Ein Durchbruch bei der Bekämpfung der tödlichen Immunschwäche Aids ist auch auf dem 8. Internationalen Aids-Kongreß, der derzeit in Amsterdam stattfindet, nicht zu erwarten. Weder gibt es ein Medikament, das Aids heilen könnte, noch einen allgemein zugänglichen Impfstoff, der gesunde Personen vor einer Infektion mit HIV schützen könnte.

Vorwürfe an die Wissenschaft sind dennoch fehl am Platz, denn zehn Jahre, nachdem das Virus erstmals isoliert wurde, befinden sich nicht nur ein oder zwei Impfstoffe in der Entwicklung, sondern es sind insgesamt 16. Zwölf davon werden bereits am Menschen erprobt. Bei den verschiedenen Impfstoffen handelt es sich sowohl um schützende Vakzine im herkömmlichen Sinn als auch um sogenannte therapeutische Impfstoffe, die bei bereits infizierten Personen zum Einsatz kommen sollen.

Bei manchen relativ langsam verlaufenden Viruskrankheiten, wie beispielsweise der Tollwut, wird dies bereits praktiziert. Ziel ist es, das Immunsystem des Patienten so schnell zu stärken, daß die Vermehrung des Erregers gebremst und gestoppt wird. Anschließend soll die Gesundheit der Infizierten durch die Kombination aus körpereigener Abwehr und bestimmten Medikamenten wiederhergestellt werden.

Die ursprüngliche Impfvariante, nämlich das Spritzen von kompletten, aber inaktivierten Viren wurde bei Aids noch nie versucht. Auch die von der Pockenimpfung her vertraute Methode, abgeschwächte Verwandte des eigentlichen Erregers im Labor heranzuzüchten und dann zu verabreichen erschien den Experten viel zu riskant. Die noch wenig verstandenen Wechselwirkungen von HIV mit den verschiedenen Zellen des Immunsystems, so ist ihre Befürchtung, könnten zu gravierenden Nebenwirkungen führen.

„Die Anwendung gentechnischer Methoden hat unsere Möglichkeiten deutlich verbessert“, sagte Michel De Wilde, Forschungsdirektor beim englischen Pharmakonzern Smith-KlineBeecham, auf dem Kongreß in Amsterdam. Durch die Übertragung bestimmter Gene aus HIV auf bereits erprobte andere Viren oder auf Bakterien ließen sich die unbestreitbaren Vorteile eines aktiven Impfstoffes erreichen, ohne daß die damit verbundenen Risiken in Kauf genommen werden müssen.

Ein Großteil der in Erprobung befindlichen Impfstoffe benutzen Eiweiße aus der Hülle von HIV oder deren Bruchstücke, die gentechnisch oder synthetisch hergestellt werden. Sie werden einzeln oder in Kombinationen injiziert.

Derzeit laufen mindestens zwölf Versuche mit Freiwilligen, bei denen zunächst mögliche Nebenwirkungen dieser Impfstoffe abgeklärt und die Reaktion des Immunsystems gemessen werden. Großangelegte Untersuchungen, sogenannte Phase-III-Studien, wie sie für die Zulassung von Impfstoffen und Medikamenten erforderlich sind, hat es aber bislang noch nicht gegeben.

Ein Impfstoff gegen HIV müsse extrem hohe Anforderungen erfüllen, sagte De Wilde. Langanhaltender Schutz vor Infektionen durch Viren im Blut, aber auch über die Schleimhäute seien wichtige Voraussetzungen. Dr. Daniel Hoth von den „National Institutes of Allergy and Infectious Diseases“ bei Washington betonte, daß alle bisher erprobten Impfstoffkandidaten sich als sicher erwiesen hätten und von den Probanden gut toleriert würden. In den nächsten ein bis zwei Jahren werde sich erweisen, ob einer oder mehrere Kandidaten reif seien für Phase-III Studien, an denen jeweils 2000 Eis 5000 Freiwilllige teilnehmen sollen. Mit den Vorbereitungen dafür müsse aber schon jetzt begonnen werden, um keine Zeit zu verlieren. „Wir müssen uns ständig vor Augen halten, daß die Forschung nicht in einem Vakuum stattfindet. Die Epidemie grassiert,“ sagte Hoth in Amsterdam.

Für den entscheidenden Test, bei dem nach der Impfung absichtlich Immunschwächeviren injiziert werden, fehlte es bisher an geeigneten Tiermodellen. Schimpansen stehen dem Menschen zwar biologisch am nächsten und können auch mit HIV infiziert werden. Die Krankheit kommt bei den Tieren jedoch nicht zum Ausbruch. Abgesehen davon zählen Schimpansen zu den geschützten Arten. Sie vermehren sich nur sehr langsam und stehen daher nur in extrem kleinen Zahlen für Tierversuche zur Verfügung.

Immerhin: „Unter optimalen Laborbedingungen erreichen wir einen Impfschutz“, meinte De Wilde. Der sei zwar nur von kurzer Dauer und müsse deshalb öfter aufgefrischt werden, andererseits gebe es aber noch Raum für Verbesserungen.

Ein neues Tiermodell könnte die Entwicklung weiter beschleunigen. Einem amerikanischen Forscherteam gelang es nämlich vor kurzem, Makaken (Macaca nemestrina) zu infizieren, eine asiatische Affenart. Obwohl erst in ein bis zwei Jahren klar sein wird, ob die Makaken überhaupt Aids entwickeln, „steht nun ein Tiermodell zur Verfügung, mit dem Impfstoffkandidaten und verschiedene Therapien erprobt werden können“, sagte Michael Katze von der Universität Washington in Seattle.

Eine weitere Schwierigkeit, die der Entwicklung einer Aidsvakzine im Wege steht, ist der hohe ethische Anspruch, dem die nötigen Versuche mit Menschen heute genügen müssen. In der Vergangenheit waren die Forscher wesentlich weniger vorsichtig vorgegangen: Weder der französische Wissenschaftler Louis Pasteur mit seinem Tollwutimpfstoff noch der englische Arzt Bruce Jenner, dem letztendlich die Ausrottung der Pocken zu verdanken ist, würden unter heutigen Bedingungen eine Erlaubnis für ihre denkwürdigen Impfversuche erhalten.

(erschienen in „DIE WELT“ am 22. Juli 1992)