In Merdingen im baden-württembergischen Breisgau produzieren die Bürger nur halb so viel Müll wie in anderen Teilen Deutschlands. Dies ist das Verdienst des Förderkreises Aktion Lebensraum und von – Regenwürmern. Ulrich Schäfer, Initiator des Förderkreises und Leiter der Grund- und Hauptschule Merdingen, gehört zu den 12 deutschen Preisträgern, die im Rahmen des europäischen Umweltpreises gestern in Bonn ausgezeichnet wurden. Belohnt wurden Initiativen von Einzelpersonen und Gruppen, die sich um die „Bewahrung unseres kulturellen Erbes“ verdient gemacht haben.
Schäfer demonstrierte mit seinen Schülern auf einprägsame Weise, wie mit persönlichem Engagement und pfiffigen Ideen unserer Umwelt wirksam geholfen werden kann. In Holzkästen, welche mit Erde gefüllt waren, siedelten die Schüler Regenwürmer an, der in der Schule anfallende Müll wurde obendrauf gekippt. Von Zeit zu Zeit wurden die Tiere durch ein „Guckfenster“ bei ihrer Arbeit beobachtet. Dabei konnten die Schüler feststellen, dass bestimmte Stoffe wie Apfelbutzen und Brotreste bald verschwunden waren, während sich Filzstifte, Aluminiumfolien und andere Abfälle ansammelten.
„Carlo der Regenwurm“ zeigte den Kindern und Jugendlichen die Unterschiede zwischen biologisch abbaubaren Abfällen und den umweltbelastenden Kunststoff- und Metallabfällen. Gleichzeitig lösten Carlo und seine Artgenossen – die übrigens auch bei der Preisverleihung anwesend waren – eine Kettenreaktion aus, die niemand so recht vorhergesehen hatte. Die Eltern sahen sich mit einem äußerst geschärften Umweltbewusstsein der Kinder konfrontiert und waren gezwungen, die Einwände der Sprösslinge („Mama, das mag Carlo nicht“) beim Einkauf zu berücksichtigen.
Der Einzelhandel in dem Ort musste auf die veränderte Nachfrage reagieren; heute werden ein Drittel weniger Getränke in Wegwerfpackungen verkauft. Die Schaffung dieser „müllfreien Schule“ wurde mit 2000 Mark belohnt. Insgesamt vergab die Ford Foundation in diesem Jahr für Deutschland 41.000, europaweit rund 375.000 Mark.
Als deutsches Umweltschutzprojekt 1990 wählte die Jury das „Öko-Modell Allgäu“ unter 120 qualifizierten Bewerbungen aus. Kaspar Weber, Vorsitzender der Wald- und Weidengenossenschaft Hinterstein, nahm den Preis im Trachtenanzug entgegen. Der Kleinbauer hatte in mühevoller Arbeit und mit langem Atem mehr als zwei Drittel der Landwirte in seiner Heimat davon überzeugt, auf Kunstdünger und Pflanzengifte in ihren Betrieben zu verzichten. So finden sich auf den Hindelanger Wiesen am Jochpass auch noch Blumen, Kräuter und Gräser in einzigartiger Vielfalt. Die bergige Landschaft ist von Bächen durchzogen und bietet Lebensraum für allerlei Insekten, Vögel und Reptilien. In den Mooren finden sich Morgentau und Orchideen.
Erschwert wurde Webers Kampf durch den Umstand, dass der Verzicht auf Massenviehhaltung, schwere Landmaschinen und spezialisierte Bewirtschaftung zwar die Qualität der Erzeugnisse verbessert, nicht aber die damit verbundenen Erlöse. Kurzfristig musste daher im chemiefreien Hindelang ein finanzieller Ausgleich für die Bauern geschaffen werden, was aus einem Förderprogramm der EG möglich war.
Unter den vielen bemerkenswerten Initiativen erhielt der Polizeischutz für Fledermäuse den diesjährigen Sonderpreis. Obwohl Fledermäuse seit 54 Jahren in Deutschland gesetzlich geschützt sind, werden immer wieder Brutplätze der Kleinsäuger vernichtet. In Koblenz wurde die Naturschutzbehörde ausdrücklich auf die Gefährdung bestehender Nistplätze in den Rheinanlagen und vor dem Koblenzer Schloss hingewiesen, dennoch wollte man „baumchirurgische Maßnahmen“ ergreifen. Diese hätten nicht nur den Pilzbefall der Bäume beseitigt, sondern auch die letzte Zuflucht des Abendseglers. Obwohl die Aktion in letzter Sekunde durch die Koblenzer Polizei gestoppt werden konnte, ist es doch ein trauriges Zeichen, wenn hierzulande ein Umweltschutzpreis für den Kampf gegen eine Naturschutzbehörde verliehen werden muss.
(erschienen in der WELT am 13. November 1990. Letzte Aktualisierung am 8. Mai 2017)
Was ist daraus geworden? Nostalgisch könnte man werden, wenn man darauf schaut, wie vor bald 30 Jahren umweltfreundliches Handeln und Denken belohnt wurde, ohne dabei sogleich ideologische Grabenkämpfe auszulösen. Natürlich gibt es auch heute einen „Europäischen Umweltpreis“, der allerdings an Unternehmen für ihre Innovationen verliehen wird. Die Ford Foundation hat sich offenbar als Sponsor derartiger Events verabschiedet, aber immerhin: In Hindelang ist alles grün, und man verweist gerne auf das „seit über zwei Jahrzehnten konsequent verfolgte“ Ökomodell.