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Harninkontinenz – noch immer tabu

Unter Inkontinenz der Blase oder des Enddarms leiden in der Bundesrepublik rund 3,5 Millionen Menschen. Trotz der schweren psychischen und körperlichen Belastung für den Einzelnen aber ist das Problem „Inkontinenz“ weitgehend ein Tabuthema geblieben.

Diagnose und Therapie der unterschiedlichen Formen der Harninkontinenz (HI) bildeten den Schwerpunkt bei dem deutsch-deutschen Erfahrungsaustausch „Aspekte der Harninkontinenz“, der am 6. und 7. Juli in Münster stattfand. Veranstalter des Treffens war das Unternehmen Dr. R. Pfleger, Bamberg.

In der ehemaligen DDR sei etwa jede dritte Frau in der zweiten Lebenshälfte von HI betroffen, berichtete Prof. Dr. Wolfgang Fischer, Direktor der Abteilung für Urogynäkologie der Frauenklinik an der Ostberliner Charité. Bei der Behandlung setze sich die „Berliner Mehrschritt-Therapie“ immer mehr durch, die mit konservativen Maßnahmen beginnt, mit denen bereits 40 bis 50 Prozent der Patienten zufriedengestellt werden können.

Die übrigen benötigen als zweiten Schritt eine Operation, der sich in jedem Falle wieder eine konservative Nachbehandlung anschließe. Bei 10 bis 20 Prozent der Fälle seien die Ergebnisse allerdings nicht ausreichend: Sie müssen mit Inkontinenz-Hilfen behandelt werden.

Wichtigste Grundlage für den Erfolg einer Inkontinenztherapie seien individuelle Betreuung und Versorgung des Patienten, betonte Prof. Günter H. Willital, Direktor der Kinderchirurgie der Universität Münster. Dort wurde ein kostenloser telefonischer Beratungsdienst eingeführt. Außerdem wurde eine besondere Sprechstunde etabliert, die sich ausschließlich mit den Problemen der Urin- und Stuhlinkontinenz befasst. Für Patienten, die die Klinik nicht aufsuchen können oder wollen, besteht ein Hausbesuchsdienst.

Untersuchungen von mehr als 1500 Fällen haben ergeben, dass sich die Inkontinenz im Kindes- und Jugendalter durch regelmäßige Betreuung und durch intensive konservative Maßnahmen sehr wesentlich bessern lässt. Den Pflegekräften komme dabei eine außerordentlich wichtige Rolle zu, betonte Willital.

Die Prophylaxe der HI sollte nach übereinstimmender Meinung künftig größere Beachtung finden. Prof. Fischer schlug vor, dieses Thema in die Aufklärungsarbeit bzw. Gesundheitserziehung der Schulen mit aufzunehmen und Frauen nach der Schwangerschaft auf die Problematik aufmerksam zu machen. Solche Ziele verfolgt auch eine im letzten Jahr gegründete Europäische Arbeitsgemeinschaft zur Hilfe inkontinenter Kinder und Jugendlicher, die ihren Sitz in England hat.

(erschienen in: Deutsches Ärzteblatt, 11. Oktober 1990. Letzte Aktualisierung 15. April 2017)

Wenn Herzen aus dem Takt geraten

Die Frage, wie dem „elektrischen Unfall“ Herzinfarkt am besten beizukommen ist, wird von Experten heftig diskutiert. Auf einer Tagung über Herzrhythmusstörungen in Königswinter bei Bonn bemühen sich Kardiologen zurzeit, die beste Behandlungsmethode zu ermitteln.

Allein in der Bundesrepublik sterben jährlich etwa 360000 Menschen an Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Wie der Direktor der Medizinischen Universitätsklinik Bonn, Professor Berndt Lüderitz, erklärte, ist unter den Patienten eine zunehmende Medikamentenverdrossenheit zu beobachten. Arzneimittel gegen Herzrhythmusstörungen (Antiarrhythmika) sind kompliziert zu handhaben, da die Erkrankung verschiedene Ursachen haben kann. Außerdem können diese Medikamente die Erregungsleitung im Herzen an mehreren Stellen beeinflussen. In letzter Zeit seien Nebenwirkungen vermehrt beobachtet worden, sagte Lüderitz.

Der Trend geht von den Medikamenten weg

„Ein Beweis dafür, dass Medikamente gegen Herzrhythmusstörungen lebensverlängernd wirken, steht bisher noch aus“, bemerkte der Mediziner. Bemerkenswert ist allerdings, dass der Herzschrittmacher seine lebensverlängernde Wirkung bereits unter Beweis gestellt hat. Wie zu erfahren war, wird das Bundesgesundheitsamt den Einsatz von Antiarrhythmika voraussichtlich gegen Ende des Jahres stark einschränken.

Trotzdem werden Antiarrhythmika auch weiterhin ihren Platz bei der Therapie von Herzkrankheiten haben und vor allem in Notfällen eingesetzt werden. Ziel der rund 250 Kardiologen, die sich in Bonn versammelt haben, wird es sein, den Stellenwert der verschiedenen Behandlungsformen zu ermitteln. Dieses Unternehmen wird auch vom Forschungsministerium unterstützt: Von einer großen Langzeitstudie erhofft man sich darüber Aufschluss, ob Elektroschockgeräte (Defibrillatoren) oder Medikamente besser geeignet sind, den plötzlichen Herztod zu verhindern.

Außer Defibrillatoren stehen den Kardiologen eine Reihe weiterer Möglichkeiten offen, Herzrhythmusstörungen ohne Medikamente zu behandeln: So wurden Herzschrittmacher entwickelt, die nicht nur auf ein Aussetzen des Herzschlages, sondern auch auf seine Beschleunigung reagieren. Auch die Lasertechnik leistet mittlerweile einen wertvollen Beitrag zur Chirurgie des Herzens.

Lüderitz betonte, dass trotz medizinischer Fortschritte die größten Erfolge durch eine vernünftige Lebensweise zu erzielen wären. So hat eine konsequente, teilweise auch aggressive Gesundheitsaufklärung in den Vereinigten Staaten die Zahl der Herztoten deutlich vermindert.

(erschienen in der WELT am 14. September 1990, letzte Aktualisierung 21. März 2017)

Was ist daraus geworden? Im Standardwerk „Innere Medizin“ von Gerd Herold (Ausgabe 2012) stehen die Antiarrythmika zwar immer noch vor Elektrotherapie und Katheterablation sowie chirurgischen Eingriffen, allerdings wird drauf hingewiesen, dass Nutzen und Nebenwirkungen dieser Medikamentenklasse gegeneinander abgewogen werden müssten. Erneut wird hier betont, dass hinsichtlich der Sterblichkeit die Therapie mit Antiarrhythmika keinen Vorteil bringt, und dass die beiden Studien CAST und SWORD sogar eine Verschlechterung der Prognose für Postinfarktpatienten gezeigt hätten.