schwingt sich hinter das Lithophon und improvisiert munter vor sich hin. Bei einem Triller kommt der Zuruf aus Kindermund: „Machen Sie das noch einmal!“ Und jetzt erst kommen die ersten Fragen: „Wie funktioniert denn das?“

Immer wieder beeindruckt die Geduld, mit der selbst gestandene Professoren und hochkarätige Spezialisten die Fragen der Besucher beantworten. Auch kritischen Fragen gehen die Veranstalter nicht aus dem Weg: So reflektiert eine Projektgruppe aus Genf – Theologen, die gleichzeitig Physiker sind – über die Versuche der Wissenschaft, in die Schöpfungsgeschichte einzugreifen. Vier Studenten der Sozialwissenschaften untersuchen Entscheidungskriterien und Vorgänge bei Gen- und Fortpflanzungstechnologien.

Wer will, kann auf der Heureka mehr über Geschichte und Gegenwart der Forschung erfahren als in jedem multidisziplinären Studium. Der vielbeschworene Elfenbeinturm, in dem sich die Wissenschaftler nach landläufiger Meinung so gerne verstecken – hier ist er jedenfalls nicht zu finden.

(erschienen in „DIE WELT“ am 22. Oktober 1991)

Besuch im Supermarkt der Wissenschaften

Was haben Gentherapie und – Abtreibungspille, Kosmologie und Ackerbau gemeinsam? Welcher Zusammenhang besteht zwischen Regenwald und Golfkrieg, zwischen der Zukunft der Nasa und dem Berufsbild von Zahnärzten, zwischen Frauen in der Wissenschaft und der Verbreitung von Atomwaffen?

All diese Themen und mehr werden auf einer einzigen Mammut-Konferenz besprochen. Die Rede ist von der Tagung der Amerikanischen Akademie zur Förderung der Wissenschaften (AAAS), die heute in Washington zu Ende geht. Fast 6000 Teilnehmer nutzten mehr als 1000 Vorträge, um ihren Wissensdurst zu stillen. Zusammen beanspruchte die Schar interessierter Laien, Studenten, Professoren und Journalisten gleich mehrere Hotelkomplexe in der amerikanischen Hauptstadt.

Fast eine Woche dauerte der alljährliche „Supermarkt der Wissenschaften“, der in diesem Jahr zum 157. Mal stattfand und damit zu einer der traditionsreichsten Veranstaltungen der USA zählt. Die 1848 gegründete Akademie ist mit 132.000 Mitgliedern die weltweit führende wissenschaftliche Vereinigung. 290 individuelle Gesellschaften sind ihr angeschlossen. Die Akademie veröffentlicht mit „Science“ eines der angesehensten (und auflagenstärksten) Wissenschaftsmagazine und bietet ihren Mitgliedern weltweite Exkursionen unter fachkundiger Leitung an.

Aber auch sonst macht die Vereinigung zur Förderung der Wissenschaft ihrem Namen alle Ehre. Eine bessere Schulbildung zählt genauso zu ihren Zielen wie die Förderung von Minderheiten, Frauen und Behinderten in der Wissenschaft. „Wichtigste Aufgabe unserer jährlichen Treffen ist es, die Kontroversen in der Forschung an die Öffentlichkeit zu tragen“ erklärt Joan Wrather, die mit ihren Kollegen eine Heerschar von etwa 700 Medienvertretern betreute.

Kontroversen in der Wissenschaft, die gibt es auch im eher fortschrittsgläubigen Amerika reichlich. Gleich mehrere Vorträge widmeten sich der „Abtreibungspille“ RU-486, einem Präparat, welches das Einnisten einer bereits befruchteten Eizelle in der Gebärmutter verhindert und dem bislang nur in Frankreich – und dies nach langer Debatte – die Zulassung erteilt wurde. US-Wissenschaftlern ist derzeit jegliche Forschung mit dem Präparat verboten, welches noch für mehrere andere Anwendungen im Gespräch ist. So könnte RU-486 eingesetzt werden, um den Gebärmutterhals bei der Geburt zu erweitern und damit die Zahl der Kaiserschnitte zu reduzieren.

Auch bei der Bekämpfung bestimmter Tumoren, die von der Zufuhr des Schwangerschaftshormons Östrogen abhängig sind, könnte RU- 486 hilfreich sein. Durch die öffentliche Diskussion dieser Thematik sollen Fakten von Emotionen getrennt werden. Gesetzgebung und Politik werden darauf aufmerksam gemacht, daß amerikanische Wissenschaftler von einem breiten Forschungsgebiet praktisch ausgeschlossen werden.

Neben brisanten Themen wie der Aids-Epidemie, oder dem Zusammenhang zwischen Drogen, Erziehung und Gewalt steht auch zur Debatte, wofür Forschungsgelder am sinnvollsten einzusetzen sind. Viele Forscher fürchten, daß prestigeträchtige Großobjekte wie die geplante Raumstation oder die Sequenzierung des menschlichen Erbgutes sich zu schwarzen Löchern entwickeln könnten, in denen all das Geld verschwindet, welches besser in eine Vielzahl kleiner Objekte zu investieren wäre.

Auch wenn viele Teilnehmer angesichts des überwältigenden Informationsangebotes hin- und hergerissen wurden zwischen harter Forschung und spielerischem Entdecken, Ethik und Esoterik, ist eines gewiß: Die Veranstaltung der AAAS ist immer ein faszinierendes Schaufenster der Wissenschaft und Paradebeispiel für den viel beschworenen Dialog mit der Öffentlichkeit.

(erschienen in „DIE WELT“ am 19. Febuar 1991)

Was wurde daraus? Aus RU-486 wurde Mifepriston (Handelsname Mifegyne), es darf seit dem Jahr 2007 in der EU und in der Schweiz für einen Schwangerschaftsabbruch bis zur 9. bzw. Woche eingesetzt werden. Unterdessen hat man sich in Europa von der AAAS inspirieren lassen und 2004 mit dem Euroscience Open Forum (ESOF) ebenfalls eine interdisziplinäre Wissenschaftskonferenz ins Leben gerufen.