Alljährlich sterben auf den Feldern der Dritten Welt hunderttausende von Bauern an Vergiftungen, die durch den Einsatz von Pestiziden hervorgerufen werden. Die Zahl derjenigen, die langanhaltende Hirnschäden erleiden, könnte sogar in die Millionen gehen, wie Toxikologen jetzt in der Fachzeitschrift „Lancet“ berichteten.
Angeklagt – und von der Fachwelt für schuldig befunden – sind vorwiegend Substanzen, die Phosphorsäureester enthalten. Sie beeinträchtigen bei Mensch und Tier gleichermaßen die Kommunikation zwischen den Nervenzellen. Schon 1987 schlug Michael Loevinsohn nach einer Untersuchung philippinischer Reisbauern Alarm. Loevinsohn, der jetzt am kanadischen Zentrum für International Development Research in Ottawa arbeitet, war zu dem Schluß gekommen, daß „alleine in Asien mehrere zehntausend Todesfälle auf den Einsatz von Pestiziden zurückgehen“.
Jetzt wurde die Befürchtung der Toxikologen bestätigt, daß der Umgang mit Organophosphorsäureestern auch langfristige Schäden am Nervensystem verursacht. Selbst kurze Kontakte mit den tückischen Stoffen können demnach gravierende Folgen haben.
Dr. Linda Rosenstock von der University of Washington und ihre Mitarbeiter konnten zeigen, daß bei 36 nicaraguanischen Landarbeitern, die zwischen 1986 und 1988 in einem Universitätskrankenhaus der Stadt Leon wegen Pestizidvergiftungen behandelt wurden, die Gehirnfunktion auch nach Jahren noch stark vermindert war. Die „vergifteten“ Bauern schnitten in allen neuropsychologischen Tests deutlich schlechter ab als deren nahe Verwandte, die zur Kontrolle ebenfalls untersucht wurden. Konzentrationsfähigkeit, Gedächtnis und auch der Bewegungsablauf waren unter den „Vergifteten“ stark beeinträchtigt.
Die benutzten Pestizide greifen in den Stoffwechsel der Nervenzellen ein und verändern dort ein Eiweiß, das für das Recycling von Botenstoffen gebraucht wird. Acetylcholin, einer der Botenstoffe des Nervensystems, kann dann nicht mehr abgebaut werden; es kommt zum „Kurzschluß“ zwischen den Zellen. Einige nahe verwandte Stoffe zählen zu den Nervengiften: Tabun, Sarin und Soman sind in Fabriken zur Herstellung von „Pflanzenschutzmitteln“ durch verhältnismäßig simple Umbauten herstellbar.
Die Wirkung auf den Menschen ist in beiden Fällen gleich: Erbrechen, Durchfall, Krämpfe und Atemlähmungen bis zum Tod sind die Symptome einer Vergiftung mit diesen Stoffen. Einige der gefährlichen Pestizide, darunter das Parathion (E 605), sind in den westlichen Industrieländern schon längst nicht mehr im Einsatz; Parathion selbst ist in Deutschland verboten.
Damit allein ist das Problem allerdings nicht gelöst: Ähnlich wie beim DDT unterscheiden die Behörden feinsinnig zwischen Anwendung und Produktion; letztere ist ebenso wie der Export erlaubt. Nach Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) kommt es jährlich weltweit zu drei Millionen Fällen von akuter Pestizidvergiftung; etwa 220.000 Menschen bezahlen im gleichen Zeitraum mit ihrem Leben für die „grüne Revolution“
99 Prozent der Opfer stammen aus den Entwicklungsländern. Dort ist der sachgerechte Umgang mit Pestiziden eher die Ausnahme als die Regel, das knappe Geld wird gebraucht für die Anschaffung der Chemikalien, denn ohne Pestizide wären die hochgezüchteten Kulturpflanzen einer Vielzahl von Schädlingen schutzlos ausgeliefert, Hungersnöte wären unvermeidlich. Auch Schutzkleidung wie Handschuhe oder Mundschutz ist meist nicht oder nicht in ausreichendem Umfang vorhanden.
Dabei ist das Problem nicht auf die Dritte Welt beschränkt: Auch in den Vereinigten Staaten rechnet man mit 150.000 bis 300.000 Krankheitsfällen im Jahr, die auf den unfachmännischen Umgang mit Pestiziden zurückgehen. Nachdem Linda Rosenstock und ihre Kollegen jetzt zweifelsfrei nachgewiesen haben, daß hier eine Zeitbombe tickt, ist die Forderung der Toxikologen eindeutig: „Die Ergebnisse zeigen, daß selbst einmalige Vergiftungen mit Organophosphatverbindungen verhindert werden müssen.“
(erschienen in „DIE WELT“ am 7. September 1991)